Playlist 2024 (und noch mehr Gedanken zu Empfehlungsalgorithmen)

Ich denke immer noch über den Algorithmus nach. Also, über das, was ich im September zum Entdecken neuer Musik geschrieben habe. Deswegen habe ich bei meiner diesjährigen Jahresplaylist mal geschaut, wie die 31 Lieder darauf eigentlich ihren Weg zu mir gefunden haben.

Und siehe da: für ganze sieben Tracks ist alleine der Algorithmus verantwortlich. Also: Das sind Songs und Künstler, von denen ich noch nie gehört hatte, bevor sie mir von Apple Music vorgeschlagen wurden. Darunter ist auch mein Lieblingssong des Jahres, “Wall St.” von Boys Go To Jupiter, einer saucoolen queer-forward New Yorker Band, von der ich dringend hoffe, dass sie bald berühmt genug sind, um auf Europatour zu gehen – vielleicht, wenn ihr erstes Album fertig ist. Außerdem mein zweiter Lieblingstrack des Jahres, “Echoes” vom Berliner DJ Redshapewie bereits erwähnt taste ich mich dank PJ Vogt seit Mitte des Jahres langsam wieder an elektronische Musik heran und der Algo hat mir sehr dabei geholfen, auszusortieren, was mir gefällt und was nicht.

Seit Jahren unverändert

Von insgesamt zehn Songs habe ich allerdings auch durch klassischen Musikjournalismus erfahren. In meinem Fall sind das (seit Jahren unverändert) die Podcasts All Songs Considered von NPR, Song Exploder und Switched On Pop von Vox. Dort erfahre ich nicht nur von aktuellen Pop-Trends, die sich manchmal auch nur durch ihre reine Zeitgeist-Penetranz in mein Herz fressen (“Girl, so confusing”). Sondern ich entdecke auch einfach immer wieder neue Künstler:innen innerhalb (Bad Moves, Lainey Wilson) und außerhalb (Carlos Arres, Tyla) meines typischen musikalischen Horizonts.

Und genau aus diesem Vorgang speist sich die dritte Herkunfts-Kategorie dieser Liste: Zwölf Songs stammen schlicht von Künstler:innen, die ich schon kannte, und die 2024 neues Material veröffentlicht haben. Darunter solche, denen ich schon lange folge, wie Everything Everything und Gavin Castleton (der sich dieses Jahr sehr überraschend und erfreulich nach langer Zeit zurückmeldet hat). Aber auch solche, die ich vor ein paar Jahren über einen der ersten beiden Wege entdeckt habe, zum Beispiel Another Sky (fantastisches neues Album Beach Day) oder Hippo Campus (die mir erstaunlich gut dieses Frühe-2000er Indiepop/Garden State Soundtrack Gefühl zurückgeben).

Ein goldener Schnitt

Wenn man also ein bisschen Plusminus zulässt – natürlich kenne ich Billy Joel, aber hätte ich ohne meine Podcasts von seinem neuen Song erfahren? John Mark Nelsons viertes Album vor neun Jahren fand ich gut, aber ohne den Algo hätte ich nicht mitbekommen, dass er eine 70er-Softrock EP veröffentlich hat  – sind wir also für eine solche Liste bei jeweils einem groben Drittel aus Bekanntem, Gelerntem und algorithmisch Empfohlenen. Es scheint quasi eine Art goldenen Schnitt beim Umgang mit Empfehlungsalgorithmen zu geben (oder es ist Zufall).

Einen weiteren Song muss ich vor diesem Hintergrund noch hervorheben, denn dieses Jahr gesellt sich in dieser Liste erstmals eine neue Herkunftsform hinzu: Auf Tebeys Country-Coverversion von The Weeknds “Blinding Lights” bin ich durch Instagram Reels gestoßen (ich bin nach wie vor zu faul, meinen Tiktok-Algorithmus zu trainieren und Instagram kennt mich halt schon seit 12 Jahren). Das ist für mich neu, auch wenn ich natürlich weiß, dass es für viele Menschen inzwischen sogar die dominante Form der Musikentdeckung geworden ist. Für mich ist das nächste Äquivalent davon, dass man einen Song aufschnappt, der zufällig irgendwo im Radio läuft.

Beinahe transzendent

Ich habe es dieses Jahr auf drei Konzerte geschafft, auch wenn ich öfter wollte. Jacob Colliers fantastisches viertes “Djesse”-Album hatte mich das Jahr über begleitet, das Konzert hat mich dann aber ein bisschen weniger begeistert als (vielleicht überhypt) erwartet. Das intime Konzert von Emily King solo allerdings war eine beinahe transzendente Erfahrung und ich habe einen wunderschönen Song über Kinder und Väter mitgenommen, der sich ebenfalls in dieser Liste findet. 

Mit dem Eurovision Song Contest habe ich mich dieses Jahr (anders als 2023) nur am Rande beschäftigt, aber Kaleens “We will Rave” hat bei mir alle meine Eurodance-Knöpfe gedrückt. Und “Girl, so confusing” hat mich als vermutlich einziger Song dieses Jahr zuerst mit seiner Story gewonnen, bevor ich dann irgendwann auch musikalisch nachgegeben habe. Shoutout dafür an meine ehemalige Kulturindustrie-Kollegin Mihaela.

Die Liste mit ein paar ausgewählten Lieblingstextzeilen

  1. Super Sport – Room for Cream
  2. Boys Go To Jupiter – Wall St.

“Come on over. We’re at the part of this where you become my lover.”

  1. Redshape – Echoes
  2. Everything Everything – The Mad Stone
  3. Quiet Houses – What My Heart Is For
  4. Pouty – Bridge Burner
  5. Paramore – Burning Down the House
  6. Kacey Musgraves – Jade Green
  7. Billy Joel – Turn the Lights Back On
  8. Another Sky – Burn the Way
  9. Kaleen – We Will Rave
  10. Tyla – Safer
  11. Charli xcx & Lorde – Girl, so confusing featuring Lorde

“Let’s work it out on the remix.”

  1. Conan Gray – Lonely Dancers
  2. GIFT – Wish Me Away
  3. Emily King – Anyway I love you (Acoustic)
  4. Don’t Thank Me, Spank Me! – Dance
  5. Tebey – Blinding Lights (Country Version)
  6. Remi Wolf – Soup
  7. Hippo Campus – Tooth Fairy
  8. John Mark Nelson – Wishes
  9. Gavin Castleton – Layoffs

    “I take full responsibility. We may not agree on what that means.”
  10. fantasy of a broken heart – Ur Heart Stops
  11. Wunderhorse – Midas
  12. Carlos Arres – Cigarra
  13. Lainey Wilson – Hang Tight Honey
  14. Bad Moves – A Lapse In the Emptiness
  15. Beyoncé – Texas Hold ‘Em
  16. SOPHIE & Bibi Boureilly – Exhilirate
  17. Jacob Collier – Little Blue (feat. Brandi Carlile)

“Don’t be afraid of the dark. In your heart you’re gonna find a way to carry the weight of the world on your shoulders.”

  1. Beatenberg – Bath Towels

“I don’t know, she said, how you bear to live without flowers in your living room. It’s not so bad, I said. I see them, when I walk outside. Anyway, I get hay fever.”

Playlist auf SpotifyPlaylist auf Apple Music

Das Podcast-Jahr 2024 und der überraschende Wert von Kritik

Ich habe einen Traum. Ich wünsche mir einen Podcast, in dem andere Podcaster:innen lang und ausführlich zu ihren Podcasts interviewt werden. Vor meinem inneren Auge sieht das Ganze aus wie ein Mix aus dem Longform Podcast, der lange Interviews mit Journalist:innen (gelegentlich auch Podcaster:innen) führte und leider dieses Jahr eingestellt wurde, und Song Exploder. Das heißt: Man würde sowohl im Großen sprechen: Wie kam die Story zu Stande? Warum wurden welche dramaturgischen Entscheidungen getroffen? Aber man könnte sich auch mal eine Schlüsselszene vornehmen und diese auseinandernehmen, wie es Rob Rosenthal in Sound School gelegentlich macht. Da dieses Format ohnehin nur ein sehr kleines Nischenpublikum interessieren würde, sollte es nerdy sein und an unerwarteten Stellen in die Tiefe bohren. Wichtig fände ich aber auch, dass es unabhängig und kritisch ist.

Welcher Wert genau darin, in der unabhängigen und kritischen Betrachtung von Podcasts steckt, ist mir dieses Jahr bewusst geworden. Ich habe in LÄUFT (das übrigens dieser Tage seine 50. Episode feiert und zum Ende des Jahres wieder ein ambitioniertes Finale in den den Startlöchern hat, das nur am Rande) und schriftlich für “epd medien” eine ganze Reihe Podcasts kritisch besprochen. Außerdem habe ich Anfang des Jahres mehr aus Zufall eine Kurzkritik-Reihe namens “Höreindrücke” ins Leben gerufen, für die ich Podcasts austeste und nach zwei bis drei Folgen eine Einschätzung abgebe.

Feedback zum Feedback

Zu beidem war das Feedback von Macher:innen fast ausnahmslos positiv, selbst wenn ich nicht immer nur Gutes über die besprochenen Podcasts zu sagen hatte. Menschen freuten sich sowohl darüber, einen Eindruck über die allgemeine Formatlandschaft gespiegelt zu bekommen, als auch, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte, ihre Arbeit in Ruhe anzugucken, zu analysieren und ihnen Feedback dazu zu geben.

Anscheinend ist das selten genug. Die Podcast-Kritik-Kolumne auf “Übermedien” wurde vor einigen Jahren eingestellt. “SZ” und “taz” veröffentlichen regelmäßig Podcastkritiken, die aber irgendwie ziemlich unter dem Radar laufen. Es gibt immer noch den “Über Podcast” (in dem ich dieses Jahr erstmals zu Gast sein durfte, was mich extrem gefreut hat). Und ansonsten gibt es aus der Branche heraus – also von Leuten, die auch selbst Podcasts machen – vor allem Empfehlungen, zum Beispiel in Newslettern wie “Oh My Pod”. Das ist auch schön. Wer Orientierung im Podcast-Dschungel sucht, für den sind Empfehlungen genau das Richtige. Aber es scheint auch wirklich wertvoll zu sein, wenn einem mal jemand sagt, was für ihn oder sie nicht funktioniert hat. Ich kann nur sagen, dass mich das Feedback zum Feedback jedes Mal sehr gefreut hat.

Die fetten Jahre sind vorbei

Diese Art von Austausch stand für mich auch im Zentrum der einzigen Podcastkonferenz, auf die ich es dieses Jahr geschafft habe. Auf der “So Many Voices” in München ging es viel darum, Wissen miteinander zu teilen – auch Wissen über Arbeitsbedingungen in der Branche – und Ideen und Arbeitsweisen gemeinsam zu diskutieren. Es ging weniger darum, Erfolgsgeschichten (mit dem entsprechenden Survivor Bias) zu erzählen, was von außen oft mein Eindruck von anderen, größeren Veranstaltungen war. (Zum Beispiel in meinem Interview mit Christian Conradi zu “All Ears” im April.)

Ich weiß nicht, wieviel Unterschied all diese Gedanken am Ende unterm Strich machen in einem Podcastjahr, das, soweit ich das sehe, unter dem Motto “Die fetten Jahre sind vorbei” stand. Ich bin ohnehin kein großer “Branchenbeobachter” in dem Sinne. Hier sind die Analysen von Sandro Schroeder in “Hören/Sagen” für mich immer noch der Goldstandard. Selbst wenn ich seine Einschätzungen nicht immer teile, basieren sie auf einem kritischen Blick, der sowohl tief als auch weit ist. (Mein Leben besteht ironischerweise für diese Art von Beschäftigung immer noch zu wenig aus Podcasts und zu viel aus anderen Dingen, wie einem 30-Stunden-Brotjob, was gerne jemand ändern darf.) 

Ich kann also immer nur das einschätzen und spiegeln, was ich am Ende höre. Und das war dieses Jahr trotz allem immer noch eine Flut an neuen Podcasts, auch vieler Doku- und Storytellingpodcasts, sowohl von öffentlich-rechtlichen als auch von privaten Anbietern.

Neue Ideen

Ich habe dabei jedes Mal die Ohren aufgestellt, wenn ich den Eindruck hatte, dass mal wieder jemand etwas Neues probiert. Etwa im BR-Podcast In 5 Tagen Mord, der seine Story anhand einer Versuchsanordnung, oder wie man heute sagt: einer Challenge, erzählt, dabei unterhaltsam und lehrreich (meine Lieblings-Adjektivkombo) ist und am Ende als Bonus auch noch ein neues Hörspiel auswirft. Ich glaube, ich kann heute mit gutem Gewissen sagen, dass das Ergebnis mein Lieblingspodcast des Jahres ist.

Aber ich war auch sehr positiv überrascht vom Mordlust-Ableger Justitias Wille, obwohl ich mit dem Mutterformat absolut nichts anfangen kann. Ich fand die Idee einfach sehr clever, einen laufenden Prozess mit einem Podcast zu begleiten, der sowohl aktuelle Entwicklungen berichtet, als auch – vorproduziert – die Hintergrundgeschichte dazu. Logistisch hoch komplex, aber erzählerisch erstaunlich befriedigend.

Dieses positive Gefühl für Neues entsteht bei mir sogar bei einem Format wie Der Zerfall Babylons vom RBB aus dem Herbst, mit dem ich zwar aus anderen Gründen Probleme habe, dessen Grundidee, die Grenzen zwischen offenem Gesprächs- und abgeschlossenem Dokupodcast zu verwischen, ich aber für zumindest bemerkenswert halte.

Doppelmoderationen und Color Commentators

Gleichzeitig lässt sich natürlich auch wie jedes Jahr die Verhärtung einiger Trends beobachten, die dadurch nicht besser werden, dass man sie wiederholt. Mein größter Pet Peeve gegen Mitte des Jahres war der Einsatz von unangenehmen Doppelmoderationen. Dieses Format, in dem einer der beiden Hosts eine Geschichte mitbringt, und die andere Person darauf reagiert (ich nenne es gerne das “umgekehrte Interview”), ist ja in der Podcastlandschaft eigentlich ein alter Hut. 

Und es gibt jedes Jahr wieder Podcasts, die das auf Augenhöhe und mit guter Chemie hinbekommen (ich mochte zum Beispiel HDGDL von Kugel und Niere mit Christian Alt und Yasmin Polat). Aber oft genug wirkt es auch so, als wären entweder beide Personen nur auf Basis von Bekanntheit und vager Themenassoziation gecastet worden, oder – noch schlimmer – als hätte man nach altem Muster einem eher uninteressanten Mann einen jungen weiblichen Sidekick als Color Commentator zur Seite gestellt, damit auch alle Zielgruppen abgeholt sind. Bitte nicht mehr machen!

Persönliche Handschriften

Und damit kommen wir zu etwas, was ich (gefühlt) jedes Jahr wieder sage, und was deswegen nicht weniger wahr wird. Gerade Doku-Podcasts sind meiner Ansicht nach am eindrucksvollsten, wenn sie eine persönliche Handschrift tragen. Wenn die Person, die mich durch die Geschichte führt, etwas mitbringt, dass nur sie zu dieser Geschichte beitragen kann.

Damit meine ich nicht, dass sich alle Journalist:innen immer zwanghaft mit ihren eigenen Reaktionen auf die Erlebnisse ihrer Protagonist:innen in ihre Story einschreiben müssen – vor allem nicht wenn sie sich auf ein “Ich finde das ganz schön heftig” beschränken. Aber ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen beim Ringen mit dem Stoff, ihre Haltung finden sich irgendwo im Podcast wieder. Sie geben mir einen Grund, ihnen auf ihrer Reise zu folgen. Das muss nicht immer viel sein, aber es ist am Ende spürbar.

Für mich war das dieses Jahr in Podcasts wie Deutschland – Ein halbes Leben von Christian Bollert (detektor.fm/MDR) der Fall, im Guerilla-Projekt Lost im Bundestag (ARD) von Bianca Schwarz aber auch in KINO.TO – Die verbotene Streamingrevolution (Studio Soma/probono/ARD Kultur). Im letzten Fall ist die Host Maxie Römhild noch nicht einmal die einzige Autorin, aber sie ist trotzdem eine erfolgreiche Identifikationsfigur. Kurz vorm Schreiben dieses Artikels hat sich auch noch Becoming The Beatles (NDR) von Ocke Bandixen dazugesellt, der sich laut Beschreibung wie ein überflüssiger regionaler Dreh auf eine x-fach erzählte Geschichte liest, aber sein persönliches Herz so sehr am Revers trägt, das ich ihm erstaunlich schnell verfallen bin.

Mehr Kunst wagen

Um noch einen draufzusetzen: Wo es persönlich wird, darf es meiner Ansicht nach auch gerne ab und zu noch ein bisschen künstlerischer werden. Hier kann sich der narrative Podcast meiner Ansicht nach durchaus noch einiges von seinem Vorfahren, dem Radiofeature, abschauen, dem er ja mit gerechtfertigter jugendlicher Rebellion noch immer gerne den Mittelfinger zeigt, um sich lieber an glitzernden amerikanischen Vorbildern zu orientieren. Ein Projekt wie Goodbye Stranger (DLF) mag keine glattgeschliffene Geschichte mit perfekter Dramaturgie haben, aber es bietet eine emotionale und Nähe erzeugende Hörerfahrung, wie sie typische Storytelling-Podcasts selten zu bieten haben.

Natürlich fehlen in den vielen Zeichen, die ich bis hierher geschrieben habe, dutzende aufwändige Podcasts, die ich nicht gehört habe, obwohl ich mich noch nie so sehr bemüht habe, breit statt tief zu hören, wie dieses Jahr (was ganz schön stressig ist, übrigens). Schreib mir doch deinen herausragenden Lieblingspodcast, den ich vergessen habe (aber nicht deinen eigenen) gerne in die Kommentare. Vielleicht habe ich ja noch Zeit, reinzuhören.

Natürlich, eine Liste

Und weil Menschen Listen mögen, und sich aus einer Liste auch besser später ein Sharepic auf Instagram bauen lässt, liste ich hier noch einmal meine persönlichen Lieblings-Doku-Podcasts aus Deutschland für 2024 auf. Mir fällt auf: In einer Aufzählung wie dieser entwickelt die inzwischen typische Kombi aus Titel und Untertitel eine gewisse dadaistische Komik.

  1. In 5 Tagen Mord – Die Krimi-Challenge mit KI
  2. Justitias Wille – Leben in der Waagschale
  3. Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall
  4. Rasenball: Red Bull und der moderne Fußball
  5. KINO.TO – die verbotene Streamingrevolution
  6. Becoming the Beatles – Die Hamburger Jahre
  7. Goodbye Stranger – Wie wir uns von unseren Vätern verabschieden

Und außerdem

Mein eigentlicher Lieblingspodcast des Jahres, den ich nicht müde werde, zu empfehlen, ist übrigens Politik mit Anne Will (Will Media), den ich ja auch schon in den “Über Podcast” mitgebracht habe. Hier freue ich mich jede Woche auf die neue Folge. Es ist einfach eine total gute Idee, ein aktuelles Politiker:innen-Interview zu führen, aber dann nicht dieses Interview in den Mittelpunkt des Podcasts zu stellen, sondern eine sachkundige Erörterung des Themas, in der das Interview nur als Indiz fungiert.

Und aus den USA? Ich habe dieses Jahr, etwas late to the Party, If Books Could Kill entdeckt, ein medienkritisches Gesprächsformat, das eine perfekte Kombi aus Wissen und albernem bis bissigem Humor vorzuweisen hat. Dieser Podcast gefällt mir so gut, dass ich Patron geworden bin und freiwillig mehr höre, obwohl ich einen vollen Podcast-Stundenplan habe. Außerdem kann ich jedem eine weitere Indieproduktion, Shell Game von Evan Ratliff, ans Herz legen, in der Ratliff auf sehr persönliche und nachdenkliche Weise die Möglichkeiten von KI-Stimmenklonen auslotet

Wenn ich abschließend eine einzelne Podcast-Folge nennen müsste, die bei mir dieses Jahr am meisten nachgewirkt hat, dann war es sicher “Why didn’t Chris and Dan get into Berghain?`” aus PJ Vogts Search Engine. Diese Episode (streng genommen sind es zwei) hat mir nicht nur eine Frage beantwortet, über die ich selbst schon oft gerätselt habe, sondern mich auch neu für elektronische Musik begeistert. Das muss man erstmal schaffen.

Dieser Artikel führt erfahrungsgemäß mehr Leute auf mein Blog als gewöhnlich. Hast du meine Ausführungen gerne gelesen? Dann überleg doch mal, ob du LÄUFT, den Podcast, den ich für epd medien und Grimme Institut produziere und hoste, nicht abonnieren willst. Dort gibt es alle zwei Wochen Interviews und Kritiken von mir zu Podcasts und verwandten Themen. Ich würde mich freuen.

Höreindrücke: Nein to Five, Lösch alles, Bro!, German Dreams, Becoming The Beatles

Willkommen zu den vermutlich letzten Höreindrücken für dieses Jahr! Es geht um New Work, Deutschland und die Beatles. Und wer mir übrigens schon immer mal ins Gesicht sagen wollte, was von meinen Kurzkritiken zu halten ist: ich bin am 22. und 23.11. auf dem “So Many Voices” Podcastfestival in München. Sehen wir uns?

Nein to Five (Fora/brandeins)

Wer sich Plakatwerbung für seinen Podcast an jeder Litfaßsäule in Berlin leistet, dachte ich mir, muss schon sehr davon überzeugt sein, dass er gut ist. Ich fand aber eher, dass es sich um ein mittelmäßiges Interviewformat mit mittelmäßigem Sound handelt, in dem man nie den Namen des Hosts erfährt, auch wenn die Themen gar nicht so uninteressant sind. Mich würde wirklich interessieren, wie der ROI für die Plakatkampagne war.

Lösch alles, Bro! (ZDF Frontal/hauseins)

Hier haben mir viele Einzelteile gefallen: Musik und Sound Design (bin aber gegenüber Joscha Grunewald auch immer biased), die ganze Idee, Textnachrichten dramatisch von guten Schauspielern einsprechen zu lassen und auch die Inszenierung als ein bisschen cooles Gangsterdrama (statt als Investigativ-Pose) mochte ich eigentlich. Nur dramaturgisch fiel alles für mich ein bisschen auseinander. Ich musste mich hart motivieren, Folge 2 überhaupt zu hören, in der es dann aber plötzlich viel interessanter wurde, und der wahre Kern der Story rund um Crypto-Messenger, Datenschutz und europäische Polizeiarbeit zum Vorschein kam, in dem die Bros eigentlich nur Nebencharaktere sind.

German Dreams (DLF)

Migrantische Erfahrung in Deutschland erzählt anhand von einzelnen Geschichten, dramaturgisch durchdacht, sympathisch und nahbar, mit Hosts, die angenehm persönlich sprechen. Manchmal ein bisschen viel Händchenhalten durch Fakten-Wiederholung und am Ende oft ein merkwürdiger Werbeblock für’s deutsche Sozialsystem, aber insgesamt ein schönes Projekt, dem ich viele Hörende wünsche.

Becoming the Beatles – Die Hamburger Jahre (NDR Kultur)

Ich hatte keine hohen Erwartungen für etwas, das so aussieht, als wollte noch mal jemand zwanghaft den “regionalen Dreh” für eine tausendfach erzählte Geschichte ansetzen. Aber heidewitzka! hat mich Ocke Bandixen überzeugt. Aus seiner Narration spricht so viel persönliche Leidenschaft, dass ich nach wenigen Minuten hooked war. Es ist so angenehm, wie transparent er seine Motivation, seine Materiallage, seine Arbeit macht, während er das Hamburg von 1960 lebendig werden lässt. Belohnt wird er dann auch gleich in Folge 1 mit einer Knaller-Zufallsszene. Große Empfehlung für alle, die ein Herz für die Beatles haben, auch sie glauben, alles schon zu wissen (wie ich).

Höreindrücke: Lost im Bundestag, Hyperfixed, Question Everything, Zufälle gibt’s

Diesmal mit amerikanischen Independents, Marshall McLuhan und konfusen Zufällen.

Lost im Bundestag (ARD)

Ein Podcast, der in seiner Gesamtheit nur wenige Minuten mehr hat, als ein einstündiges Radiofeature, beweist einmal mehr, dass Marshall McLuhan mit “The Medium is the Message” recht hatte. Und die Rezeption passt sich an. Ich mochte an Bianca Schwarz’ Projekt das Gefühl der Handgemachtheit und Unmittelbarkeit, gerade innerhalb einer so großen Institution wie der ARD. Ausführlicher habe ich das in der letzten Folge von “LÄUFT” beschrieben.

Hyperfixed (Radiotopia)

Nun meldet sich also auch Alex Goldman aus den Trümmern von “Reply All” zurück. Und sein neues Format, von dem zunächst zwei Pilotepisoden veröffentlicht wurden, hat durchaus Ähnlichkeiten mit “Search Engine” von seinem ehemaligen Co-Host PJ Vogt: Vogt beantwortet Fragen, Goldman hilft beim Lösen von Aufgaben. Das ist … kompetent gemacht, aber bisher nichts, was man nicht schon mal gehört hätte. Bei “Search Engine” haben sich in jüngster Zeit Vogts essayistische Gedanken als die eigentliche Stärke erwiesen. Es wird sich zeigen, ob Goldmans Hostpersona ebenfalls ein so starkes Profil entwickeln kann.

Question Everything (Placement Theory/KCRW)

Und noch ein berühmter US-Podcaster mit einem neuen, persönlichen Projekt. Brian Reed (“S-Town”) ringt in “Question Everything” damit, was Journalismus heute leisten soll und kann. In der ersten der drei bisher veröffentlichten Episoden stellt Reed sich seiner eigenen Kritikerin, in der jüngsten (die ich stark fand) spricht er mit einem Ex-Kollegen, der nun für einen Thinktank arbeitet, weil er dort glaubt, mehr erreichen zu können. Das alles ist suchend und forschend, ohne zurechtgelegte These, funktioniert aber trotzdem. Vielleicht kann ich Brian Reed auch demnächst selbst fragen, was er bisher gelernt hat. Stay Tuned.

Zufälle gibt’s (Deutschlandfunk)

Ich habe diesen Podcast nicht verstanden. Auch nicht, nachdem Host Julius Stucke im “Über Podcast” zu Gast war. Es geht um Zufall, aber auch nicht so richtig. Die Geschichten, die erzählt werden, sollen mit Absicht nicht außergewöhnlich sein. Und der Fokus, mit dem sie erzählt werden, bleibt auch sehr unscharf. In der zweiten Folge taucht dann mal eine Expertin auf, die das Gehörte etwas einordnet, aber so richtig schlau war ich danach immer noch nicht. Ich will nicht ausschließen, dass das an mir liegt.

Bonus-Tipp: Die neue Staffel von “Slow Burn” (Slate) erzählt die Entstehungsgeschichte von Fox News, was sich für alle Medienschaffenden alleine aus politischem Interesse lohnen dürfte.

Die “Höreindrücke” sind eine alle zwei bis drei Wochen erscheinende Kolumne über neue Podcasts, von denen ich in der Regel zwei bis drei Folgen gehört habe.

Höreindrücke: Bücher in Asche, Enden, Changemakers, Broomgate

Bücher in Asche (MDR/Good Point)

Ich hatte “Bücher in Asche” auf LinkedIn gesehen und entschieden, reinzuhören. Nachdem ich das bereits getan hatte, hat mich eine der Beteiligten auch per DM um Feedback gebeten. Das hat mir fast ein bisschen leid getan, denn die Anfrage war sehr nett, aber ich war leider kein Fan des Podcasts, obwohl oder gerade weil ich das Thema (Brand in der Weimarer Anna-Amalia-Bibliothek vor 20 Jahren) sehr interessant fand. Entscheidender Faktor war für mich der Ton, der mir etwas zu feuilletonistisch-betulich und damit streckenweise einfach zu langweilig war. Die Scherze sind nicht gelandet, die Spannung hat sich nicht aufgebaut und ich hatte bis zum Ende von Folge 2 noch immer kein Gefühl für die Geografie des Ortes. Ich habe mir immer wieder die Frage gestellt: Ist die Geschichte dieses Brandes wirklich in erster Linie ein Kulturthema?

Enden: Pleasant Island (Futurium/Undone)

Manchmal fühle ich mich bei Podcasts an die Peak TV-Zeit vor zehn Jahren erinnert. “Wurde diese Geschichte nicht schon öfter erzählt?” – “Ja, aber noch nicht als Streamingserie qualitativ hochwertiger Storytelling-Podcast.” Nichts an “Pleasant Island” ist schlecht, vieles ist sehr gut. Ich finde besonders das Scoring mal wieder hervorragend. Aber es ist (zumindest nach zwei Folgen) auch wenig daran neu oder überraschend. Mir wurde nicht klar (so ging es mir schon bei “Amanda Knox”), warum diese Geschichte jetzt noch einmal erzählt werden muss. Und ich habe nicht ganz verstanden, warum das Futurium einen sicher nicht unerheblichen Betrag dafür ausgibt.

Changemakers (WDR/Sportschau)

Podcast als Sachbuch-Hörspiel. Dynamische Texte über Sportler:innen, die über ihren Sport hinaus gewirkt haben. Toll interpretiert von Henriette Schreurs (mir bekannt aus “Score Snacks”) mit einem beeindruckenden Bett aus Soundeffekten und Musik. O-Töne tauchen auf, aber nur selten, wenn sie der Geschichte nicht im Weg stehen. Lieber werden Schauspieler:innen benutzt. Trotzdem wird mit journalistischer Sorgfalt darauf geachtet, dass alles nicht zu sehr biopic-isiert wird. Das Format ist nicht völlig neu, aber es ist noch viel zu selten und hier wirklich auf höchstem Niveau umgesetzt.

Broomgate: A Curling Scandal (CBC/USG Audio)

Ich finde ja, dass es kein besseres Medium gibt, um solche Nerd-Nischen-Geschichten zu erzählen, die gleichzeitig ein bisschen albern, aber journalistisch dennoch hochinteressant sind. Wer 2,5 Stunden Zeit hat, sollte sich dieses Reporterstück über den größten Skandal der Curling-Welt vor rund 10 Jahren mal anhören. Auch wenn der Host seine eigene Rolle in der Geschichte vielleicht etwas zu sehr hochjazzt.

Mein Workflow zum Hören und Neuentdecken von Musik

Es scheint gerade wieder en vogue zu sein, auf Musikstreaming zu schimpfen. Zumindest, wenn man Tiffany Ng in der “MIT Technology Review” folgt und dem Slate Culture Gabfest, das auf dem Artikel aufsetzt. Nicht aus den guten Gründen, natürlich, dass Künstler:innen von Streamingdiensten nach wie vor nicht ausreichend entlohnt werden und es immer noch nicht wenigstens ein User Centric Payout-Modell gibt.

Vielmehr geht es mal wieder um die Lieblings-Hassliebe kultureller Snobs: den Algorithmus. Einerseits bietet er einem ja die Möglichkeit, automatisch immer mehr Sachen zu entdecken, die man mag. Aber wo bleibt dann die Neugier, die Entdeckung, die Serendipity? Ich komme aus dem Gähnen schon gar nicht mehr wieder raus. Und Ngs Schlussfolgerung, für die sie einen 20.000 Zeichen langen Artikel braucht, ist dann auch entsprechend banal: Man muss halt manchmal auch Musik hören, die einem nicht vom Algorithmus vorgeschlagen wurde. No Shit, Sherlock.

Phasen

Als Elder Millennial und lebenslanger Musiknerd habe ich all die Phasen mitgemacht, die Ng in ihrem Artikel beschreibt: Ich habe lange vor allem CDs gehört, dann habe ich meine Musiksammlung vor einem Auslandsaufenthalt in mp3s umgewandelt, mp3-Alben mit Freunden getauscht und illegal heruntergeladen. 2015 bin ich auf Streaming umgestiegen, und ich habe nicht zurückgeblickt. 

Ich würde behaupten: Mein Musikgeschmack war noch nie so vielfältig, und ich habe noch nie so viele neue Künstler entdeckt wie heute. Immer wieder stehe ich auf Konzerten und fühle mich wie ein alter Sack, weil 80 Prozent der mich umgebenden Personen knapp 20 Jahre jünger sind. Aber ja, natürlich darf man sich dafür nicht zu hundert Prozent einem statistischen Modell überlassen, genau wie man früher™ nicht nur “die größten Hits der 80er, 90er und das beste von heute” hören konnte, wenn man seinen musikalischen Horizont erweitern wollte. 

Man muss den Algorithmus für sich arbeiten lassen, nicht umgekehrt.

Workflow

So mache ich das (übrigens, ich nutze Apple Music, nicht Spotify, aber ich bezweifle, dass es einen Unterschied macht):

Ich habe eine Playlist namens “Heavy Rotation”. Diese Playlist ist so eingestellt, dass sie Songs, die darin sind, automatisch aufs Handy runterlädt. Auf diese Songs habe ich also immer Zugriff, selbst in Funklöchern. Alle neue Musik, die ich auch nur vage interessant finde, wandert als erstes in diese Playlist. Neue Songs können aus verschiedenen Quellen kommen. Am häufigsten aus den Musikpodcasts, die ich höre (Switched On Pop, All Songs Considered, Song Exploder, Hit Parade, Soul Music), aber auch Empfehlungen von Freund:innen, Syncs in Serien oder Filmen, und manchmal auch immer noch Radiofetzen in der Öffentlichkeit.

Nicht wenige neue Songs kommen auch aus meiner “Neue Musik für dich”-Playlist, die jeden Freitag neu erscheint, und die ich meistens im Laufe der Woche durchhöre. In einer guten Woche sind vielleicht vier oder fünf der 25 automatisch ausgewählten Titel ein näheres Reinhören wert. In schlechteren Wochen vielleicht nur ein oder zwei. Vielleicht ist es das, was Leute meinen, wenn sie sagen, dass der Algorithmus nichts taugt. Ja, über 80 Prozent der Vorschläge landen nicht bei mir, aber für die 20 Prozent, die es tun, lohnt sich das Hören. Manche von ihnen sind fantastisch.

Und bei den anderen 80 Prozent denke ich mir zumindest oft: “Ok, ich kann verstehen, warum man denken könnte, es würde mir gefallen, aber wer kann schon vorher sagen, ob mir hier wirklich die Stimme des Sängers gefällt oder die Harmoniefolge gerade meine Laune diese Woche trifft.” In einem fast unendlichen Meer an neuer Musik kann man es sich erlauben, hart in seinem Urteil zu sein. Das genaue Gegenteil von früher, wo man sich irgendwann jeden Song auf der CD schöngehört hatte.

Ins Regal stellen

Die “Heavy Rotation” Playlist (und meist zusätzlich heruntergeladene neue Alben) höre ich zwischendurch immer wieder im Shuffle, wann immer mir danach ist, und sortiere während des Hörens weiter. War der Song vielleicht doch nicht so gut? Dann wird er wieder komplett aus der Mediathek gelöscht. Möchte ich ihn aktuell weiterhören, bleibt alles wie es ist. Möchte ich ihn behalten, aber aus der Rotation nehmen, sortiere ich ihn auf eine oder mehrere meiner thematischen Playlists und lösche ihn aus der “Heavy Rotation”. Ich stelle ihn sozusagen ins Regal.

Diese thematischen Playlists sind eine wilde Mischung aus Genres, Stimmungen und anderen Eigenschaften von Musik. Sie heißen “Hoedown” oder “Midtempo Afternoon”, “Only Forward” (Uptempo-Songs, die “nach vorne gehen”) oder “Spaß mit Guitars”, “Mostly Grooving Drums” oder “Instrumentale Instruktionen”, “Melancholie” oder “Summerland”, “Crash and Burn” oder – meine beliebteste Liste, die oft bei uns zu Hause läuft: “That Sunday Feeling”, eine eklektische Mischung aus seichten Popsongs unserer Kindheit, Kaffeehaus-Folk und Pianoballaden. Wenn ich mal keine Lust auf die “Heavy Rotation” habe, kann ich immer eine dieser Playlists auswählen. Dazu habe ich Künstler-Playlists meiner Lieblingsbands, “Best of”-Playlists für jedes Jahr und “Snapshots”, die ich ad hoc zusammenbaue, indem ich mich durch meine Gesamt-Mediathek skippe und mich spontan inspirieren lasse. Das geht, weil Apple Music noch meine gesamte iTunes-Mediathek von früher gespeichert hat, die wiederum auf meiner gerippten CD-Sammlung von davor basiert.

Es funktioniert

Dieser Workflow stellt sicher, dass ich, wann immer ich will, neue Musik entdecken kann, aber immer auch viel Vertrautes höre. Dass er funktioniert, merke ich immer wieder. Als ich etwa vor kurzem, angeregt durch das Saisonfinale von Search Engine, doch mal Lust hatte, elektronische Musik (jenseits des Eurodance) näher zu erforschen, habe ich mit der von PJ Vogt angelegten Playlist begonnen (importiert von Spotify via SongShift) aber nur etwa fünf Tracks gehört. Den Rest hat der Algorithmus gemacht und mir konsequent ab der darauffolgenden Woche Techno-Tracks empfohlen, von denen mindestens einer bereits große Chancen hat, auf meiner “Best of 2024”-Liste zu landen.

Eigentlich geht der Workflow übrigens noch über den Streamingdienst hinaus. Wie ich für das Techniktagebuch schon mal aufgeschrieben habe, ist die App “Songkick” mit meiner Musik-Mediathek verknüpft und checkt für mich, welche Bands aus dieser Mediathek in meiner Nähe Konzerte geben. Und da gerade die jüngeren, neueren Künstler:innen meistens günstig zu sehen sind, gehe ich immer öfter hin. Dort höre ich dann oft Songs, die ich noch nicht kenne, aber mag. Und die kommen dann zunächst wieder in die “Heavy Rotation”.


tl;dr: Ich habe einen komplizierten und wahrscheinlich auch etwas bescheuerten Workflow, um mein Musik-Menü beständig frisch zu halten. Der Algorithmus spielt dabei eine wichtige Rolle, aber er muss auch regelmäßig mit frischem Input gefüttert werden. Wer sich nur auf automatisierte Vorschläge verlässt, wird wenig wirklich neue Musik entdecken, will das aber vielleicht auch gar nicht!

Bild: Midjourney – “a platypus wearing sunglasses playing a keytar and singing, bathed in rainbow lights, dynamic framing, pop photography, –ar 2:1”

Das Raygun-Dilemma

Ich bin so fasziniert wie überfordert vom Fall der olympischen Breakdancerin Rachael “Raygun” Gunn aus Australien. 

Falls irgendjemand nicht online genug ist, um es mitbekommen zu haben: Raygun hat beim olympischen Breakdance-Wettbewerb der Frauen am vergangenen Freitag eine eigenwillige Performance hingelegt, in der sie im Gegensatz zu ihren Gegnerinnen kaum klassische Breakdance-Moves zeigte. Stattdessen glich ihr Auftritt einer merkwürdigen Parodie von Breakdance, in der Gunn zeitweise ungelenk auf dem Boden herumrutschte und wie ein Känguru durch die Gegend hüpfte. Sie erhielt für ihre Darbietung nachvollziehbarerweise keine Punkte der Richter:innen und schied in der Vorrunde aus.

Die Reaktion auf Social Media ließ nicht lange auf sich warten. Rayguns Moves wurden nach einem kurzen WTF-Moment quasi sofort zum Meme. Ihre Boden-Bewegungen dienten als Bebilderung für alles Zappelige, etwa “Wenn ich denke, mein Kind würde ruhig in seinem Bett schlafen”. Ein Move, der vor allem deutsche Zuschauer eventuell auch an Otto Waalkes’ klassische Gangart erinnern dürfte, in dem Gunn die Hände wie Pfoten in die Höhe reißt und große Schritte macht, ließ sich hervorragend mit Labels wie “Ich, wenn das Buffet eröffnet wird” versehen. Soweit, so normal. Siehe auch: Schießwettbewerb

Interessant und verwirrend wurde es für mich in der zweiten Diskussionsrunde, die im Internet ja immer folgt. Vor allem in Kommentaren unter den ersten Posts, aber dann auch in späteren Beiträgen, in denen Gunn ihren “Main Character”-Status bereits angenommen hatte, schälten sich zwei Narrative heraus, die meiner Ansicht nach beide eine gewisse Validität für sich beanspruchen können.

Narrativ 1: “Dabei sein ist alles”

In dieser Version der Geschichte ist Raygun eine Art positive Ikonoklastin, die sich nicht scheut, anders zu sein und damit die Herzen der Menschen erobert hat. Gunn selbst hat diese Botschaft nach dem Wettbewerb auf ihrem Instagram-Kanal geteilt. In einem Interview sagte sie sinngemäß: Sie wusste vorher, dass sie in Sachen Athletik nicht mit ihren deutlich jüngeren Konkurrentinnen mithalten konnte, daher habe sie versucht, originell zu sein. Der oberste Preisrichter Martin Gillian hat in einem Statement nach dem Wettbewerb gesagt, Originalität wäre eins der Kriterien beim Breakdance, Rayguns Auftritt wäre nicht schlecht gewesen, aber halt nicht so gut, wie die der anderen Breakdancer. 

Unterm Strich also: Schön, dass sie dabei war und das Feld ein bisschen aufgemischt hat. Sie hat sich ordnungsgemäß für den Wettkampf qualifiziert, ist dort aber auf bessere Athleten gestoßen und entsprechend auch ausgeschieden. Aber wie cool, dass jemand den olympischen Gedanken des “Dabei sein ist alles” so selbstbewusst vertritt. Wir brauchen mehr Rachael Gunns.

Aber Moment: “Dabei sein ist alles” ist, wenn man Wikipedia glaubt, nur der zweitbeste olympische Gedanke. An dieser Stelle setzt das zweite Narrativ an.

Narrativ 2: “Eine Schande für den Sport”

Das olympische Motto nämlich lautet nicht “For the Memes!”, sondern “Höher, schneller, weiter”. Es geht darum, sportliche Exzellenz zu feiern und athletische Höchstleistung zu bieten. Raygun habe mit ihrer Interpretation von Breakdance dieses Motto verraten, sich durch eine merkwürdige Mischung aus Glück, Status und Selbstüberschätzung einen Platz erschlichen, der anderen Menschen zugestanden hätte, und die Disziplin, in der sie angetreten ist, zum Gespött gemacht, lautet die Aussage.

Diesem Narrativ spielt die Tatsache in die Hände, dass die 38jährige Gunn hauptberuflich promovierte Cultural-Studies-Dozentin ist, die sich neben ihrer sportlichen Betätigung auch aus theoretischer Sicht mit Breakdance beschäftigt hat. Ihre Biografie scheint geradezu prädestiniert dafür, als Paradebeispiel für Weißes Privileg und kulturelle Aneignung herzuhalten. Eine Weiße Theoretikerin, die den von Marginalisierten entwickelten Tanzsport vor allem aus Büchern kennt, stolpert Forrest-Gump-mäßig irgendwie in die olympischen Spiele, gewinnt dort natürlich nicht, bietet aber anderen Weißen eine willkommene Projektionsfläche, so die Lesart. Cool Runnings, aber auf den Kopf gestellt.

Muss man sich für eine der beiden Erzählungen entscheiden? Können beide ein bisschen wahr sein? Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? 

Die merkwürdige Qualifikation

Ich habe versucht, mir durch viel Lesen ein Bild zu machen, bin aber nach wie vor nicht sicher, wo ich stehe. Kaum ein Artikel scheint mir wirklich fundiert Stellung zu beziehen, selbst die australischen Medien lassen sich nur zu einem sehr langen “Einerseits, andererseits” in Stellvertreter-Gesprächen hinreißen.

Wichtig finde ich zunächst, die Sache mit Gunns Qualifikation klarzustellen. Sie scheint sich den Platz tatsächlich ordentlich erkämpft zu haben. Der Breaker Lucas Marie, der auch ein Paper mit Rachael Gunn geschrieben hat, wird von der australischen ABC folgendermaßen zitiert:

“There was an Oceania qualifier in which any B-boy or B-girl from Australia [or] New Zealand could enter, and that was in Sydney in October 2023,” he told ABC News.

“And leading up to that, there were a lot of other events in which breakers were competing. “She won those battles fair and square and won the qualification in Sydney. And it wasn’t really a surprise to anyone. She’s been fairly consistent, winning or coming second or third at a lot of breaking events in Australia for the last five to 10 years.”

Klingt eindeutig. Die Gegenstimmen, etwa der deutsche Breaking-Pionier Niels Robitzky im “Spiegel”, halten entgegen, dass dieses Qualifikationsturnier es unbekannten und weniger privilegierten Talenten nicht unbedingt leicht gemacht hat, teilzunehmen:

Der [Tanz-]Weltverband hat einerseits ein sehr undurchsichtiges Punktesystem zur Qualifikation geschaffen und andererseits Kontinentalmeisterschaften in Afrika, Europa, Asien, Amerika und Ozeanien organisiert. Hier konnten sich die Gewinner direkt einen Platz in Paris bei Olympia sichern. Aber um an diesen teilzunehmen, musste man auf eigene Kosten anreisen und übernachten, was in ärmeren Gegenden eine große Hürde ist. In Afrika gibt es zum Beispiel herausragende Tänzerinnen und Tänzer im Breaking. Besonders in Kamerun und im Senegal. Aber weil der Qualifikationswettbewerb für Afrika in letzter Sekunde nach Marokko verlegt wurde, haben viele daran gar nicht teilgenommen. Ozeanien ist riesig. Dass bei dem Qualifikationswettbewerb in Sydney niemand besser war als Raygun, heißt nicht, dass sie die beste Tänzerin aus ganz Ozeanien ist.

Auch das klingt für mich einleuchtend, aber nicht als Argument gegen Rachael Gunn, sondern eher gegen die sportliche Organisation einer so undergroundigen Disziplin wie Breakdance. Ich befürchte aber, dass es einfach der Realität des Sport nicht nur im Vereinswesen sondern auch im Kapitalismus entspricht.

Taugt Breakdance als Sport?

Dahinter steckt, soweit ich das sehe, eine größere Debatte, inwiefern Breaking sich überhaupt als olympische Sportart eignet. Es war in Paris das erste Mal überhaupt Teil der Olympischen Spiele und Los Angeles hat für 2028 bereits letztes Jahr dankend abgelehnt. 

Ausgerechnet Planet Money hat dazu vergangene Woche eine hervorragende Episode veröffentlicht, in der sie (völlig unabhängig von Raygun) den langen Weg nachzeichnen, den Breaking nehmen musste, um überhaupt mal ein (in der Szene sehr umstrittenes) einheitliches Bewertungssystem zu bekommen, das nicht auf reiner Subjektivität beruht. Heute wird eine Performance nach fünf Kriterien beurteilt (Technik, Vokabular, Ausführung, Musikalität und Originalität). Hier stehen also sportliche Meriten relativ gleichberechtigt neben künstlerischen – es braucht aber auf jeden Fall beides, um gut zu sein. Bisher hat sich Breaking noch einem Punktesystem verweigert, in dem es für bestimmte Moves feste Punktzahlen gibt.

Denn, und das macht der Planet Money-Beitrag besonders gut klar, andere künstlerisch und kreativ geprägte Sportarten wie Synchronschwimmen und Eiskunstlauf sind diesen Weg gegangen, und es hat sie nachhaltig verändert. Sobald es ein Zahlensystem gibt, gibt es auch Wege, es auszunutzen. Die Wertungen, die man durch gezieltes Punktesammeln erzielen kann,  lassen sich mit den künstlerischen Wertungen – die es auch im Synchronschwimmen zum Beispiel noch gibt – nicht mehr ausgleichen. Daher sind all diese Sportarten in den letzten Jahrzehnten deutlich athletischer geworden. Vielleicht besser vergleichbar für Wettkämpfe, aber schlecht für alle, die eine Sportart vor allem wegen ihrer kreativen Komponente geschätzt haben.

Merkwürdige Linienverläufe

Ob die “Versportung” von Breakdance also so eine gute Idee war, steht allgemein zur Debatte. Was mir im Diskurs um Raygun aber die meisten Kopfschmerzen bereitet, ist die merkwürdige Art, wie dort die Linien verlaufen. Denn die gleiche Seite, die die Seele des Breakdance als Underground-Kunstform ohne Sportverbände bewahren will, argumentiert damit, dass Rachael Gunn nicht athletisch genug performt und die Kunstform somit beschädigt hat. Obwohl genau die mangelnde Athletik sie ja knallhart aus dem Turnier gekegelt hat, das “versportete” System also funktioniert hat, wie es soll.

Ironischerweise ist genau diese Spannung Teil von Gunns akademischer Arbeit. Das Paper, das sie mit dem oben erwähnten Lucas Marie geschrieben hat spricht von den “Möglichkeiten und der Politik der sportification” speziell in der australischen Breaking-Szene. Zitat aus dem Abstract:

While some breakers see the Olympics as an opportunity and space for wider recognition, many have expressed concerns with the growing influence (and embrace) of transnational commercial organizations and institutional governing bodies in shaping and managing breaking’s future. Alongside concerns of an increasing sportification of breaking, this trajectory points towards an increasing loss of self-determination, agency and spontaneity for local Australian breakers (…). Australia’s breaking scene is marked by distinct, self-determined localized scenes separated from each other by the geographic expansiveness of this island-continent. Here, breaking is a space for those ‘othered’ by Australian institutions to express themselves and engage in new hierarchies of respect. We argue that breaking’s institutionalization via the Olympics will place breaking more firmly within this sporting nation’s hegemonic settler-colonial structures that rely upon racialized and gendered hierarchies. (Meine Hervorhebungen)

Es scheint mir also stark so, als würde die Debatte eigentlich entlang zwei separater Achsen geführt, die aber typischer Internet-Öffentlichkeit miteinander vermischt werden.

Hiphop-Alphabetisierung

Da ist einmal die Diskussion um Breaking als Sport versus Breaking als selbstbestimmte Ausdrucksform. Hier ist klar, auf welche Seite Rachael Gunn steht, und sie hat nach allem, was ich inzwischen erfahren konnte, nicht nur selbstverständlich das Recht dazu, sondern steht so auch in der Tradition des Breakdance als Kunstform außerhalb der Institutionen. Dass sie das Ansehen des Breakings durch ihren Auftritt beschädigt hat, halte ich für Quatsch. 

Den Vergleich mit einer Breakdance-Sendung des ZDF von 1984 den Niels Robitzky im “Spiegel”-Interview bringt, nach der sich angeblich “niemand mehr getraut [hat], Breaking auf dem Dancefloor zu zeigen, weil die Sendung den Tanzstil peinlich gemacht hat”, finde ich sehr weit hergeholt. Denn: Aller Spott, den das Internet verlässlich ausgoss, richtete sich genau nicht gegen Breakdance als olympischen Sport, sondern nur gegen Gunn als Person. Mit anderen Worten: Das Publikum ist 40 Jahre nach der ZDF-Sendung Hiphop-alphabetisiert genug, um gutes von schlechtem Breaking zu unterscheiden.

Die andere, wahrscheinlich wichtigere, Diskussion ist die um Sichtbarkeit. Robitzky sagt weiter: “Jetzt ist überall in den sozialen Medien Breaking zu sehen – aber nur der eigenartige Auftritt von Raygun und nicht die Performances von Ami und Nicka, den beiden Finalistinnen, die wirklich herausragend getanzt haben.” Damit hat er Recht und ich kann den Frust derjenigen, die sich vielleicht seit Jahrzehnten für die Sichtbarkeit von Breaking einsetzen, verstehen. 

Robitzky sagt weiter: “Tanz ist eine Körpersprache, und die des Breaking ist seit 50 Jahren gewachsen. Um mitreden zu können, muss man diese Körpersprache beherrschen, man muss gewissermaßen die Grammatik und das Vokabular kennen. Erst dann kann man etwas Neues hinzufügen.” Das kann man auch anders sehen, aber ich kann seine Haltung zumindest nachvollziehen.

Mehr Sensibilität

Es ist also die Frage, ob ein aus marginalisierter Kultur gewachsener, künstlerischer Sport, der zum ersten Mal auf diese Art auf der Weltbühne präsentiert wird, wirklich sofort auch Ikonoklast:innen braucht, die selbst tendenziell aus dem “Außen” stammen und allem Anschein nach mal zeigen wollen, dass es “auch anders geht”. Und damit ähnlich wie selbsternannte “white saviors” selbstverständlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 

Hier hätte man von Rachael Gunn mehr Sensibilität erwarten können, insbesondere in der Nachbetrachtung ihres Auftritts. Statt das Narrativ weiter um sich selbst und ihren individuellen Weg kreisen zu lassen, hätte sie ihren Fame mit ihren Konkurrentinnen teilen und im Sinne einer Ethik der Appropriation auf die Wurzeln ihres Sports verweisen können, mit dem sie sich ja bestens auskennt. Dass sie es nicht getan hat und sich stattdessen für ihren Auftritt hat feiern lassen, ist menschlich vielleicht verständlich, aber eben nicht sachdienlich. Das Gebot des Privilegien-Checkens endet halt leider nie, selbst wenn man gleichzeitig für sein Verhalten in der Luft zerrissen wird.

Nachtrag, 15.8.: Aja Romano hat auf Vox.com gestern nachmittag einen Artikel veröffentlicht, der gerade die Themen Qualifikationsprozess, Punktewertungen und Breaking-Szene in Australien noch einmal ziemlich genau unter die Lupe nimmt. Er behandelt auch das Thema, welche Absicht Raygun mit ihrer Technik eventuell verfolgt, zu der man sicher geteilter Meinung sein kann. Lohnt sich auf jeden Fall, ihn zu lesen. Auf diese Art von Analyse hatte ich die ganze Zeit noch gewartet.

Foto von Ilja Tulit auf Unsplash

Thüringen 2024, Shell Game, Judging Amanda Knox, 130 Liter: Vier Podcast-Kurzkritiken

Eigentlich wollte ich im Sommer keine Höreindrücke schreiben, aber dann kamen doch ein paar neue Produktionen des Wegs. Heute geht es um Explainer, KI und True Crime.

Thüringen 2024: Was wäre, wenn? (Hauseins/Verfassungsblog)

Ein brennendes Thema. Eine sehr gute Herangehensweise, die Gefahren in Thüringen über Bedrohungsszenarien greifbar zu machen. Mit Steffi Groth eine erfahrene und sehr sympathische Host. Klingt aber trotzdem hart nach Hausaufgaben. Ich sehe zwei Gründe: Erstens geskriptete Interviews mit den Co-Hosts vom Verfassungsblog, die dadurch, dass sie Ablesen, leicht ins Leiern kommen (Mein Vorschlag: Entweder echte Co-Moderation oder echte Interviews). Zweitens sehr lange O-Töne von Expert:innen (oft dazu noch im Konjunktiv!) ohne einordnende oder zusammenfassende Einschübe. Alles keine Dealbreaker, erhöht aber die Komplexität und Trockenheit.

Shell Game (Evan Ratliff)

Indieproduktion des Journalisten (Wired, Longform), in dem er seine eigene Stimme klont, in diversen Experimenten auf die Welt (bisher: Kundenservice, Scammer, Selbstgespräche) loslässt und laut über seine Beobachtungen nachdenkt. Dicht und unterhaltsam erzählt. Hat die persönliche Komponente, die ich für solche Formate unerlässlich finde, wie schon öfter an dieser Stelle erwähnt. Vergegenwärtigt noch mal, wie weit KI im Audio-Bereich schon gekommen ist.

Judging Amanda Knox (Undone/Der Spiegel)

Ich habe Khesrau Behroz ja letzte Woche für LÄUFT interviewt, und alles was in dem Gespräch steckt, ist im Grunde auch mein Eindruck. “Judging Amanda Knox” ist, wie immer bei Undone, erzählerisch auf höchstem Niveau. Khesrau und Alexandra Berlin ergänzen sich auch sehr gut. Die Musik ist diesmal wirklich ein deutlicher Charakter. Aber ich finde diese Meta-Reflexion (diese Woche erscheint Episode 4, in der über True Crime reflektiert wird, in den freien Feeds) nicht so tugendhaft, wie sie tut, weil mir eine klare These oder ein Richtungsvorschlag an ihrem Ende fehlt. Khesrau hat Großes für den Schluss in Episode 8 angekündigt. Ich werde auf jeden Fall noch dranbleiben.

130 Liter: Streit um unser Trinkwasser (DLF)

Ein großes Thema mit moderner Haltung aber zeitlosen Mitteln erklärjournalistisch heruntergebrochen. Mir haben vor allem die Reportage-Elemente gefallen, in denen Protagonist:innen vor Ort zu Wort kommen und Reporter:innen auch DInge berichten können, die sie sehen oder erleben. Das macht alles viel greifbarer, gibt einem dieses Radio-Gefühl und hat bei mir viele positive Erinnerungen etwa an “Planet Money” geweckt. Ein bisschen traurig finde ich das allgemeine Musik- und Sounddesign, aber so isses halt: Deutschlandfunk’s gonna deutschlandfunk.

Wild Crimes, Animal, Weird Animals, Die Anschlags – vier kurze Podcastkritiken

Für die Höreindrücke habe ich diese Woche drei Podcasts gehört, die mit Tieren zu tun haben, und einen über Spionage.

Wild Crimes (ARD)

Ich finde, dass hier ein journalistisch gut aufbereitetes und spannend genug erzähltes Thema völlig dadurch ruiniert wird, dass es unnötigerweise in den True-Crime-Frame gestellt wird. Mir hätte es völlig gereicht, zu erfahren, wie schwierig die Abwägung zwischen Tierschutz, Menschenschutz und Wirtschaftsschutz in einer Welt ist, in der die Zivilisation die Wildnis fast völlig zurückgedrängt hat. Als zentrales Mysterium zu postieren, wer einen Bären tatsächlich erschossen hat, fand ich ein zu großes Zugeständnis an ein ohnehin überstrapaziertes Genre, auch wenn ich vor der Marketing-Idee dahinter knirschenden Respekt habe.

Wild Crimes in der Audiothek

Animal (New York Times)

Ich wiederhole mich, aber von solchen Podcasts wünsche ich mir auch in Deutschland viel mehr – das Personal dafür gäbe es im Feature-Bereich auf jeden Fall. Einzelne Personen, die auf eine persönliche Erkenntnmission gehen und die Geschichte auch durch ihre Brille erzählen. Hier: Was verbindet uns mit Tieren, was trennt uns? Die erste Episode ist nur 15 Minuten lang und erzählt die Geschichte von zwei Haustieren des Autors, in Folge 2 geht es 45 Minuten nach Island, um Papageientauchern beim Erwachsenwerden zu helfen. Das geht zusammen und es klingt toll. Podcasts sind ein sehr gutes Medium für den Personal Essay.

Animal hören

Weird Animals (Undone/ARD)

Uff. Ich glaube, das Format kann funktionieren, wenn es sich ein bisschen eingegroovt hat. Die Hosts sind auf jeden Fall die richtigen (auch wenn ich Robinga Schnögelrögel persönlich nicht sympathisch finde) und die größeren Themen, die sich andeuten, klingen relevant. Aber mir hat das Gespräch in Folge 1 noch zu viel Mischung aus Trockenheit, gequältem Humor und “Das habe ich leider auch nicht rausfinden können”. Die Chemie und der Rhythmus passt noch nicht ganz. Das kann man als “authentisch” feiern, aber ich finde immer noch, dass ein (auch komisches) Wissensvermittlungsformat die Zeit seines Publikums wertschätzen sollte.

Weird Animals in der Audiothek

Die Anschlags (WDR)

Mir sind zwei Dinge aufgefallen: Erstens, wie gekonnt die Doku mit verschiedenen Zeit- und Erläuterungsebenen jongliert, ohne dass man den Faden verliert (auch wenn es zwischendurch wirklich recht kompliziert ist). Zweitens, dass sie ihre Geschichte fast konsequent linear erzählt und man nur deswegen dranbleibt, weil man wissen will, wie es weitergeht, auch ohne dass ständig lautstarke Ankündigungen gemacht werden, wie krass diese Recherche ist – das merkt man nämlich von selber. Habe ich abonniert und werde ich fertighören.

Die Anschlags in der Audiothek

Row Zero, Feuerzone, 15 Minuten, Fur and Loathing: Vier Podcast-Kurzkritiken

Zweimal Rammstein, ein neuer Daily-Podcast der Tagesschau und ein True-Crime-Fall im Furry-Milieu. Höreindrücke sind schnelle Meinungen von mir zu vier neuen Podcasts nach dem Anhören weniger Episoden. Alle zwei Wochen (meistens) neu, hier und auf LinkedIn.

Rammstein – Row Zero (NDR) und Feuerzone: Das System Rammstein (SZ)

Kulturelle Artefakte wie dieses sind ein Geschenk: Zwei Medien recherchieren gemeinsam, veröffentlichen gemeinsam, gehen dann aber auseinander und bereiten ihr Rohmaterial, angereichert durch zusätzlichen Kontext, noch einmal separat als Podcast auf. Als Kritiker kann man sich so zwischen zwei alternativen Universen der Rammstein-Podcasts bewegen und feststellen: Beide sind in ihrer Unterschiedlichkeit gut geworden. An Row Zero fand ich beeindruckend, wie konsequent der Podcast in der Perspektive der mutmaßlichen Opfer bleibt und ihr auch Erläuterungen (etwa des Rechtssystems oder der Historie von Rammstein) gegenübergestellt, die Synthese beider Elemente aber den Hörenden überlässt. Von Feuerzone habe ich bisher erst eine Folge gehört und ich finde den Ansatz interessant, auch einen kulturjournalistischen Rundumschlag zu wagen und die Rolle der Medien zu beleuchten. Eine ausführlichere Kritik und hoffentlich ein paar Hintergründe gibt es dann in der nächsten Ausgabe von Läuft.

Row Zero

Feuerzone

15 Minuten (Tagesschau)

What if Nachrichten but angekumpelt. Dass hier “Tagesschau” draufsteht ist eigentlich irreführend, denn 15 Minuten ist mit seiner Mischung aus eher weichen News, Servicejournalismus und Anekdotenanreicherung durch die Hosts eigentlich viel eher ein “Morgenmagazin” in Podcastform als eine “harte” Nachrichtensendung. Für alle, die sowas gerne als täglichen Begleiter haben möchten, ist es solide gemacht, vor allem in seiner Auswertung der restlichen ARD-Berichterstattung. Aber ich finde nicht, dass es einen Mehrwert zu ähnlichen Formaten oder einfach gegenüber morgendlichem Radiohören bietet.

15 Minuten

Fur and Loathing (Brazen)

2014 gab es einen mutmaßlichen Giftgasanschlag auf eine Convention der Furry-Subkultur in den USA, der nie ordentlich aufgeklärt wurde. Klingt nach einer guten Mischung für einen Podcast. Ist es auch. Ich sehe allerdings Probleme mit der journalistischen Haltung des Reporters, der von Anfang an klarmacht, dass er hier vor allem den Marginalisierten zur Seite springen will. Das führt gelegentlich zu Verzerrungen in der Perspektive und Formulierungen, wie sie öfter im “aktivistischen” Journalismus zu erleben sind, etwa das wiederholte Betonen der Wichtigkeit des eigenen Falls im Vergleich zu anderen Themen. Die Geschichte hat mich aber genug gehookt, dass ich wissen will, wie es weitergeht. Noch eine interessante Formatbeobachtung: Ein Interview mit dem Verantwortlichen vor dem Start des Podcasts in den Feed zu packen, das die Mission erklärt und den Inhalt teast, finde ich eine super Idee.

Fur and Loathing