Meine Leidenschaft für die deutsche Ausgabe der Zeitschrift “Wired” ist gut dokumentiert. Obwohl ich glaube, dass das Team insgesamt auf einem guten Weg ist (über die letzte Ausgabe gab es schon gar nicht mehr genug zu meckern für einen eigenen Blogeintrag), ändert das nichts daran, dass mich die deutsche Herangehensweise immer wieder irritiert.
Ein neues Interview mit Chefredakteur Alexander von Streit auf innovations-journalismus.de zeigt auf’s Neue, dass irgendwas bei der Konzeption der deutschen “Wired” nicht stimmt. Mal ganz abgesehen davon, dass “Wired” sich soviel ich weiß noch nie als Magazin für “Popkultur” begriffen hat, wie von Streit behauptet (die US-Ausgabe hat gerade Geburtstag gefeiert und dabei ihre Motivation noch einmal gründlich reflektiert), spricht aus seinen Aussagen die gleiche Mischung aus Überheblichkeit (“Was andere Leute als Innovation empfinden, ist für uns manchmal gar nicht mehr so innovativ.”) und daraus resultierender Flachheit, die auch das deutsche Magazin immer wieder durchzieht.
Das Bedürfnis, geil zu sein
Mein persönlicher Eindruck ist nach wie vor, dass die US-“Wired” von einer genuinen Neugier und Begeisterung aufs Neue und aufs Neuartige im Alten getrieben wird (oder unter Chris Anderson zumindest wurde, Scott Dadich muss sich noch beweisen), und die Autoren nach all den Jahren auch an den richtigen Scharnieren sitzen. In Deutschland, dünkt mich jedoch, wird diese Begeisterung, entgegen allen Aussagen des Chefredakteurs, nach bester New-Economy-Manier nur simuliert bzw. sie verschwindet zur Hälfte hinter dem Bedürfnis, irgendwie geil zu sein. (Und vielleicht auch: den Anzeigenkunden von GQ zu gefallen)
Was mich allerdings am meisten ärgert, ist eine Behauptung, die Thomas Knüwer schon aufgestellt hat, und die Alexander von Streit hier wiederholt:
In der US-„Wired“ sind manche Geschichten noch einmal um die Hälfte länger, aber steigen dabei nicht unbedingt tiefer in die Materie ein. Das liegt eher an der sehr prosaischen Erzählform des amerikanischen Journalismus, die teils redundant immer wieder auf dieselben Aspekte zurückkommt.
Es ist ja eine Sache, so etwas zu behaupten. Und ja, die Texte in der US-“Wired” sind lang – in bester amerikanischer Tradition von Publikationen wie “New Yorker”, “Atlantic” oder “Economist”. Aber sind sie wirklich redundant? Und was soll das überhaupt heißen? Ich habe mir mal meine letzte “Wired”-Ausgabe vorgenommen, und von Streits These überprüft.
5000 Wörter
Die vielleicht beste Story des letzten Hefts (das insgesamt nicht eins der besten war), war “Drugstore Cowboy”, über einen Betrüger, der illegale Medikamente über das Internet verkaufte und später gegen Google zum Kronzeugen wurde. Der Artikel hat 5000 Wörter und über 31.000 Zeichen, also gute zehn volle A4-Seiten plus Bilder und Kästen. Der Artikel ist aufgebaut wie ein Spionage-Thriller. Er beginnt mit dem zentralen Wendepunkt der Geschichte, einem Gefangenentransport des Protagonisten David Whitaker, und ragt von dort aus sowohl in die Vergangenheit (illegale Medikamentengeschäfte) als auch in die Zukunft (Kooperation gegen Google).
Autor Jake Pearson hat den Artikel folgendermaßen strukturiert: 1. Eröffnungsszene: Transport. 2. Verhaftung, Kurzprofil der Hauptfigur Whitaker in Blitzlichtern, die man noch nicht ganz deuten kann. 3. Whitaker ersinnt einen Plan, wie er aus der Sache herauskommt. 4. Whitakers Leben, Flucht und Verhaftung. 5. Seitenwechsel: Die Sicht der Behörden auf Whitakers Kollaborations-Angebot. 6. Die Kollaboration, in drei detailreichen Szenen, in die Hintergrundinfos eingestreut werden. 7. Whitakers Entlassung und neues, zweifelhaft ehrliches Leben. 8. Die strafrechtlichen Konsequenzen für Google.
Abgesehen von der Erwähnung der Verhaftung, die später noch einmal aufgegriffen wird, enthält der Artikel keine direkten Redundanzen. Der Prozess der Kollaboration wird sehr detailliert geschildert und dabei werden auch verschiedene Dinge mehrfach erwähnt (die Gestaltung der Seite, um von Google akzeptiert zu werden, beispielsweise).
Gedankenexperiment
Schauen wir uns noch eine zweite Geschichte an. Die Story “Thought Experiment” über den bevorstehenden Versuch, ein menschliches Gehirn nachzubauen, ist von “Wired”-Veteran Jonathon Keats und etwas kürzer, 4000 Wörter (die im englischen übliche Zähleinheit) und 25.000 Zeichen. Sie beginnt nicht szenisch, sondern mit einem Rückblick auf einen historischen Meilenstein, die Auswirkungen des TED Talks von Henry Markram, um den sich der Rest des Textes dreht.
Hier ist wieder die aufgedröselte Struktur von Keats’ Text: 1. Der TED-Talk 2. Der Stand heute (an den Ambitionen hat sich nichts geändert) und die Finanzierung der EU. 3. Historischer Abriss der Hirnforschung inklusive aktuellem Stand. 4. Persönliches Treffen mit Markram, Abriss seiner Karriere. 5. Konkrete Beschreibung des Vorhabens inklusive der Zweifel der Gegenseite. 6. Ausblick auf die Möglichkeiten, falls das Experiment gelingt, vorsichtig optimistisches Fazit.
Auch hier werden Aspekte im Text noch einmal aufgegriffen, die im ersten Abschnitt erwähnt werden. Das halte ich aber für eine normale Taktik – die salzigsten Fakten werden erst angeteasert und später im Detail erklärt. Wirkliche Redundanzen, Sachverhalte, die mehrfach erklärt wurden ohne tiefer in die Materie einzudringen, konnte ich in diesem Text nicht finden.
Erzählt werden Geschichten
Das gleiche Beispiel könnte ich an weiteren Artikeln durchexerzieren. Mein Bauchgefühl als Leser von US-Journalismus seit vielen Jahren sagt mir, dass das Ergebnis wahrscheinlich überall etwa gleich aussehen würde. Es gibt vereinzelte Redundanzen bei detaillierten Beschreibungen und es gibt Rückgriffe zur Orientierung innerhalb des langen Artikels. Das ist aber kein definierendes Feature der amerikanischen Form.
Ich glaube viel mehr, dass die Kunst des amerikanischen Longform-Journalismus ist, dass eine gute Geschichte erzählt wird. Die Artikel schrecken nicht davor zurück, narrativ zu sein, voller Szenen und ausführlichen Rückblenden. Erzählt wird mit Spannungsmomenten und Auflösungen, wie ein gutes Drama. Das bedeutet nicht, dass darüber die journalistische Unabhängigkeit verloren geht. Es bedeutet nur, dass man ein bisschen mehr Zeit mitbringen muss, und dafür mit einem mitreißenden Lese-Erlebnis belohnt wird. Im besten Fall. Denn natürlich sind auch im amerikanischen Journalismus, und auch in der “Wired”, Gurken zu finden. (Auch die letzte Titelgeschichte zum Internet of Things ließ zu wünschen übrig.)
Ein nur leicht veraltetes Beispiel
Der deutsche Journalismus kann das, was ich im US-Journalismus so mag, übrigens auch. Wenn er sich traut. Ich lese leider nicht mehr allzuviele deutsche Zeistchriften, aber ich erinnere mich spontan an eine fünf Jahre alte “Spiegel”-Titelgeschichte mit dem Namen “Der Bankraub” über die Finanzkrise. Sie zieht sich auch über viele Seiten, ist aber eine Wahnsinnslektüre und hat zu recht einige Preise gewonnen. Weil sie gut erzählt ist, und weil sie sich traut, den Leser in die Geschichte hineinzuziehen.
Vielleicht ist es also Zeit, mit überlieferten Weisheiten wie “Longform-Journalismus nach US-Vorbild funktioniert in Deutschland nicht, außerdem ist dort ja sowieso alles total redundant” Schluss zu machen und einfach mal etwas Neues zu probieren. Schließlich geht es doch in “Wired” um Innovation. Man muss sie halt auch als solche empfinden.
One thought on “Wo genau ist die Redundanz im amerikanischen Journalismus, Alexander von Streit?”