Das Podcast-Jahr 2024 und der überraschende Wert von Kritik

Ich habe einen Traum. Ich wünsche mir einen Podcast, in dem andere Podcaster:innen lang und ausführlich zu ihren Podcasts interviewt werden. Vor meinem inneren Auge sieht das Ganze aus wie ein Mix aus dem Longform Podcast, der lange Interviews mit Journalist:innen (gelegentlich auch Podcaster:innen) führte und leider dieses Jahr eingestellt wurde, und Song Exploder. Das heißt: Man würde sowohl im Großen sprechen: Wie kam die Story zu Stande? Warum wurden welche dramaturgischen Entscheidungen getroffen? Aber man könnte sich auch mal eine Schlüsselszene vornehmen und diese auseinandernehmen, wie es Rob Rosenthal in Sound School gelegentlich macht. Da dieses Format ohnehin nur ein sehr kleines Nischenpublikum interessieren würde, sollte es nerdy sein und an unerwarteten Stellen in die Tiefe bohren. Wichtig fände ich aber auch, dass es unabhängig und kritisch ist.

Welcher Wert genau darin, in der unabhängigen und kritischen Betrachtung von Podcasts steckt, ist mir dieses Jahr bewusst geworden. Ich habe in LÄUFT (das übrigens dieser Tage seine 50. Episode feiert und zum Ende des Jahres wieder ein ambitioniertes Finale in den den Startlöchern hat, das nur am Rande) und schriftlich für “epd medien” eine ganze Reihe Podcasts kritisch besprochen. Außerdem habe ich Anfang des Jahres mehr aus Zufall eine Kurzkritik-Reihe namens “Höreindrücke” ins Leben gerufen, für die ich Podcasts austeste und nach zwei bis drei Folgen eine Einschätzung abgebe.

Feedback zum Feedback

Zu beidem war das Feedback von Macher:innen fast ausnahmslos positiv, selbst wenn ich nicht immer nur Gutes über die besprochenen Podcasts zu sagen hatte. Menschen freuten sich sowohl darüber, einen Eindruck über die allgemeine Formatlandschaft gespiegelt zu bekommen, als auch, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte, ihre Arbeit in Ruhe anzugucken, zu analysieren und ihnen Feedback dazu zu geben.

Anscheinend ist das selten genug. Die Podcast-Kritik-Kolumne auf “Übermedien” wurde vor einigen Jahren eingestellt. “SZ” und “taz” veröffentlichen regelmäßig Podcastkritiken, die aber irgendwie ziemlich unter dem Radar laufen. Es gibt immer noch den “Über Podcast” (in dem ich dieses Jahr erstmals zu Gast sein durfte, was mich extrem gefreut hat). Und ansonsten gibt es aus der Branche heraus – also von Leuten, die auch selbst Podcasts machen – vor allem Empfehlungen, zum Beispiel in Newslettern wie “Oh My Pod”. Das ist auch schön. Wer Orientierung im Podcast-Dschungel sucht, für den sind Empfehlungen genau das Richtige. Aber es scheint auch wirklich wertvoll zu sein, wenn einem mal jemand sagt, was für ihn oder sie nicht funktioniert hat. Ich kann nur sagen, dass mich das Feedback zum Feedback jedes Mal sehr gefreut hat.

Die fetten Jahre sind vorbei

Diese Art von Austausch stand für mich auch im Zentrum der einzigen Podcastkonferenz, auf die ich es dieses Jahr geschafft habe. Auf der “So Many Voices” in München ging es viel darum, Wissen miteinander zu teilen – auch Wissen über Arbeitsbedingungen in der Branche – und Ideen und Arbeitsweisen gemeinsam zu diskutieren. Es ging weniger darum, Erfolgsgeschichten (mit dem entsprechenden Survivor Bias) zu erzählen, was von außen oft mein Eindruck von anderen, größeren Veranstaltungen war. (Zum Beispiel in meinem Interview mit Christian Conradi zu “All Ears” im April.)

Ich weiß nicht, wieviel Unterschied all diese Gedanken am Ende unterm Strich machen in einem Podcastjahr, das, soweit ich das sehe, unter dem Motto “Die fetten Jahre sind vorbei” stand. Ich bin ohnehin kein großer “Branchenbeobachter” in dem Sinne. Hier sind die Analysen von Sandro Schroeder in “Hören/Sagen” für mich immer noch der Goldstandard. Selbst wenn ich seine Einschätzungen nicht immer teile, basieren sie auf einem kritischen Blick, der sowohl tief als auch weit ist. (Mein Leben besteht ironischerweise für diese Art von Beschäftigung immer noch zu wenig aus Podcasts und zu viel aus anderen Dingen, wie einem 30-Stunden-Brotjob, was gerne jemand ändern darf.) 

Ich kann also immer nur das einschätzen und spiegeln, was ich am Ende höre. Und das war dieses Jahr trotz allem immer noch eine Flut an neuen Podcasts, auch vieler Doku- und Storytellingpodcasts, sowohl von öffentlich-rechtlichen als auch von privaten Anbietern.

Neue Ideen

Ich habe dabei jedes Mal die Ohren aufgestellt, wenn ich den Eindruck hatte, dass mal wieder jemand etwas Neues probiert. Etwa im BR-Podcast In 5 Tagen Mord, der seine Story anhand einer Versuchsanordnung, oder wie man heute sagt: einer Challenge, erzählt, dabei unterhaltsam und lehrreich (meine Lieblings-Adjektivkombo) ist und am Ende als Bonus auch noch ein neues Hörspiel auswirft. Ich glaube, ich kann heute mit gutem Gewissen sagen, dass das Ergebnis mein Lieblingspodcast des Jahres ist.

Aber ich war auch sehr positiv überrascht vom Mordlust-Ableger Justitias Wille, obwohl ich mit dem Mutterformat absolut nichts anfangen kann. Ich fand die Idee einfach sehr clever, einen laufenden Prozess mit einem Podcast zu begleiten, der sowohl aktuelle Entwicklungen berichtet, als auch – vorproduziert – die Hintergrundgeschichte dazu. Logistisch hoch komplex, aber erzählerisch erstaunlich befriedigend.

Dieses positive Gefühl für Neues entsteht bei mir sogar bei einem Format wie Der Zerfall Babylons vom RBB aus dem Herbst, mit dem ich zwar aus anderen Gründen Probleme habe, dessen Grundidee, die Grenzen zwischen offenem Gesprächs- und abgeschlossenem Dokupodcast zu verwischen, ich aber für zumindest bemerkenswert halte.

Doppelmoderationen und Color Commentators

Gleichzeitig lässt sich natürlich auch wie jedes Jahr die Verhärtung einiger Trends beobachten, die dadurch nicht besser werden, dass man sie wiederholt. Mein größter Pet Peeve gegen Mitte des Jahres war der Einsatz von unangenehmen Doppelmoderationen. Dieses Format, in dem einer der beiden Hosts eine Geschichte mitbringt, und die andere Person darauf reagiert (ich nenne es gerne das “umgekehrte Interview”), ist ja in der Podcastlandschaft eigentlich ein alter Hut. 

Und es gibt jedes Jahr wieder Podcasts, die das auf Augenhöhe und mit guter Chemie hinbekommen (ich mochte zum Beispiel HDGDL von Kugel und Niere mit Christian Alt und Yasmin Polat). Aber oft genug wirkt es auch so, als wären entweder beide Personen nur auf Basis von Bekanntheit und vager Themenassoziation gecastet worden, oder – noch schlimmer – als hätte man nach altem Muster einem eher uninteressanten Mann einen jungen weiblichen Sidekick als Color Commentator zur Seite gestellt, damit auch alle Zielgruppen abgeholt sind. Bitte nicht mehr machen!

Persönliche Handschriften

Und damit kommen wir zu etwas, was ich (gefühlt) jedes Jahr wieder sage, und was deswegen nicht weniger wahr wird. Gerade Doku-Podcasts sind meiner Ansicht nach am eindrucksvollsten, wenn sie eine persönliche Handschrift tragen. Wenn die Person, die mich durch die Geschichte führt, etwas mitbringt, dass nur sie zu dieser Geschichte beitragen kann.

Damit meine ich nicht, dass sich alle Journalist:innen immer zwanghaft mit ihren eigenen Reaktionen auf die Erlebnisse ihrer Protagonist:innen in ihre Story einschreiben müssen – vor allem nicht wenn sie sich auf ein “Ich finde das ganz schön heftig” beschränken. Aber ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen beim Ringen mit dem Stoff, ihre Haltung finden sich irgendwo im Podcast wieder. Sie geben mir einen Grund, ihnen auf ihrer Reise zu folgen. Das muss nicht immer viel sein, aber es ist am Ende spürbar.

Für mich war das dieses Jahr in Podcasts wie Deutschland – Ein halbes Leben von Christian Bollert (detektor.fm/MDR) der Fall, im Guerilla-Projekt Lost im Bundestag (ARD) von Bianca Schwarz aber auch in KINO.TO – Die verbotene Streamingrevolution (Studio Soma/probono/ARD Kultur). Im letzten Fall ist die Host Maxie Römhild noch nicht einmal die einzige Autorin, aber sie ist trotzdem eine erfolgreiche Identifikationsfigur. Kurz vorm Schreiben dieses Artikels hat sich auch noch Becoming The Beatles (NDR) von Ocke Bandixen dazugesellt, der sich laut Beschreibung wie ein überflüssiger regionaler Dreh auf eine x-fach erzählte Geschichte liest, aber sein persönliches Herz so sehr am Revers trägt, das ich ihm erstaunlich schnell verfallen bin.

Mehr Kunst wagen

Um noch einen draufzusetzen: Wo es persönlich wird, darf es meiner Ansicht nach auch gerne ab und zu noch ein bisschen künstlerischer werden. Hier kann sich der narrative Podcast meiner Ansicht nach durchaus noch einiges von seinem Vorfahren, dem Radiofeature, abschauen, dem er ja mit gerechtfertigter jugendlicher Rebellion noch immer gerne den Mittelfinger zeigt, um sich lieber an glitzernden amerikanischen Vorbildern zu orientieren. Ein Projekt wie Goodbye Stranger (DLF) mag keine glattgeschliffene Geschichte mit perfekter Dramaturgie haben, aber es bietet eine emotionale und Nähe erzeugende Hörerfahrung, wie sie typische Storytelling-Podcasts selten zu bieten haben.

Natürlich fehlen in den vielen Zeichen, die ich bis hierher geschrieben habe, dutzende aufwändige Podcasts, die ich nicht gehört habe, obwohl ich mich noch nie so sehr bemüht habe, breit statt tief zu hören, wie dieses Jahr (was ganz schön stressig ist, übrigens). Schreib mir doch deinen herausragenden Lieblingspodcast, den ich vergessen habe (aber nicht deinen eigenen) gerne in die Kommentare. Vielleicht habe ich ja noch Zeit, reinzuhören.

Natürlich, eine Liste

Und weil Menschen Listen mögen, und sich aus einer Liste auch besser später ein Sharepic auf Instagram bauen lässt, liste ich hier noch einmal meine persönlichen Lieblings-Doku-Podcasts aus Deutschland für 2024 auf. Mir fällt auf: In einer Aufzählung wie dieser entwickelt die inzwischen typische Kombi aus Titel und Untertitel eine gewisse dadaistische Komik.

  1. In 5 Tagen Mord – Die Krimi-Challenge mit KI
  2. Justitias Wille – Leben in der Waagschale
  3. Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall
  4. Rasenball: Red Bull und der moderne Fußball
  5. KINO.TO – die verbotene Streamingrevolution
  6. Becoming the Beatles – Die Hamburger Jahre
  7. Goodbye Stranger – Wie wir uns von unseren Vätern verabschieden

Und außerdem

Mein eigentlicher Lieblingspodcast des Jahres, den ich nicht müde werde, zu empfehlen, ist übrigens Politik mit Anne Will (Will Media), den ich ja auch schon in den “Über Podcast” mitgebracht habe. Hier freue ich mich jede Woche auf die neue Folge. Es ist einfach eine total gute Idee, ein aktuelles Politiker:innen-Interview zu führen, aber dann nicht dieses Interview in den Mittelpunkt des Podcasts zu stellen, sondern eine sachkundige Erörterung des Themas, in der das Interview nur als Indiz fungiert.

Und aus den USA? Ich habe dieses Jahr, etwas late to the Party, If Books Could Kill entdeckt, ein medienkritisches Gesprächsformat, das eine perfekte Kombi aus Wissen und albernem bis bissigem Humor vorzuweisen hat. Dieser Podcast gefällt mir so gut, dass ich Patron geworden bin und freiwillig mehr höre, obwohl ich einen vollen Podcast-Stundenplan habe. Außerdem kann ich jedem eine weitere Indieproduktion, Shell Game von Evan Ratliff, ans Herz legen, in der Ratliff auf sehr persönliche und nachdenkliche Weise die Möglichkeiten von KI-Stimmenklonen auslotet

Wenn ich abschließend eine einzelne Podcast-Folge nennen müsste, die bei mir dieses Jahr am meisten nachgewirkt hat, dann war es sicher “Why didn’t Chris and Dan get into Berghain?`” aus PJ Vogts Search Engine. Diese Episode (streng genommen sind es zwei) hat mir nicht nur eine Frage beantwortet, über die ich selbst schon oft gerätselt habe, sondern mich auch neu für elektronische Musik begeistert. Das muss man erstmal schaffen.

Dieser Artikel führt erfahrungsgemäß mehr Leute auf mein Blog als gewöhnlich. Hast du meine Ausführungen gerne gelesen? Dann überleg doch mal, ob du LÄUFT, den Podcast, den ich für epd medien und Grimme Institut produziere und hoste, nicht abonnieren willst. Dort gibt es alle zwei Wochen Interviews und Kritiken von mir zu Podcasts und verwandten Themen. Ich würde mich freuen.

Das Raygun-Dilemma

Ich bin so fasziniert wie überfordert vom Fall der olympischen Breakdancerin Rachael “Raygun” Gunn aus Australien. 

Falls irgendjemand nicht online genug ist, um es mitbekommen zu haben: Raygun hat beim olympischen Breakdance-Wettbewerb der Frauen am vergangenen Freitag eine eigenwillige Performance hingelegt, in der sie im Gegensatz zu ihren Gegnerinnen kaum klassische Breakdance-Moves zeigte. Stattdessen glich ihr Auftritt einer merkwürdigen Parodie von Breakdance, in der Gunn zeitweise ungelenk auf dem Boden herumrutschte und wie ein Känguru durch die Gegend hüpfte. Sie erhielt für ihre Darbietung nachvollziehbarerweise keine Punkte der Richter:innen und schied in der Vorrunde aus.

Die Reaktion auf Social Media ließ nicht lange auf sich warten. Rayguns Moves wurden nach einem kurzen WTF-Moment quasi sofort zum Meme. Ihre Boden-Bewegungen dienten als Bebilderung für alles Zappelige, etwa “Wenn ich denke, mein Kind würde ruhig in seinem Bett schlafen”. Ein Move, der vor allem deutsche Zuschauer eventuell auch an Otto Waalkes’ klassische Gangart erinnern dürfte, in dem Gunn die Hände wie Pfoten in die Höhe reißt und große Schritte macht, ließ sich hervorragend mit Labels wie “Ich, wenn das Buffet eröffnet wird” versehen. Soweit, so normal. Siehe auch: Schießwettbewerb

Interessant und verwirrend wurde es für mich in der zweiten Diskussionsrunde, die im Internet ja immer folgt. Vor allem in Kommentaren unter den ersten Posts, aber dann auch in späteren Beiträgen, in denen Gunn ihren “Main Character”-Status bereits angenommen hatte, schälten sich zwei Narrative heraus, die meiner Ansicht nach beide eine gewisse Validität für sich beanspruchen können.

Narrativ 1: “Dabei sein ist alles”

In dieser Version der Geschichte ist Raygun eine Art positive Ikonoklastin, die sich nicht scheut, anders zu sein und damit die Herzen der Menschen erobert hat. Gunn selbst hat diese Botschaft nach dem Wettbewerb auf ihrem Instagram-Kanal geteilt. In einem Interview sagte sie sinngemäß: Sie wusste vorher, dass sie in Sachen Athletik nicht mit ihren deutlich jüngeren Konkurrentinnen mithalten konnte, daher habe sie versucht, originell zu sein. Der oberste Preisrichter Martin Gillian hat in einem Statement nach dem Wettbewerb gesagt, Originalität wäre eins der Kriterien beim Breakdance, Rayguns Auftritt wäre nicht schlecht gewesen, aber halt nicht so gut, wie die der anderen Breakdancer. 

Unterm Strich also: Schön, dass sie dabei war und das Feld ein bisschen aufgemischt hat. Sie hat sich ordnungsgemäß für den Wettkampf qualifiziert, ist dort aber auf bessere Athleten gestoßen und entsprechend auch ausgeschieden. Aber wie cool, dass jemand den olympischen Gedanken des “Dabei sein ist alles” so selbstbewusst vertritt. Wir brauchen mehr Rachael Gunns.

Aber Moment: “Dabei sein ist alles” ist, wenn man Wikipedia glaubt, nur der zweitbeste olympische Gedanke. An dieser Stelle setzt das zweite Narrativ an.

Narrativ 2: “Eine Schande für den Sport”

Das olympische Motto nämlich lautet nicht “For the Memes!”, sondern “Höher, schneller, weiter”. Es geht darum, sportliche Exzellenz zu feiern und athletische Höchstleistung zu bieten. Raygun habe mit ihrer Interpretation von Breakdance dieses Motto verraten, sich durch eine merkwürdige Mischung aus Glück, Status und Selbstüberschätzung einen Platz erschlichen, der anderen Menschen zugestanden hätte, und die Disziplin, in der sie angetreten ist, zum Gespött gemacht, lautet die Aussage.

Diesem Narrativ spielt die Tatsache in die Hände, dass die 38jährige Gunn hauptberuflich promovierte Cultural-Studies-Dozentin ist, die sich neben ihrer sportlichen Betätigung auch aus theoretischer Sicht mit Breakdance beschäftigt hat. Ihre Biografie scheint geradezu prädestiniert dafür, als Paradebeispiel für Weißes Privileg und kulturelle Aneignung herzuhalten. Eine Weiße Theoretikerin, die den von Marginalisierten entwickelten Tanzsport vor allem aus Büchern kennt, stolpert Forrest-Gump-mäßig irgendwie in die olympischen Spiele, gewinnt dort natürlich nicht, bietet aber anderen Weißen eine willkommene Projektionsfläche, so die Lesart. Cool Runnings, aber auf den Kopf gestellt.

Muss man sich für eine der beiden Erzählungen entscheiden? Können beide ein bisschen wahr sein? Liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? 

Die merkwürdige Qualifikation

Ich habe versucht, mir durch viel Lesen ein Bild zu machen, bin aber nach wie vor nicht sicher, wo ich stehe. Kaum ein Artikel scheint mir wirklich fundiert Stellung zu beziehen, selbst die australischen Medien lassen sich nur zu einem sehr langen “Einerseits, andererseits” in Stellvertreter-Gesprächen hinreißen.

Wichtig finde ich zunächst, die Sache mit Gunns Qualifikation klarzustellen. Sie scheint sich den Platz tatsächlich ordentlich erkämpft zu haben. Der Breaker Lucas Marie, der auch ein Paper mit Rachael Gunn geschrieben hat, wird von der australischen ABC folgendermaßen zitiert:

“There was an Oceania qualifier in which any B-boy or B-girl from Australia [or] New Zealand could enter, and that was in Sydney in October 2023,” he told ABC News.

“And leading up to that, there were a lot of other events in which breakers were competing. “She won those battles fair and square and won the qualification in Sydney. And it wasn’t really a surprise to anyone. She’s been fairly consistent, winning or coming second or third at a lot of breaking events in Australia for the last five to 10 years.”

Klingt eindeutig. Die Gegenstimmen, etwa der deutsche Breaking-Pionier Niels Robitzky im “Spiegel”, halten entgegen, dass dieses Qualifikationsturnier es unbekannten und weniger privilegierten Talenten nicht unbedingt leicht gemacht hat, teilzunehmen:

Der [Tanz-]Weltverband hat einerseits ein sehr undurchsichtiges Punktesystem zur Qualifikation geschaffen und andererseits Kontinentalmeisterschaften in Afrika, Europa, Asien, Amerika und Ozeanien organisiert. Hier konnten sich die Gewinner direkt einen Platz in Paris bei Olympia sichern. Aber um an diesen teilzunehmen, musste man auf eigene Kosten anreisen und übernachten, was in ärmeren Gegenden eine große Hürde ist. In Afrika gibt es zum Beispiel herausragende Tänzerinnen und Tänzer im Breaking. Besonders in Kamerun und im Senegal. Aber weil der Qualifikationswettbewerb für Afrika in letzter Sekunde nach Marokko verlegt wurde, haben viele daran gar nicht teilgenommen. Ozeanien ist riesig. Dass bei dem Qualifikationswettbewerb in Sydney niemand besser war als Raygun, heißt nicht, dass sie die beste Tänzerin aus ganz Ozeanien ist.

Auch das klingt für mich einleuchtend, aber nicht als Argument gegen Rachael Gunn, sondern eher gegen die sportliche Organisation einer so undergroundigen Disziplin wie Breakdance. Ich befürchte aber, dass es einfach der Realität des Sport nicht nur im Vereinswesen sondern auch im Kapitalismus entspricht.

Taugt Breakdance als Sport?

Dahinter steckt, soweit ich das sehe, eine größere Debatte, inwiefern Breaking sich überhaupt als olympische Sportart eignet. Es war in Paris das erste Mal überhaupt Teil der Olympischen Spiele und Los Angeles hat für 2028 bereits letztes Jahr dankend abgelehnt. 

Ausgerechnet Planet Money hat dazu vergangene Woche eine hervorragende Episode veröffentlicht, in der sie (völlig unabhängig von Raygun) den langen Weg nachzeichnen, den Breaking nehmen musste, um überhaupt mal ein (in der Szene sehr umstrittenes) einheitliches Bewertungssystem zu bekommen, das nicht auf reiner Subjektivität beruht. Heute wird eine Performance nach fünf Kriterien beurteilt (Technik, Vokabular, Ausführung, Musikalität und Originalität). Hier stehen also sportliche Meriten relativ gleichberechtigt neben künstlerischen – es braucht aber auf jeden Fall beides, um gut zu sein. Bisher hat sich Breaking noch einem Punktesystem verweigert, in dem es für bestimmte Moves feste Punktzahlen gibt.

Denn, und das macht der Planet Money-Beitrag besonders gut klar, andere künstlerisch und kreativ geprägte Sportarten wie Synchronschwimmen und Eiskunstlauf sind diesen Weg gegangen, und es hat sie nachhaltig verändert. Sobald es ein Zahlensystem gibt, gibt es auch Wege, es auszunutzen. Die Wertungen, die man durch gezieltes Punktesammeln erzielen kann,  lassen sich mit den künstlerischen Wertungen – die es auch im Synchronschwimmen zum Beispiel noch gibt – nicht mehr ausgleichen. Daher sind all diese Sportarten in den letzten Jahrzehnten deutlich athletischer geworden. Vielleicht besser vergleichbar für Wettkämpfe, aber schlecht für alle, die eine Sportart vor allem wegen ihrer kreativen Komponente geschätzt haben.

Merkwürdige Linienverläufe

Ob die “Versportung” von Breakdance also so eine gute Idee war, steht allgemein zur Debatte. Was mir im Diskurs um Raygun aber die meisten Kopfschmerzen bereitet, ist die merkwürdige Art, wie dort die Linien verlaufen. Denn die gleiche Seite, die die Seele des Breakdance als Underground-Kunstform ohne Sportverbände bewahren will, argumentiert damit, dass Rachael Gunn nicht athletisch genug performt und die Kunstform somit beschädigt hat. Obwohl genau die mangelnde Athletik sie ja knallhart aus dem Turnier gekegelt hat, das “versportete” System also funktioniert hat, wie es soll.

Ironischerweise ist genau diese Spannung Teil von Gunns akademischer Arbeit. Das Paper, das sie mit dem oben erwähnten Lucas Marie geschrieben hat spricht von den “Möglichkeiten und der Politik der sportification” speziell in der australischen Breaking-Szene. Zitat aus dem Abstract:

While some breakers see the Olympics as an opportunity and space for wider recognition, many have expressed concerns with the growing influence (and embrace) of transnational commercial organizations and institutional governing bodies in shaping and managing breaking’s future. Alongside concerns of an increasing sportification of breaking, this trajectory points towards an increasing loss of self-determination, agency and spontaneity for local Australian breakers (…). Australia’s breaking scene is marked by distinct, self-determined localized scenes separated from each other by the geographic expansiveness of this island-continent. Here, breaking is a space for those ‘othered’ by Australian institutions to express themselves and engage in new hierarchies of respect. We argue that breaking’s institutionalization via the Olympics will place breaking more firmly within this sporting nation’s hegemonic settler-colonial structures that rely upon racialized and gendered hierarchies. (Meine Hervorhebungen)

Es scheint mir also stark so, als würde die Debatte eigentlich entlang zwei separater Achsen geführt, die aber typischer Internet-Öffentlichkeit miteinander vermischt werden.

Hiphop-Alphabetisierung

Da ist einmal die Diskussion um Breaking als Sport versus Breaking als selbstbestimmte Ausdrucksform. Hier ist klar, auf welche Seite Rachael Gunn steht, und sie hat nach allem, was ich inzwischen erfahren konnte, nicht nur selbstverständlich das Recht dazu, sondern steht so auch in der Tradition des Breakdance als Kunstform außerhalb der Institutionen. Dass sie das Ansehen des Breakings durch ihren Auftritt beschädigt hat, halte ich für Quatsch. 

Den Vergleich mit einer Breakdance-Sendung des ZDF von 1984 den Niels Robitzky im “Spiegel”-Interview bringt, nach der sich angeblich “niemand mehr getraut [hat], Breaking auf dem Dancefloor zu zeigen, weil die Sendung den Tanzstil peinlich gemacht hat”, finde ich sehr weit hergeholt. Denn: Aller Spott, den das Internet verlässlich ausgoss, richtete sich genau nicht gegen Breakdance als olympischen Sport, sondern nur gegen Gunn als Person. Mit anderen Worten: Das Publikum ist 40 Jahre nach der ZDF-Sendung Hiphop-alphabetisiert genug, um gutes von schlechtem Breaking zu unterscheiden.

Die andere, wahrscheinlich wichtigere, Diskussion ist die um Sichtbarkeit. Robitzky sagt weiter: “Jetzt ist überall in den sozialen Medien Breaking zu sehen – aber nur der eigenartige Auftritt von Raygun und nicht die Performances von Ami und Nicka, den beiden Finalistinnen, die wirklich herausragend getanzt haben.” Damit hat er Recht und ich kann den Frust derjenigen, die sich vielleicht seit Jahrzehnten für die Sichtbarkeit von Breaking einsetzen, verstehen. 

Robitzky sagt weiter: “Tanz ist eine Körpersprache, und die des Breaking ist seit 50 Jahren gewachsen. Um mitreden zu können, muss man diese Körpersprache beherrschen, man muss gewissermaßen die Grammatik und das Vokabular kennen. Erst dann kann man etwas Neues hinzufügen.” Das kann man auch anders sehen, aber ich kann seine Haltung zumindest nachvollziehen.

Mehr Sensibilität

Es ist also die Frage, ob ein aus marginalisierter Kultur gewachsener, künstlerischer Sport, der zum ersten Mal auf diese Art auf der Weltbühne präsentiert wird, wirklich sofort auch Ikonoklast:innen braucht, die selbst tendenziell aus dem “Außen” stammen und allem Anschein nach mal zeigen wollen, dass es “auch anders geht”. Und damit ähnlich wie selbsternannte “white saviors” selbstverständlich viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 

Hier hätte man von Rachael Gunn mehr Sensibilität erwarten können, insbesondere in der Nachbetrachtung ihres Auftritts. Statt das Narrativ weiter um sich selbst und ihren individuellen Weg kreisen zu lassen, hätte sie ihren Fame mit ihren Konkurrentinnen teilen und im Sinne einer Ethik der Appropriation auf die Wurzeln ihres Sports verweisen können, mit dem sie sich ja bestens auskennt. Dass sie es nicht getan hat und sich stattdessen für ihren Auftritt hat feiern lassen, ist menschlich vielleicht verständlich, aber eben nicht sachdienlich. Das Gebot des Privilegien-Checkens endet halt leider nie, selbst wenn man gleichzeitig für sein Verhalten in der Luft zerrissen wird.

Nachtrag, 15.8.: Aja Romano hat auf Vox.com gestern nachmittag einen Artikel veröffentlicht, der gerade die Themen Qualifikationsprozess, Punktewertungen und Breaking-Szene in Australien noch einmal ziemlich genau unter die Lupe nimmt. Er behandelt auch das Thema, welche Absicht Raygun mit ihrer Technik eventuell verfolgt, zu der man sicher geteilter Meinung sein kann. Lohnt sich auf jeden Fall, ihn zu lesen. Auf diese Art von Analyse hatte ich die ganze Zeit noch gewartet.

Foto von Ilja Tulit auf Unsplash

Gedanken zu Podcasts im Jahr 2023

Ich habe lange überlegt, was die beste Form für diesen Text sein sollte. In den vergangenen Jahren stand an dieser Stelle oft eine kommentierte Liste. Das wäre sicher auch wieder eine Möglichkeit gewesen. Aber ich hatte noch einige weitere Dinge, die mir im Kopf herumschwirren, und die in der Liste nur schwer Platz gefunden hätten. Also ist es ein persönlicher, mäandernder Fließtext geworden. Naja.

Ich fange mit dem Persönlichsten an. 2023 war das Jahr, in dem ich selbst zum professionellen Podcaster geworden bin. Nach einigen Jahren mit Kulturindustrie als Gesprächspodcast und Ausflügen ins Podcast-Als-Blogersatz-Business mit dem Lexpod darf ich seit Januar mit LÄUFT einen Podcast im Auftrag von epd medien und Grimme-Institut hosten und produzieren, in dem ich Interviews zu Medienthemen führe und seit der zweiten Jahreshälfte auch kleine eigene Kritiken einspreche. 

Ich bin auf LÄUFT sehr stolz und ich lerne mit jeder Folge neue Dinge dazu, nicht zuletzt natürlich mit meiner ersten narrativen Folge zur ZDF-Sendung X-Base, die ich zum Ende des Jahres produziert habe. Dazu schreibe ich mal einen eigenen Post, wenn die zweite Folge veröffentlicht ist. Allgemein möchte ich zur Arbeit an LÄUFT vielleicht zwei Dinge zusammenfassend sagen: 1. Mit LÄUFT ist mir erst so richtig klargeworden, wie umkämpft der Podcastmarkt wirklich ist, aber auch, welche unterschiedlichen Metriken man anlegen kann, um seinen eigenen Erfolg zu messen (Gruß an David). 2. Mit das Beste am Podcast ist, dass ich eine Redaktion habe, die mir für viele Folgen das eigene Themen finden und recherchieren abnimmt und mich vorab auf die wichtigsten Aspekte für ein Interview stößt und brieft. Hinterher schaut sie dann kritisch drauf und sagt mir, wenn ich Fehler gemacht habe. Kurzum: Durch redaktionelle Arbeit wird alles besser, auch Podcasts. 

Damit genug von mir, kommen wir zum Rest der Landschaft.

Als ich vor ein paar Tagen versucht habe, eine Liste zusammenzustellen, habe ich erst gemerkt, wieviele Podcasts ich nicht gehört habe. Dieses Phänomen kenne ich natürlich aus anderen Jahren, vor allem im Bereich Filme, aber diesmal hat es mich schon etwas geärgert. Ich habe nach wie vor keine gute Routine dafür gefunden, wie ich alle meine regulären Podcasts hören kann und Zeit dafür finde, aktuelle Produktionen zu entdecken, außer sie irgendwie dazwischenzuschieben und eventuell mal auf ein paar Folgen meiner geliebten Comfort Foods zu verzichten.

Zu wenig Podcasts habe ich demnach nicht gehört (Pocket Casts sagt: 33 Tage), aber dennoch fehlen in meinen Betrachtungen leider solche gelobten Produktionen wie 344 Minuten, Zugunglück Eschede – 25 Jahre danach, Grenzgänger und SchwarzRotGold: Mesut Özil zu Gast bei Freunden, aber ich hoffe, dass ich zumindest einige davon noch nachholen werde.

Mein Lieblingspodcast: Scambit

Grundsätzlich ist es, finde ich, ziemlich gut, dass die ARD 2023 größer als zuvor ins Auftrags- und Koproduktions-Spiel eingestiegen ist, um Podcast-Content für die Audiothek zu generieren. Diese Strategie schafft Raum für unterschiedliche Produktionsarten und Tonfälle auf hohem Niveau (weil: Geld). Mein Lieblingspodcast des Jahres, Scambit, ist so entstanden, beauftragt vom WDR und Funk, produziert von der Berliner Produktionsfirma ACB Stories. 

Scambit erzählt dem Pitch nach die Geschichte des angeblichen Schachbetrugs von Hans Niemann im Duell mit Magnus Carlsen, der durch die Spekulation um Analkugen Internet-Notoriety erlangt hat. 

Eigentlich ist der Podcast, der angenehm kurze vier Folgen hat, aber ein allgemeiner Überblick darüber, wie sich die Schachwelt in den letzten Jahren unter dem Einfluss von Online-Gaming, Pandemie und The Queen’s Gambit verändert hat. Das ist nicht nur interessant, weil es ein nerdiges Rabbit-Hole ist, sondern auch, weil Yves Bellinghausen es einfach verdammt unterhaltsam erzählt, inklusive Selbstversuchen und Gastauftritten. Scambit ist Podcast unter dem Einfluss von YouTube-Kultur. Was für manche abschreckend wirken mag, finde ich genau richtig – und ich wünsche mir mehr davon.

Auch einige andere Produktionen, die ich mochte, sind in solchen ARD-Modellen entstanden, zum Beispiel Dark Matters (RBB/SWR/BosePark), dessen hervorstechendstes Merkmal sicher die Doppelfolgen sind – eine liefert klassisches journalistisches Storytelling, die andere ein Hintergrund-Interview dazu. Oder auch das Hörspiel Mia Insomnia von Gregor Schmalzried, in dem die Hauptfigur Podcasterin und Fan von alten Kassetten-Hörspielen ist, also maximale Audio-Liebhaberei mitbringt.

Teurer Wohnen: Explaining Is Not A Crime

Teurer Wohnen, dieses Jahr bereits mit mehreren Preisen dekoriert, ist ebenfalls eine RBB-Koproduktion mit detektor.fm, aber begeistert hat mich daran etwas anderes. Teurer Wohnen ist richtig guter Erklärjournalismus, und es gibt kaum etwas was ich besser finde. Immer wieder kommen auf dem Podcast-Markt Produktionen breitbeinig daher und brüsten sich mit ihrer investigativen Haltung. Sie wollen Skandale aufdecken oder zum Kern von Sachverhalten vordringen, aber scheitern dabei oft an ihrem eigenen Anspruch.

Das trifft meiner Ansicht nach auch auf die beiden Produktionen der neuen Tamtam-Firma TRZ Media aus diesem Jahr zu. Sowohl Boys Club (über Axel Springer, produziert mit Spotify) als auch Hitze (über die Letzte Generation, produziert mit dem RBB) versprechen in gewisser Weise, richtig nah an ein ohnehin brisantes Thema ranzugehen, um seine Signifikanz besser zu verstehen, eiern aber am Ende in vagen Conclusios herum. 

Teurer Wohnen hingegen investiert sehr viel Zeit, um seinen Hörer:innen ein scheinbar unfassbar dröges Thema, den deutschen Immobilienmarkt, sehr genau zu erklären. Das Ergebnis: Man ist hinterher allgemein schlauer und hat anhand der konkreten Beispiele gelernt, welche Auswirkungen eben dieses dröge Thema jeden Tag auf das Leben vieler Menschen hat – vielleicht sogar auf mich selbst. Wenn ich mir einen Podcast mit dem entsprechenden Budget für mich selbst backen könnte, würde er jedenfalls mit Sicherheit irgendwas erklären. 

Diese Art von Explainer Journalism macht Planet Money ja seit Jahren sehr erfolgreich. Der Dreiteiler, in dem das Team eine Episode von generativer KI schreiben und produzieren lässt, gehört deswegen auch zu den besten Stücken zu KI, die ich dieses Jahr gehört habe. Während der öffentlich-rechtliche Rundfunk 2023 nicht nur zwei, sondern drei fast identisch formatierte Podcasts zum Thema Künstlche Intelligenz gelauncht hat. Da kann man die Gebührenfeinde manchmal doch verstehen.

Storytelling: Falle und Werkzeug

Ich glaube, dass sich in der Gegenüberstellung von den TRZ-Podcasts und Produktionen wie Teurer Wohnen oder Scambit ein zentrales Problem der momentanen Podcastlandschaft manifestiert. Viele Journalist:innen wollen Storytelling nach einem bestimmten Modell machen, egal ob das Thema, das sie sich ausgesucht haben, wirklich eine dafür geeignete Story hat. Wenn sich keine Dramaturgie mit Wendepunkten und immer neuen Überraschungen stricken lässt, ist man mit einer reportagenhaften oder erklärenden Erzählhaltung manchmal besser dran.

Dann kann man sich als journalistische Erzähler:innen-Figur aber natürlich auch leider nicht so in den Mittelpunkt stellen, das ist aber ohnehin etwas, wovon ich nächstes Jahr weniger hören möchte. Dark Avenger habe ich unter anderem deswegen abgebroche. Liebe Kolleg:innen, ich möchte eure alten Nachdenk-Meetings und Sprachnachrichten nicht in meinem Podcast, wenn sie nichts zur Geschichte beitragen. Davon habe ich jeden Tag auch so schon genug im Büro.

Dafür lohnt auch der Blick in die USA, die übrigens in Sachen Podcasts meiner Ansicht nach nicht mehr das leuchtende Vorbild sind, das sie mal waren, was sicher auch am Podcast-Blutbad liegt. The Retrievals (Serial Productions) gehört nicht zu meinen Lieblingspodcasts des Jahres, aber er ist natürlich trotzdem hervorragend produziert. Eine erschreckende, aber eigentlich einfache Geschichte (Frauen erleiden in einer Kinderwunsch-Klinik bei der Ei-Entnahme schreckliche Schmerzen, weil eine der Krankenschwestern Betäubungsmittel stiehlt) wird in einer Art Rashomon-Prinzip aus immer wieder neuen Blickwinkeln betrachtet, vor- und zurückgespult, um eine zentrale These zu erörtern: Der Gesellschaft sind Leiden von Frauen im Wesentlichen egal. Diese These steht bereits am Ende der ersten Folge, aber sie wird durch die Dramaturgie immer wieder neu zementiert – wenn etwa die Hintergrundgeschichte der Krankenschwester oder das Urteil der Richterin enthüllt wird. Das Große entsteht aus dem Kleinen, ohne dass es immer wieder behauptet werden muss.

Ghost Story (Wondery) ist im Kern ebenfalls keine riesige Geschichte. Ein Mordfall aus den 1930er Jahren und eine Reihe von Spukgeschichten über ein Haus in London stehen am Anfang des Podcasts, größere Gedanken über die Geschichten, die wir über unsere Familien erzählen, an seinem Ende. Vieles von dem, was dazwischen passiert, ist völlig aufgeblasener Quatsch – vor allem an den Spukgeschichten wird viel zu lange festgehalten (angeblich, weil sie auch als Metapher fungieren, aber das wäre auch ohne Séance möglich gewesen). Das Entscheidende ist: Der Podcast ist so gut erzählt, dass er einen wie ein guter Page Turner einfach durchgängig am Haken hält. Das ist mir noch einmal klarer geworden, als ich die diese Woche erschienene Bonus-Episode gehört habe, in der die Macher:innen ein stückweit berichten, was sie alles weggelassen haben, um ihre Story besser zu formen.

Weitere Gedanken

  • Schönster neuer Laberpodcast des Jahres war für mich Anja Rützels Verbrechen am Fernsehen (Studio Bummens, mein Interview mit Anja). Er beweist für mich einerseits, dass man erfolgreich und unterhaltsam Medienkritik als Podcast betreiben kann, und, dass Promi-Interviews einfach viel interessanter sind, wenn man etwas hat, worüber man redet, was nicht die Promis selbst sind.
  • Den PodcastPodcast (detektor.fm) als tägliches Podcast-Entdeckungsformat finde ich eine tolle Idee (nicht nur, weil ich selbst dafür geschrieben habe), die meinen Horizont sehr erweitert hat. Der Über Podcast (DLF) steckt hingegen trotz einiger guter Folgen mit Podcast-Profis leider etwas in einer Krise, aus der er sich hoffentlich wieder befreien kann. Nicht zu verwechseln übrigens auch mit Übers Podcasten, dessen Inhalt ich wertvoll finde, aber mit dessen Machart ich nach wie vor etwas kämpfe.
  • 50 MPH ist die Art Projekt, in das ich mich beinahe gegen meinen Willen, verlieben musste, einfach weil ich detaillierte Oral Historys über die Entstehung von Filmen so mag und Speed für mich, wie für Host Kris Tapley, einfach ein wichtiger Aufwachs-Film war. Große Inspiration für die LÄUFT-Folge zu X-Base.
  • Da ich immer auch auf die formelle Seite von Podcasts schaue: Future Tense Fiction fand ich ein schönes Experiment von Slate, Fiction und Non-Fiction in einem Podcast zu verbinden. Und das Audiobuch The Best Audio Storytelling 2022 (Pushkin) war ein tapferer neuer Versuch, Audio-Kuration zu betreiben. Ich bin gespannt, ob es erfolgreich genug war, dass sie es nächstes Jahr wieder machen.
  • Schließlich habe ich, wie fast immer, eine This American Life Folge, die ich besonders mochte: Math or Magic. Es geht um Liebe. Eine perfekte Folge für einen Winterspaziergang zwischen den Jahren.

LÄUFT geht übrigens 2024 weiter, und wer weiß: vielleicht schaffe ich es sogar, beruflich noch mehr mit Podcasts zu tun zu haben. Ich war dieses Jahr schon einmal knapp davor, am Ende hat es aber leider nicht geklappt. Aber falls da draußen jemand einen Podcast-Redakteur mit Hosting- und Producing-Erfahrung sucht: You know where to find me.

Titelbild: DALL-E

Turtles of the Mind

Die “Teenage Mutant Hero Turtles” (wie sie hierzulande hießen) waren einer der ersten großen Popkultur-Importe, der mir etwas bedeutete. Um 1990 schwappten sie nach Deutschland, und ich war großer Fan. Ich zeichnete, mit Freunden, nicht nur einen Comic mit den Turtles, sondern eine ganze Serie über mehrere Jahre. Ich erinnere mich sehr genau daran, wie ich meine Eltern so lange anbettelte, bis sie mir einen kleinen Spiegel kauften, auf dem die Turtles eingeprägt waren.

Woher kam diese Leidenschaft? Ganz sicher nicht aus den Live-Action-Kinofilmen (1990-93), für die ich in den Augen meiner Eltern noch viel zu jung war. Ich las zwar viel über diese Filme, in Zeitschriften wie Limit und Micky Maus, aber selbst gesehen habe ich sie erst viele Jahre später (und absurderweise keinerlei Erinnerung daran). 

Eine große Inspiration kam auf jeden Fall aus der Animationsserie (1987ff.), von der ich auf jeden Fall einige wenige Episoden gesehen habe. Sie hat definitiv den Stil meiner Turtles-Zeichnungen beeinflusst und ich kannte daher den Titelsong sowie die Persönlichkeiten der vier Hauptcharaktere. Aber ich durfte oder konnte die Serie nie ausführlich genug sehen, um wirklich tief in die Turtles-Mythologie einzusteigen. Mein Einblick ins Turtles-Universum war immer nur extrem oberflächlich.

Keine diegetische Wahrheit

Die Hauptquelle für meine Vorstellung von der Welt der vier Schildkröten-Helden war also meine eigene Fantasie. Wenn ich meine Comics zeichnete oder mit meiner spärlichen Auswahl an Action-Figuren spielte (ich hatte zwei von vier Turtles und ein paar Nebencharaktere), dachte ich mir auf eine Weise Geschichten aus, wie sie sich nur Kinder ausdenken können. Alles Unbekannte über Charaktere und Settings, wird einfach irgendwie ergänzt. Es gibt keine Vorstellung von einer diegetischen, durch irgendetwas oder irgendjemand festgelegten “Wahrheit”. Was zählt, sind die Dinge, die man selbst für wichtig hielt. Turtles of the Mind.

Über dreißig Jahre später merke ich, dass ich von dieser damaligen Version der Turtles nie ganz weggekommen bin. Auch, weil ich mich nie wieder tief in ihre Welt eingegraben habe. Ich habe ein paar der neueren IDW-Comics von Kevin Eastman gelesen, ich habe den Film TMNT von 2007 gesehen, aber nicht die dazugehörige Serie und erst recht nicht die Michael-Bay-Realverfilmungen. TMNT erschien mir in Design und Gefühl noch relativ nah dran an den Turtles meiner Kindheit. Ich habe mir 2014 eine Donatello-Figur gekauft (Donatello ist übrigens natürlich der beste Turtle), die der alten relativ ähnlich sah. Jetzt wohnt er im Spielhaus meines Kindes und heißt nur noch “der Turtle”.

Der Trailer zum neuen Film Mutant Mayhem, der diese Woche gestartet ist, scheint aber so gar nicht zu meinem inneren Bild von den Turtles zu passen. Ich glaube, dass es daran liegt, dass ich die Turtles aus Kinderaugen, trotz ihres Namens, nie als Teenager wahrgenommen habe, sondern als alterslose Erwachsene. Design und Marketing des von Seth Rogen mitgeschriebenen Films stellen aber genau diese Eigenschaft sehr nach vorne. Eventuell ist es das, was mich abschreckt. Aber da die kritische Rezeption des Films gut ist, werde ich ihn mir wohl trotzdem ansehen. Mal sehen, wie sehr sich innere Bilder überschreiben lassen.

Bild: Alexander Gajic (7 Jahre)

Quantifizierter Kulturkonsum

“Quantified self” – dieser Begriff war vor zehn bis 15 Jahren der heißeste Scheiß. Mithilfe von “Wearables” automatisch Daten über den eigenen Körper zu sammeln und daraus Erkenntnisse zu ziehen, galt vielen als Schlüssel zum Glück. Was ist daraus geworden? Apps von Krankenkassen verteilen Goodies basierend auf den Schritten, die man jeden Tag geht.

Allerdings kommt in den Diskussionen um Quantified Self nie auf, dass man auch ganz andere Dinge tracken kann. Ich tracke Kultur. Das heißt: Ich führe Buch darüber, welche Kultur ich wahrnehme und “konsumiere”. Das habe ich bereits lange vor sozialen Netzwerken und Devices gemacht. Bereits als Tween habe ich jahrelang jede Woche persönliche Hitparaden erstellt und diese jedes halbe Jahr ausgewertet. Ich habe Lese- und Sichtungs-Listen abgearbeitet und so versucht, mein kulturelles Kapital zu festigen.

Aber seit etwa 20 Jahren bin ich zu einer generellen Strategie von “alles aufschreiben und kurz bewerten” übergegangen. Einige Websites haben diese Aufgabe zusätzlich erleichtert. Ich tracke heute also die (filebasierte) Musik, die ich höre (seit 2005 bei last.fm); die Bücher, die ich lese (seit 2012 bei Goodreads, zuvor seit 2002 per Tabelle) und die Filme, die ich schaue (bei Letterboxd, seit 2003 per Tabelle, die ich in Letterboxd importieren konnte). Auch über meine Konzertbesuche führe ich Buch. Und über die App Timehop erlebe ich täglich die Vergangenheit meiner eigenen Social-Media-Posts. Mein Streak ist seit 2017 ungebrochen.

Hilfreiche Statistiken

Ich bin nicht alleine mit diesem Verhalten, aber ich frage mich auch, welche Effekte es hat. Auf jeden Fall hat diese Art von quantifiziertem Kulturkonsum einige Vorteile, wenn man bereit ist, sich mit den eigenen Daten auseinanderzusetzen. An der reinen Anzahl meiner “Scrobbles”, also meiner gehörten Musik, kann man zum Beispiel sehr gut ablesen, in welchen Jahren ich alleine gelebt habe (2010-2011), wie ab 2012 langsam Podcasts den Siegeszug über Musik mit meiner “Ohrenzeit” antraten und in welchem Jahr mein Kind geboren wurde (2018).

So ähnlich sieht es auch auf meinem Letterboxd-Profil aus. 2011-2013 habe ich in der Filmredaktion 3sat gearbeitet, wie man unschwer erkennen kann. Mithilfe der Tags, die sich seit 20 Jahren vergebe, könnte ich außerdem sehr gut nachvollziehen, wie sich bei mir der Umstieg von physischen auf digitale Medien vollzog.

Besonders hilfreich fand ich meine Goodreads-Daten dieses Jahr, als ich mal schauen wollte, wie es eigentlich mit dem Geschlechterverhältnis bei meinen gelesenen Büchern aussieht. Gefühlt habe ich Bücher nie danach ausgewählt, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurden. Bittererweise zeigen die Daten aber, dass ich selbst in Jahren, die sich für mich einigermaßen paritätisch anfühlten, ungefähr doppelt so viele Bücher von Männern wie von Frauen gelesen habe. (Ich korrigiere das dieses Jahr sehr bewusst, bin aber auch froh, dass man im Diagramm immerhin eine positive Tendenz sieht.)

Ein bisschen ist das quantifizieren von Kultur wie automatisiertes Tagebuchschreiben. Und es hilft manchmal, sich selbst zu checken. Habe ich die Songs, mit denen ich mich schmücke, auch wirklich am meisten gehört? Oder habe ich vielleicht doch eine geheime Schwäche für einen ganz anderen Künstler? Ganz abgesehen davon, dass es das Erstellen von Lieblingslisten am Ende jedes Jahres deutlich erleichert.

Wettbewerb und schlechte Daten

Die negativen Seiten liegen (für mich) ebenfalls auf der Hand. Tracking schafft Vergleichbarkeit. Für einen neidischen Scanner wie mich definitiv ein Problem. Habe ich dieses Jahr wirklich nur 30 Filme gesehen? Früher habe ich fünfmal so viel geschafft. Daten sagen auch nichts über die Qualität des kulturellen Genusses aus. Habe ich die vielen Songs, die ich dieses Jahr gehört habe, auch bewusst gehört? Oder dudelten sie im Hintergrund vor sich hin, während ich mit anderen Dingen beschäftigt war? Diese Art von “schlechten” Daten kennen viele aus ihren “Spotify Wrapped”-Listen, in denen Workout- oder Kinderlieder jedes Jahr die ersten Plätze einnehmen.

Das nervigste aber ist, dass Tracking die Gamification bzw. Workification von Kulturkonsum befeuert. Wenn man Kulturkonsum in Zahlen übersetzt, verbindet man schnell automatisch Ziele damit. Statt Genuss geht es dann plötzlich darum, etwas zu schaffen. 

Goodreads zum Beispiel fordert einen jedes Jahr dazu auf, eine “Reading Challenge” festzulegen. Der ursprüngliche Hintergrundgedanke ist vermutlich, dass genug Leute sich sagen “Ich sollte wieder mehr lesen” und es dann nicht tun. Die haben mit einem selbstgesetzten Ziel einen Ansporn. Aber man kann es auch zur performativen Farce werden lassen.

Crush Your Reading Challenge

Denn im Oktober schickt Goodreads jedes Jahr eine E-Mail mit dem Betreff “Short Books to Crush Your Reading Challenge” raus. Ein schönes Beispiel dafür, wie sich alleine durch die Auswahl der “richtigen” KPI mit Statistiken bescheißen lässt. Wenn ich nur kurze Bücher lese, kann ich nominell ein höheres Ziel erreichen. Aber was habe ich dadurch für mich gewonnen?

Ich gebe zu: Ich kann mich diesem künstlichen Wettbewerb nicht ganz entziehen. Ich bin im, Herzen ein kompetitiver Mensch und will irgendwie bestehen können, also höre, lese und gucke ich mich manchmal durch die Welt, einfach weil ich das Gefühl habe, ich muss. Auf der anderem Seite, bereue ich es aber auch selten. Denn Filme gucken, lesen, Musik hören oder Podcast hören ist fast immer besser als die Alternative, etwa endloses Doomscrolling.

Aber es schmerzt halt dann auch immer, wenn ich das Gefühl habe, ich tue gerade nichts Messbares. Ich muss mich manchmal sehr zwingen, mir selbst Erlaubnis zu erteilen, Dinge zu machen, die hinterher nirgendwo festgehalten sind. Ich war schon immer schlecht im Entspannen, unter anderem, weil es sich so schlecht tracken lässt.

Immerhin: Es gibt eine Kulturform, die ich nicht tracke: Serien. Hier ist es mir meist ziemlich egal, wieviele Folgen oder Staffeln ich in welchem Zeitraum “geschafft” habe (“muss ich gucken, weil ich drüber schreiben/reden will” ist die Ausnahme). Insofern sind Serien vermutlich die entspannteste Form von Kultur für mich. Das ist ja auch eine Erkenntnis.

Image by Mahesh Patel from Pixabay

Mein Leben als Scanner

Vor einige Zeit schickte mir ein Freund diesen Tweet mit den Worten “Wie ich auf dein Leben blicke”.

Das war ein schräger Moment. Denn einerseits habe ich mich in der Aussage des Tweets völlig wiedergefunden. Andererseits war es merkwürdig, diese Aussage von einem Freund gespiegelt zu bekommen.

Denn obwohl ich öfter rückgemeldet bekomme, in privaten wie beruflichen Kontexten, dass ich “so viele Sachen mache”, entspricht es in ganz vielen Situationen überhaupt nicht meiner eigenen Wahrnehmung. Im Gegenteil: Ich komme mir sehr häufig so vor, als würde ich nicht annähernd genug tun. Was der Tweet ja wiederum auch ein bisschen als Vibe hat.

Um all das soll es in diesem Text gehen. Wie immer vor allem deswegen, weil mich das Thema beschäftigt, und weil ich auch gerne persönliche Texte von anderen Leuten lese. Und wie immer schwingt bei mir die Angst mit, dass der Text als Selbst-Grandifizierung gelesen werden könnte. Aber damit muss ich wohl leben.

Multipotentialite

Ich interessiere mich für viele Sachen. Das war immer schon so. Auch als Kind schon. Es gibt auch Dinge, die mich nicht interessieren und die ich mir auch sehr schlecht vorstellen und merken kann, zum Beispiel alles, was mit Mikrobiologie und Chemie zu tun hat. Aber ansonsten kann ich mich von Mathematik bis Theologie, von Musik bis Pädagogik für viele verschiedene Felder begeistern. Ich habe immer mal versucht, eine Gemeinsamkeit meiner Interessen zu finden, aber alle Begriffe, die passen würden – Wirklichkeit, zum Beispiel – waren dann schon wieder so allgemein, dass man sie auch weglassen könnte.

Immer wieder entdecke ich Themen oder Aktivitäten, die mich mehr faszinieren als andere. Auf diese lege ich dann einen stärkeren Fokus, lese dazu, probiere aus. In den vergangenen zehn Jahren waren das Dinge wie vernetztes Erzählen in “Cinematic Universes”, die Potenziale von 3D und Virtual Reality oder aktuell Eurodance in den 90ern und natürlich Generative KI. Aber anders als andere Menschen das vielleicht tun würden, mache ich diese Themen nie zu meinem Spezialgebiet. Ich werde darin einigermaßen literate, könnte also Gespräche auf einem gehobenen Niveau dazu führen (und mache das auch manchmal) oder Artikel für ein Laienpublikum schreiben (was ich auch manchmal mache), aber wäre zum Beispiel nicht in der Lage, ein wissenschaftliches Paper dazu zu schreiben (schon versucht und gescheitert).

Der Grund ist, dass selbst diese Fokusthemen nie die einzigen werden, die mich beschäftigen. Ich habe immer noch ein Dutzend andere Eisen im Feuer, die ebenfalls meine Aufmerksamkeit wollen. Außerdem finde ich nach einiger Zeit der Beschäftigung meistens ein neues Thema, das mich mehr interessiert und dass das alte Thema weitgehend verdrängt. Aber auch nie so ganz, weshalb bei mir immer wieder alte Leidenschaften wieder aufflammen.

Vor ein paar Jahren habe ich endlich festgestellt, dass es für diesen Persönlichkeitszug Fachausdrücke gibt. Der hochgestochenste, den ich gehört habe, lautet “Multipotentialite” – also: Person mit mehreren Potenzialen. Er stammt (in seiner jetzigen Bedeutung) aus einem TED-Talk von Emilie Wapnick und ist auch eindeutig einer Kultur entwachsen, in der es vor allem um Geschäftsideen geht.

Der geläufigere Ausdruck, den ich auch viel besser finde und der deswegen auch das Motiv dieses Textes bildet, ist “Scanner-Persönlichkeit”. Im Bild eines Cyborgs, der ständig seine Umgebung nach interessanten Dingen absucht und diese analysiert, kann ich mich gut wiederfinden. Es gefällt mir auch besser als andere Begriffe wie “Vielbegabt” oder “Generaldilletant”, die mir jeweils zu elitär oder zu stümperhaft klingen. Eventuell würde ich noch “Hans Dampf in allen Gassen” oder den englischen “Jack of All Trades (But Master of None)” akzeptieren.

Keine Berufung

Seitdem ich gelernt habe, dass ich anscheinend eine Scanner-Persönlichkeit bin, hat sich mir einiges als neutrale Eigenschaft erschlossen, das mir zuvor immer wie ein Fehler vorkam. Im Wesentlichen, dass ich nie das eine Ding gefunden habe, was mich mehr begeistert als alles andere, und dem ich große Teile meiner Existenz voller Drive widmen möchte. Nicht mal Dinge, die mir immer schon sehr wichtig waren, wie Journalismus oder Film, oder persönlichere Werte wie Familie.

Die kognitive Dissonanz war bei mir vorher immer dadurch entstanden, dass die landläufige Erzählung erfolgreicher und/oder zufriedener Menschen darin besteht, dass diese Menschen irgendwann ihre Berufung gefunden haben. Dieser folgen sie dann. Sie geben nicht auf und irgendwann bewegen sie damit etwas. Entweder in der Welt oder für sich selbst. Der Podcast The Moment, in den ich mal reingehört habe, dreht sich beispielsweise nur um dieses Narrativ: Wann hast du deine Berufung erkannt? Und wie hast du dein Leben ausgerichtet, damit du ihr folgen konntest?

Das Gute

Nach einer ersten Periode des langsamen Verstehens (von Akzeptanz spreche ich mal lieber nicht, siehe unten) habe ich immer öfter versucht, den scheinbaren Fehler in meinem System als Stärke zu begreifen. In meinem spezifischen Fall ist es so, dass ich nicht nur ein Scanner bin, sondern auch noch extrovertiert. Das heißt: Es ist mir nicht nur ein Bedürfnis, mich regelmäßig mit neuen Dingen zu beschäftigen, es fällt mir auch noch leicht, Leute anzusprechen.

Diese Kombination erlaubt mir tendenziell, schnell Verbindungen herzustellen, viele neue Sachen auszuprobieren und mir darüber nicht groß den Kopf zerbrechen zu müssen. Das ist prinzipiell super. Mein Scanner-Blick hilft mir auch enorm beim Kreativ sein, denn viel Kreativität besteht im Kern darin, eigentlich disparate Ideen miteinander zu verknüpfen. (Ich bin daher auch selten “aus dem Nichts” kreativ, sondern brauche Dinge, die ich verbinden kann.)

Ein weiterer Punkt ist, dass ich, zumindest meistens, gut darin bin, Neues anzunehmen. Nicht unbedingt im Alltag, da bin ich schon aus Kapazitätsgründen ein ziemlicher Gewohnheitsmensch (s.u.), aber eben in meinen Interessensgebieten. Ich erlebe deswegen selten, dass mir etwas nicht mehr gefällt, weil es nicht mehr so ist, wie früher. Das Interesse am Neuen überwiegt meist gegenüber der Sehnsucht nach dem Vertrauten.

Insofern habe ich auch (zurzeit noch) keine Angst um meinen Job, selbst wenn der jetzige irgendwann nicht mehr existieren sollte. Ich hoffe, dass ich mir dann einfach etwas Neues suchen kann (oder bereits gesucht habe) und dass meine Kompetenzen immer wichtiger bleiben werden als mein spezifisches Fachwissen. Denn ich könnte ja auch theoretisch jederzeit ein Interesse an einem neuen Fachgebiet entwickeln.

In beruflichen Kontexten war deswegen irgendwann auch die Selbstsicherheit da, meine Persönlichkeit als Vorteil und nicht (wie oft zuvor) als Nachteil zu verkaufen. Wenn ich mich bewerbe, betone ich inzwischen, dass ich ein Hansdampf in allen Gassen bin (auch wenn es nicht immer zum Erfolg führt). In meinem aktuellen Job bitte ich gezielt um Aufgaben, die sich regelmäßig wandeln. Ich habe meinen Arbeitsalltag diversifiziert und arbeite jetzt sowohl festangestellt als auch freiberuflich, um genug Abwechslung zu haben. Und ich arbeite in meiner Branche nach wie vor am liebsten nicht als Autor, sondern als Redakteur – wo ich verschiedene Fäden zusammenhalten kann und auf die Arbeit von anderen anknüpfe.

… und das Anstrengende

Ich weiß also endlich, was und wer ich bin. Kann ja nichts mehr schiefgehen. Pffft! Dass ich tatsächlich eine Scanner-Persönlichkeit habe, sehe ich daran, dass ich auch sämtliche Nachteile mit mir herumtrage. Damit meine ich nicht nur, dass meine Vorlieben manchmal nicht ins Narrativ passen, wie oben beschrieben, und zwar nicht nur in Karrieredingen, auch im Privaten: Ich habe zum Beispiel eher viele lockere Freunde als wenige enge – was manchmal toll ist und manchmal weh tut, zum Beispiel, wenn ich mich deswegen einsam fühle.

Aus dem Leben als Scanner entwickeln sich aber auch schlechte Angewohnheiten. Weil ich gewohnt bin, dass sich mir Dinge schnell erschließen, verlasse ich mich darauf manchmal auch zu sehr. Ich gehe nicht davon aus, dass ich viel Arbeit investieren muss, damit etwas einigermaßen gut wird, und stolpere dann, wenn das Ergebnis nicht den geforderten Ansprüchen (von mir oder von anderen) genügt. Das ist mir diverse Male auf unterschiedliche Arten zum Verhängnis geworden – und es wird härter, je mehr ich familiär gebunden bin und Fehleinschätzungen nicht mehr ohne Weiteres mit viel Zeiteinsatz ausbügeln kann, wie früher. (Was ich auch schon doof fand.)

Das Schmerzhafteste aber, dass anscheinend alle Scanner gemeinsam haben, ist, dass es sich sehr oft eben doch so anfühlt, als wäre man nicht nur in einzelnen Bereichen nie gut genug, um etwas wert zu sein, sondern als würde man auch vieles vernachlässigen, was ebenfalls wichtig wäre. Also das, was auch der Tweet am Anfang des Textes zum Ausdruck bringt. Es gibt so viele Sachen, die mich interessieren, dass ich selten das Gefühl habe, auch nur einer davon gerecht zu werden. Dann sehe ich, was für tolle Dinge andere Menschen, die ich bewundere, in diesem Feld anstellen, und fühle mich sehr schnell inadäquat und wertlos. Obwohl ich weiß, dass diese Leute sich – anders als ich – auf diese Sache konzentrieren und wahrscheinlich viel mehr Arbeit investiert haben als ich.

Noch schlimmer ist, dass es natürlich auch andere Scanner gibt, die mir zu bestimmten Zeitpunkten einfach immer wieder viel krasser vorkommen, als ich selbst. Die in allen ihren vielen Themengebieten exzellent bewandert zu sein scheinen. Meistens übersehe ich dabei, dass diese Menschen dafür andere Dinge nicht haben. Vollzeitjobs, zum Beispiel, oder Kinder. Die aber natürlich in meinem Scanner-Portfolio auch eine Rolle spielen und beide sehr bewusst gewählt sind. Es ist ein Elend, das sehr häufig in greinendem Selbstmitleid endet.

Wie machst du das?

Deswegen jetzt auch genug davon. Wie jeder Persönlichkeitstyp hat auch meiner Vor- und Nachteile. Das ist halt so. Ich möchte lieber damit enden, alljenen eine Antwort zu geben, die das Ergebnis dieses Persönlichkeitstyps sehen und – was mir auch immer wieder passiert – mich fragen, “wie ich das überhaupt hinkriege” (was ich natürlich in schwächeren Momenten lächerlich finde, weil ich ja das Gefühl habe, viel zu wenig zu tun). Vielleicht hilft es anderen Scannern, die sich gerade selbst erkennen, bei der weiteren Orientierung.

  1. Akzeptieren. Wie oben geschrieben: Ich habe ganz sicher keinen völligen Zen-Zustand der Selbstakzeptanz erreicht. Aber ich habe eingesehen, dass meine Hansdampfigkeit bei mir ein Feature und kein Bug ist. Wenn ich mich in wichtigen Momenten daran erinnere, hilft mir das enorm. Ich kann dann anders bewerten, wie eine Situation entstanden ist, und wie ich sie vielleicht zu meinen Gunsten nutzen kann, statt dagegen zu arbeiten.
  2. Effizienz. Ich schaffe es nur deswegen, so viele Interessen zu jonglieren, weil ich mein Leben ziemlich durchgetaktet habe. Ich versuche, freie Zeit, wann immer möglich, so effizient wie möglich zu nutzen, um meinen Interessen nachzugehen. Das war schon so, bevor ich ein Kind hatte, aber seitdem ist es natürlich noch krasser geworden. (Beispiel: Beim Gehen Podcasthören und beim Hinsetzen in der S-Bahn auf Musik hören und Lesen switchen, auch wenn der Podcast noch nicht fertig ist). 
  3. Disziplin. Gleichzeitig versuche ich, aus Dingen, die mir wichtig sind, Gewohnheiten zu machen, an die ich mich auch vergleichsweise diszipliniert halte (Beispiel: Vorm Schlafengehen lesen). Führt mich das manchmal in eine Kopf-Explodier-Selbstoptimierungsfalle? Auf jeden Fall. Leider.
  4. Bewusste Entscheidungen treffen. Um zu verhindern, dass ich zwischen meinen Interessen zerrieben werde, zum Beispiel wenn ich, wie eben beschrieben, das Gefühl habe, mein Kopf explodiert, versuche ich in solchen Momenten, bewusste Entscheidungen für oder gegen etwas zu treffen. “Ich konzentriere mich jetzt auf diese Sache, denn sie ist jetzt das Wichtigste, und ich lasse alles andere weg.” Dieser Zustand hält nie lange, die anderen Dinge kriechen im Laufe der Zeit immer wieder herein, aber es hilft für den Moment enorm.
  5. Es gibt für alles eine Zeit. Das ist die Lehre, die ich am meisten einfach durch reines Älterwerden ziehen konnte. Wenn ich an Punkt 4 angelangt bin, weiß ich inzwischen: Es ist okay, mich jetzt von einigen Dingen abzuwenden, denn es wird einen Zeitpunkt in der Zukunft geben, zu dem sie wieder mehr in meinen Fokus rücken, vielleicht sogar mehr als zuvor. Dann lässt sich neu entscheiden, ob ich jetzt mehr damit machen will.

    Ich habe zum Beispiel 2010 meinen ersten journalistischen Podcast produziert. Jetzt, 13 Jahre später, mache ich es endlich auch beruflich. Beiße ich mir heute in den Hintern, weil ich mich damals nicht entschieden habe, alles auf eine Karte zu setzen und zum Podcast-Profi zu werden, um heute ein erfolgreicher Veteran zu sein? Natürlich!!! Aber ich konnte eben auch jetzt noch einsteigen, mit dem Vertrauen von Leuten im Rücken, die seit 13 Jahren in anderen Kontexten mit mir zusammengearbeitet haben. Und ich habe 13 Jahre lang ganz viele andere tolle berufliche Erfahrungen sammeln können, die mich im Jobmarkt heute genauso ausmachen.
Noch was mit Scannern und Kopf explodieren (© Constantin)

Was will ich mit all dem sagen? Manchmal ist es verdammt toll, eine Scanner-Persönlichkeit zu sein. Manchmal tut es weh. Ganz oft fühle ich mich dazu getrieben, etwas zu tun, aber es ist eben nicht immer die gleiche Sache. Es tut mir leid, wenn ich Leute damit manchmal verwirre. Ich hoffe, dass ich nie wieder jemanden dadurch verletze. Ich lerne jeden Tag, ein bisschen besser damit umzugehen.

Titelbild: Midjourney & Me

Der X-Faktor: Über das Arbeiten mit Midjourney

Im April wollte ich wissen, was dran ist am Hype. Ich hatte mit Chat-GPT rumgespielt, aber mich noch nicht so richtig getraut, den Bot im Arbeitsalltag einzusetzen (mit Ausnahme eines Brainstormings hier und da). Aber das, was Chat-GPT kann – Texte synthetisieren – kann ich ja selbst auch, also war es zwar praktisch, hatte aber wenig Wow-Faktor. Deshalb wollte ich dringend auch ausprobieren wie das andere große Generative KI-Ding funktioniert, und kaufte mir Guthaben beim Bildgenerator Midjourney.

Midjourney, da fühle ich mich Michael Marshall Smith sehr verbunden (der ohnehin mit die besten Texte zu diesem Thema aus Kreativensicht schreibt, nachdenklich und abwägend ohne Businessfokus), ist die ideale Technologie für Leute wie mich. Die Engine generiert Bilder aus Textprompts, sie schafft also etwas, was ich nie selbst könnte (beeindruckende Bilder), aus etwas, in dem ich einigermaßen gut bin (die richtigen Worte finden).

Midjourney Schritt für Schritt

Wer noch nie mit Midjourney gearbeitet hat: so läuft es ab. Man meldet sich auf einem Discordserver an, kauft ein gewisses Rechenguthaben (derzeit kosten rund 200 “Prompts” etwa 10 Euro im Monat) und dann kann man entweder in öffentlichen Channels oder in Zwiesprache mit dem Midjourney-Bot mit dem Generieren anfangen. Mit dem Befehl “/imagine” beschreibt man dem Computer, welches Bild man gerne generieren möchte. Nach etwa einer Minute bekommt man vier verschiedene Motive zur Auswahl.

Mit diesen vier Bildern kann man nun weiter arbeiten und hat drei Möglichkeiten: 1) Alles verwerfen und vier neue Bilder generieren. 2) Von einzelnen Bildern Varianten generieren, bei denen Bildkomposition und Stimmung erhalten bleiben aber Details sich ändern. 3) Einzelne Bilder direkt großrechnen (“upscale”), so dass man sie hochaufgelöst herunterladen kann.

Prompt up the Volume

Midjourney-Prompts, das habe ich durch die Beschäftigung mit den Werken anderer gelernt, können viele verschiedene Formen haben, aber die meisten ähneln inzwischen ungefähr dieser Formel:

[Stil/Medium] eines [Motiv], [weitere Deskriptoren zur Anmutung]

Das Titelbild dieses Beitrags, zum Beispiel, hatte folgenden Prompt:

Candid snapshot of a bald man in his 30s, short cropped beard, and a robot working together, smiling, 1990s sitcom vibes

Man sieht dabei schon, dass die KI nicht alle Wörter gleich behandelt. Die 1990s sitcom vibes hat es sehr gut hinbekommen (vor allem am Pullover zu erkennen) und die Figur hat tatsächlich eine Glatze und einen kurz geschnittenen Bart (wie ich, ich finde es höchst amüsant, diese Pseudo-Avatare von mir in den Bildern auftauchen zu lassen). Aber das Bild ist kein “Candid Snapshot”, es wirkt sehr posiert, und der Mann und der Roboter arbeiten auch nicht wirklich zusammen. Es sieht eher aus, als wäre der Mann ein Bastler à la Nummer 5 lebt.

Und das ist das Besondere.

Katzen und Laser

Midjourney kann Worte in Bilder übersetzen. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich mit Hilfe von Midjourney jedes Bild, die ich vor meinem geistigen Auge sehe und beschreiben kann, generieren könnte. Wann immer ich ein genaues Motiv vor Augen hatte und versucht habe, es in Midjourney zu erschaffen, musste ich irgendwann aufgeben.

Ein simples Beispiel: Mein Blog- und Podcast-Kollege Sascha hatte sich gewünscht, dass ich ihm sein Blog-Keyvisual, eine Katze, die Laser aus den Augen schießt, im Ghibli-Stil generiere. Aber trotz einem Dutzend Prompt-Varianten – das Bild wollte einfach nicht entstehen. Ob wegen der Gewaltfilter von Midjourney oder weil einfach nicht genug Lernmaterial dazu vorhanden war, kann ich nicht sagen. Aber Tatsache war: Midjourney konnte mir viele viele Bilder mit Katzen und Lasern bauen, manche davon erinnerten sogar an Studio Ghibli, aber in keinem der Bilder kamen die Laserstrahlen aus den Augen der Katze.

Klar, die Aufgabe von “Prompt Engineers” wird es in Zukunft sein, so lange an den Prompts und Einstellungen rumzudoktern, bis es eben doch passt. Aber für meine begrenzte Erfahrung galt bisher eher: Midjourney erschafft fast nie die Bilder, die ich erwarte oder mir gar wünsche. Aber das heißt nicht, dass die Bilder nicht interessant sind.

Insofern, wie auch schon neulich geschrieben, halte ich es für viel fruchtbarer, die Arbeit mit Midjourney als eine Zusammenarbeit zu begreifen. Die KI ist nicht meine In-Out-Maschine, die das exakte grafische Äquivalent zu dem auswirft, was ich vorher textlich eingeworfen habe. Sie ist vielmehr ein Partner in einem künstlerischen Prozess. Je mehr ich bereit bin, mich von ihrem X-Faktor überraschen zu lassen, desto produktiver wird die Zusammenarbeit.

(Zu diesem hehren Ziel gehört natürlich eine lange Reihe von Fußnoten. Midjourney ist auch eine Klischeemaschine, von der selten zu erwarten ist, dass sie etwas wirklich neuartig Scheinendes erschafft. Sie hat Ismus-Biases ohne Ende, von der ethischen Debatte über die unentgeltliche Nutzung von Werken anderer zu Trainingszwecken ganz zu schweigen.)

Insofern finde ich auch das unter Designer:innen herumgereichte Meme nach dem Motto “Die KI erwartet, dass der Kunde genau beschreibt, was er will. Wir sind sicher” (selbst ürigens eine Neuauflage eines alten Programmierer:innen-Witzes) zwar witzig, aber auch ein wenig am Ziel vorbei. Gute Zusammenarbeit mit Kreativen jeder Art, egal ob Designer:innen, Illustrator:innen oder Texter:innen, hat noch nie darin bestanden, dass die Auftraggeberin exakt das Ergebnis beschreibt und die Auftragnehmerin diese Beschreibung umsetzt. Genau wie die Zusammenarbeit mit der KI besteht auch jede andere fruchtbare kreative Zusammenarbeit, selbst solche, in der eine Partei die andere bezahlt, aus einem produktiven Geben, Nehmen und Iterieren. Der Unterschied dürfte viel eher sein: Die KI ist (bisher) nicht davon überzeugt, dass ihre Auftraggeberin keine Ahnung hat und sie viel besser weiß, was gut für den Auftrag wäre.

Ich habe meine Prompts entsprechend angepasst. Statt vom Ergebnis zu denken und dann nach den richtigen Worte dazu zu suchen, fange ich gedanklich lieber am Anfang an. Ich denke mir ein Motiv aus, eventuell noch ein paar Stilmerkmale dazu, aber den Rest überlasse ich dann erstmal der KI. Manchmal lasse ich sogar bewusst Deskriptoren weg, um mich stärker überraschen zu lassen. Ein Beispiel wäre ein Bild, das ich vor kurzem zur Bewerbung meiner jüngsten Podcast-Folge generiert habe: “Photograph of a Filmmaker trying to take care of the environment”

Alexander Matzkeit/Midjourney

Auf dieser Weise kann ich meine Stärken einbringen, beispielsweise das Kombinieren von verschiedenen Ideen. Und die KI bringt ihre Stärken ein: das stochastische Kombinieren der Elemente im Prompt zu einem neuen, überraschenden Werk, das weder nur von mir noch von Midjourney stammt.

Sondern von uns zusammen.

Das Ende der Hyper-Stasis?

Alles beschleunigt, aber nichts verändert sich. Das ist das dominante Zeitgefühl der Postmoderne, spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Krisen mögen zunehmen, die Computerchips kleiner werden, aber wann war das letzte Mal, dass wir in der nördlichen Hemisphäre wirklich das Gefühl hatten: Oh, das ist neu, und das wird alles verändern?

Die globale Pandemie? Na ja, ich arbeite jetzt halt vier Tage die Woche von zu Hause und habe drei Jahre lang Maske getragen, aber trotz der vielen Toten – mein Leben hat sich eher trotz als wegen Covid verändert. Der Krieg in der Ukraine? Ich habe meine Abschlagszahlung für Öl und Gas etwas erhöht, fertig. Ich weiß natürlich, dass es viele individuelle Schicksale gibt, die die Auswirkungen deutlich mehr gespürt haben, als ich. Aber aus breiterer Perspektive hat sich doch das Leben im Rest der Welt auch nicht mehr verändert als bei einem Krieg, der weiter weg gewesen wäre. Das ist ja das absurde.

Simon Reynolds hat für dieses Gefühl in seinem Buch Retromania den Begriff Hyper-Stasis geschaffen. Ich habe mal das längere Originalzitat rausgesucht, das sich ursprünglich nur auf Musik bezieht. Reynolds beschreibt,

feeling impressed by the restless intelligence at work in the music, but missing that sensation of absolute newness, the sorely craved ‘never heard anything like this before’. Hyper-stasis can apply to particular works by individual artists, but also to entire fields of music. (…) In the analogue era, everyday life moved slowly (you had to wait for the news, and for new releases) but the culture as a whole felt like it was surging forward. In the digital present, everyday life consists of hyper-acceleration and near-instantaneity (downloading, web pages constantly being refreshed, the impatient skimming of text on screens), but on the macro-cultural level things feel static and stalled. We have this paradoxical combination of speed and standstill.

Simon Reynolds: Retromania: Pop Culture’s Addiction to its Own Past (2010)

Ich denke über dieses Gefühl seit mindestens zwölf Jahren nach, und ich suche entsprechend seit zwölf Jahren nach einem Ausweg daraus. Jetzt, 2023, bin ich erstmals bereit, zu behaupten: Ich denke, er steht bevor. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine folgt der Formel Change by Disaster. Der andere hat Kulturproduktion jetzt schon grundlegend verändert – und dabei hat seine Zeit gerade erst begonnen.

Klimawandel oder Klimakatastrophe?

Das erste, was mir einfiel, nachdem ich Retromania gelesen hatte, war: Wie hängt das alles mit Untergangsdenken zusammen? Ich habe sogar Simon Reynolds bei einer Lesung danach gefragt: Wäre nicht eine Katastrophe der Ausweg aus der Hyper-Stasis? Er hat gelacht und hatte keine weiteren Gedanken dazu, aber ich bleibe dabei: Ist das nicht in einer apokalyptisch geprägten Kultur wie der unseren eigentlich sogar der explizite Wunsch, auf den wir hinsteuern? Eine große Zäsur, eine wirkliche Zeitenwende, die die Spreu vom Weizen trennt und uns in einem Zug endlich von der großen Ennui befreit, die mit der Hyper-Stasis einhergeht.

Die Pandemie hatte ja bei vielen Menschen interessanterweise genau den gegenteiligen Effekt. Sie war etwas Schleichendes, Unsichtbares. Keine unmittelbare Bedrohung, sondern etwas, was für noch mehr Zeitlosigkeit sorgte.

Aber: Wie steht es mit der bevorstehenden Klimakatastrophe?

Als ich mit meinem Kulturindustrie-Co-Host Sascha im November 2019 über Nostalgie gesprochen habe, hat er etwas gesagt, was mir sehr im Kopf geblieben ist: “Ich glaube, dass das alles in der Zukunft noch schlimmer wird.” Die Angst vor der Zukunft werde die ganze Welt in die Vergangenheit treiben, meinte er. Das passt zu dem, was ich im Oktober geschrieben habe: Eventuell besteht die Reaktion der Menschheit im Angesicht der Katastrophe vor allem in einem herzhaften “Weiter so”.

Vielleicht aber sorgen die zunehmenden Vorboten des Kollapses aber auch für eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung in der großen Erzählung der Menschheit. Eventuell möchte diese doch lieber eine sein, die die Katastrophe in letzter Minute abgewendet hat, als eine, die sehenden Auges und trägen Geistes in sie hineingelaufen ist.

Bei mir und bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung, insbesondere in den Generationen nach mir, ist dieses Bewusstsein ja bereits erwacht. Ich glaube, dass es nicht nur die reine Angst ist, die alle antreibt, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, sondern auch der Wunsch, aus der bisherigen Rückwärtsgewandtheit auszubrechen.

Das also ist der erste Faktor für den Weg aus der Hyper-Stasis. Die Katastrophe kommt. Und egal ob wir sie abwenden oder nicht – die Welt, auch die kulturelle, wird dadurch auf jeden Fall neu geformt.

Geist in die und aus der Maschine

Der zweite wird seit letzem Jahr so viel diskutiert, dass es fast schon müßig scheint, ihn zu erwähnen. Aber dennoch: Ich denke, dass die zunehmende Macht von generativer Künstlicher Intelligenz uns aus der Hyper-Stasis führen könnte. Was Midjourney, ChatGPT und Co derzeit so fabrizieren, hat bei mir auf jeden Fall das erste Mal seit sehr langer Zeit ein Gefühl von Neuheit und Revolution in der Kulturproduktion hervorgerufen, wie Reynolds es beschreibt. Und das, obwohl generative KIs nur auf Daten und Referenzen zugreifen können, die bereits bestehen, also per Definition eigentlich nichts Neues schaffen können.

Und tatsächlich ist ein großer Einsatzort von generativer KI derzeit die Heraufbeschwörung von Nostalgie und Retromanie, meist für Dinge, die es nie gegeben hat (was Roland Meyer unter #ArtificialNostalgia und #NostalgicWeirdness zusammengefasst hat). Aber nicht nur werden die Maschinen-Lernmodelle schon jetzt von Monat zu Monat besser, sondern auch ihre Operatoren lernen ständig dazu.

Wenn man bedenkt, dass die letzte große Neuheit etwa in der Musik der Einsatz von Computern als Werkzeug war, erscheint es mir nur logisch, dass der nächste große Schritt in der Kulturproduktion der Einsatz von Software sein wird, die in der Lage ist, selbst Kultur zu schaffen. Wird sie damit alleine gelassen, dürfte sie nie etwas genuin Neues erzeugen, allen Befürchtungen von “self-aware” KIs zum Trotz. Aber Mensch und KI sollten gemeinsam in der Lage sein, Kultur zu schöpfen, die keiner von beiden alleine hätte generieren können und die sie wirklich neu anfühlt.

Ich habe bei Zukunftsvorhersagen und Potenzial-Prognosen neuer Technologien nicht die beste Bilanz. Vielleicht bin ich auch nur älter geworden und habe einfach ein großes Bedürfnis nach Ausbruch aus dem Bisherigen. Aber ich denke doch, dass der Hyper-Stasis-Vibe-Shift uns bereits erfasst hat.

Oder?

Foto von Ville Palmu auf Unsplash

Superheld:innengeschichten für kleinere Kinder

Ich weiß nicht mehr wirklich, womit es ursprünglich anfing. Mit meinem Hulk T-Shirt, vielleicht, oder mit den Erzählungen eines älteren Kindes aus der Kita, aber irgendwann im letzten Sommer wurde mein Kind, damals gerade vier Jahre alt, Fan von Superheld:innen. Es wollte alles darüber wissen, vor allem natürlich, welche Superkräfte sie haben. Damit konnte ich als MCU-Gucker und gelegentlicher Comicleser einigermaßen dienen.

Das größere Problem: Mein Kind wollte Geschichten erzählt bekommen. Darin bin ich sehr schlecht. Nachdem ich also die stark vereinfachten Versionen der Avengers-Filme mehrfach erzählt hatte, stand ich ein bisschen verloren da und sah mich nach anderen Möglichkeiten um.

Bücher

Es zeigt sich: Ich bin zum Glück nicht der erste Mensch, der sich überlegt hat, wie man Superheld:innengeschichten auch schon für kleinere Kinder aufbereiten kann. Das Motiv wird in diversen Kinderbüchern aufgegriffen, die mich allerdings immer ein bisschen an das Meme “Did a printer write this Tweet” erinnern. In Büchern wie Max und die Superhelden oder Meine Mama ist ein Superheld schreiben Erwachsene für Kinder darüber, dass Erwachsene ja eigentlich auch Superhelden sind. Ich kann nur immer wieder davor warnen, diese Art von plumper Didaktik bei Kindern zu versuchen. Sie sind dafür viel zu clever, und in diesem Fall wollte mein Kind nicht Superhelden, die Eltern sind, sondern echte Superhelden.

Doppelseite aus “Max und die Superhelden” von Rocio Bonilla © Jumbo

Besser funktionierte da schon ein Buch aus der SUPERLESER! Reihe des DK-Verlags (Marvel Avengers – Die Superhelden retten die Welt). Eigentlich zum Selbstlesen für Grundschüler:innen, griff es etwas auf, was schon Jonas Lübkert vor kurzem in seinem Newsletter angemerkt hat: Lexika kommen gut an. Sie enthalten kurze, kompakte Informationsblöcke mit Bildern dazu, die den Wissensdurst stillen. Viele Wörter im Buch waren für mein vierjähriges Kind noch zu kompliziert, aber es entstand ein erster Eindruck vom Superhero Industrial Complex.

Noch besser fand ich aber kurze Zeit später die Spider-Man-Bücher von MacKenzie Cadenhead. Sie richten sich auch eigentlich an Erstleser:innen, eignen sich daher aber auch wirklich gut als Vorlesebücher. Sie erzählen “echte” Superheldengeschichten, haben ein angenehm emanzipiertes und augenzwinkerndes Weltbild dabei und kommen ohne viel Gewalt aus. Gibt’s auch als Hörbuch, gelesen von Tom Hollands deutscher Synchronstimme Christian Zeiger.

“Squirrel Girl? Heißt das, du hast die Fähigkeiten eines Eichhörnchens?” – “Und die Fähigkeiten eines Mädchens! Problem damit?”

aus “Spider-Man gegen Sandman
Screenshot © Random House

Fernsehen

Wir mussten uns selbst etwas überwinden, aber als der viereinhalbte Geburtstag dann irgendwann vorbei war, haben wir unser Kind auch Spidey und seine Super-Freunde (Disney+) gucken lassen. Hier ist die Zielgruppe eindeutig Kinder, die jünger sind als Schulalter, mit allem was seit Paw Patrol dazugehört. Endlose Wiederholungen hirnloser Catchphrases (“Lasst uns Spidey-schwingen!”), identische Suit-Up-Sequenzen in jeder Folge, kostengünstig produzierte Animation in sterilen Umgebungen, die bei allen, die keine Maske tragen, schnell gruselig aussieht.

Dennoch lohnt es sich, auch festzuhalten, was die Serie richtig macht. Eines hat sie nämlich begriffen, das auch mir erst im Laufe der Zeit klar wurde. Kinder im Vorschulalter sehen Superheld:innen vor ihrem inneren Auge ebenfalls als kinder-ähnlich. Sie haben noch nicht die mentale Kapazität, um sich wirklich in die Lebenswelt von Erwachsenen hineinzudenken. Daher sind bei Spidey eigentlich alle Charaktere entweder Kinder oder Eltern.

Das gilt nicht nur für die drei Protagonist:innen. Auch Nebenfiguren wie Hulk und vor allem die Schurken, etwa Rhino, Green Goblin und Doc Ock, sehen nicht nur in ihren Formen aus wie Kinder, sie handeln auch aus sehr einfachen Motivationen heraus, die Kinder verstehen können. Ihre bösen Pläne drehen sich immer entweder darum, andere Menschen zu ärgern oder etwas zu klauen. Warum genau oder was damit später passieren soll, ist egal. Hauptsache, es gibt ein einfaches Problem, was Spidey, Spin und Ghost Spider mit ein paar geschickten Netzwürfen lösen können. Dabei wird immer wieder betont, das sie haben, was den Schurken fehlt: Sie arbeiten zusammen und stehen füreinander ein.

Die Bösewichte in Spidey and His Amazing Friends sehen aus wie etwas ältere Kinder © Disney

Das Ergebnis ist nicht besonders sophisticated, aber in seiner Einfachheit auch ganz spaßig. Zumal man anerkennen muss, dass Disney sich in Sachen Diversity wirklich bemüht. Doc Ock und Electro etwa sind entgegen dem Kanon weibliche Figuren, Gwen/Ghost Spiders Mutter (statt, wie in den Comics normalerweise, ihr Vater) ist Polizistin. Ms. Marvel/Kamala Khan und Black Panther haben regelmäßige Gastauftritte. Kann man also (manchmal) gucken.

And Beyond

Die allerbeste Idee für immer neue Superhelden-Geschichten kam aber letzte Woche von der Programmiererin April King, die darüber twitterte, dass Eltern vorgeschlagen hätten, diese Art von “Erzählst du mir eine Geschichte?”-Geschichten einfach von ChatGPT generieren zu lassen. Und, was soll ich sagen: das funktioniert sehr gut. Man kann ChatGPT ziemlich einfach genau die manchmal etwas abstrusen Plot-Wünsche der Kinder präsentieren. Die generative KI strickt eine Dramaturgie drumherum, die man sich sonst mühsam selbst ausdenken müsste, und verpackt das Ganze in der einfachen Form, die das Kind in solchen Momenten ja auch einfach will. (Ich hoffe doch, dass die meisten Eltern mir zustimmen würden, dass in solchen Momenten gar keine psychologisch komplexen Geschichten gewünscht sind.)

Dabei entsteht dann sowas, basierend auf einem echten Wunsch meines Kindes. Wir haben schon zusammen vor dem Computer gesessen und ChatGPT gefüttert und um Änderungen gebeten. Ich denke, das ist die Zukunft.

Eines Tages wurde ein wertvolles Artefakt aus dem Museum gestohlen und die Avengers waren alarmiert. Captain America und Wasp machten sich auf den Weg, um den Dieb zu finden. Unterwegs trafen sie Thor und Hulk, die ihnen bei der Suche helfen wollten. Sie entdeckten bald, dass der Dieb niemand anderer als Loki war. Er hatte das Artefakt gestohlen, um seine eigene Macht zu stärken und die Welt zu unterwerfen.

Die Avengers kämpften tapfer gegen Loki und seine Armee von Schergen, aber sie waren gegen seine List und Täuschungen machtlos. Wasp schlug schließlich vor, dass sie sich auf Ameisengröße schrumpfen und durch ein kleines Loch in Lokis Versteck schlüpfen sollten. Wasp und Captain America schrumpften sich und krochen durch das Loch. Sie fanden sich in einem riesigen Raum wieder, in dem Lokis Geheimnisse und Macht verborgen waren. Aber sie waren nicht allein. Loki bemerkte sie und versuchte, sie zu fangen.

Wasp flog schnell durch den Raum und umkreiste Loki, während Captain America gegen die Schergen kämpfte. Aber Loki war schlau und er verwandelte sich in einen riesigen Drachen. Es schien, als hätten sie keine Chance gegen ihn. Doch Wasp gab nicht auf. Sie flog auf Lokis Augen zu und stach ihn mit ihrem Stachel. Es war ein gewagter Schritt, aber es zahlte sich aus. Loki brüllte vor Schmerz und verwandelte sich zurück in seine menschliche Form.

Die Avengers waren erfolgreich und Loki wurde gefangen genommen. Sie brachten das Artefakt zurück ins Museum und feierten ihren Sieg. Wasp hatte gezeigt, dass sie eine mutige und kluge Heldin war, die eine entscheidende Rolle in dem Kampf gegen Loki gespielt hatte. Die Avengers waren stolz auf sie und schätzten ihre Fähigkeiten und ihren Mut.

Geht Immer

Die Freude eines guten Quest-Plots

© Disney, weil alles Disney ist

Mein Kind ist inzwischen in dem Alter, wo wir ihm zutrauen, auch mal ganze Filme zu schauen. Einer davon, der zuvor auch schon per Buch und Soundtrack ausführlich vorbesprochen wurde ist Moana (2016), der außerhalb der USA Vaiana heißt, von John Musker und Ron Clements aus dem Hause Disney. Beim erneuten Sehen fiel mir etwas auf, und als ich den Film bei Letterboxd loggen wollte, stellte ich fest, dass es mir schon beim ersten Mal aufgefallen war. Es ist eine der großen Stärken des Films: Moana hat einen sehr geradlinigen Heldenreisen-Quest-Plot.

Moana ist die Nachfolgerin des Chiefs auf einer pazifischen Insel. Das einst fischreiche Riff der Insel wird immer weniger ergiebig, aber die Inselbewohner weigern sich, sie zu verlassen. Moana, die sich seit ihrer jüngsten Kindheit vom Ozean angezogen fühlt, findet heraus, dass ihre Vorfahren Seefahrer waren, die von Insel zu Insel zogen, unter dem Segen der Fruchtbarkeitsgöttin Te Fiti. Doch seit der Halbgott Maui auf einem seiner Diebeszüge Te Fitis “Herz” stahl und den Feuerdämon Te Ka gegen die Inselbewohner aufgebracht hat, sind die Ozeane nicht mehr sicher. Gegen den Willen ihres Vaters macht sich Moana auf einem Boot auf, um Maui zu finden und das Herz zurückzubringen. Der Ozean hilft ihr dabei und lässt sie trotz Unbeholfenheit nicht ertrinken. Maui stellt sich als großmäuliger Egoist heraus, der keinen Bock auf die Mission hat und Moana nicht als ebenbürtig akzeptiert. Doch in einer Reihe von Konfrontationen, unter anderem mit einer riesigen Krabbe, die Mauis magischen Fischhaken gestohlen hat, beweist sie ihren Mut. Gemeinsam reisen sie zu Te Ka und erkennen, dass sich hinter dem Dämon die aus dem Gleichgewicht gebrachte Te Fiti verbirgt. Sie geben das Herz zurück und heilen Te Fiti. Moana kehrt als erfahrene Seefahrerin zu ihrem Clan zurück und beginnt ein neues Zeitalter der Seefahrerei.

Es ist in den vergangenen 30 Jahren extrem aus der Mode gekommen, solche einfachen Plots, die einst als der heilige Gral der Drehbuchstruktur galten, eins zu eins umzusetzen. So einfach kann man es sich ja nicht mehr machen, ist schließlich einer der Leitsätze der Postmoderne. Deswegen gehört heutzutage in den Werkzeugkasten der Plotstrukturen mindestens eine unvorhersehbare Wendung, die alles bisher geglaubte auf den Kopf stellt, oder – noch wichtiger – ein deutliches Hinterfragen der Held*innen-Figur. Diese darf längst nicht mehr einfach “auserwählt” sein, stattdessen gehört die gesamte psychologische Komplexität des Freien Willens gründlich hinterfragt.

Cleverness als Formel

Ich will nicht sagen, dass ich das schlecht finde. Es war in den 1990er Jahren an der Zeit dafür. Inzwischen ist die Cleverness bezüglich des Quest-Plots aber auch selbst schon zu einer Formel geworden. Man kann inzwischen fest davon ausgehen, dass wann immer Filme im ersten Akt etablieren, dass irgendetwas vorherbestimmt ist, sich im dritten Akt sicher zeigen wird, dass alles ganz anders ist – die wahre Liebe, etwa, die Prinzessin Anna rettet, ist nicht die eines Mannes, sondern die ihrer Schwester Elsa. Gleichzeitig haben die Filmemacher*innen aber häufig keine wirklich gute oder klare alternative Aussage, verstricken sich in Wischi-Waschi-Relativitäten oder müssen die Glaubwürdigkeit der Handlungsentwicklung sehr auf die Probe stellen, um an dem Punkt anzukommen, den sie erreichen wollen. An manchen Stellen scheint die Subversion der Erwartungen wichtiger geworden zu sein, als die Folgerichtigkeit der Handlung.

Worauf ich hinauswill: Ein traditioneller Quest-Plot ist verdammt befriedigend. Es gibt einen klaren Auftrag. Es gibt Proben, die bestanden werden wollen. Es gibt eine klare Auflösung. Es gibt dennoch immer auch Überraschungen. Natürlich verschiebt sich das Ziel des Auftrags zwischendurch. Verbündete stellen sich als Gegner heraus und umgekehrt. Te Ka ist kein Dämon, sondern nur die Herz-vermissende Te Fiti. Doch am Ende ist die Mission erfüllt und Held*in und Welt verändert. Mir ist klar, dass das mit Blick auf unsere Welt nicht sehr realistisch ist, aber es sorgt für eine deutlich befriedigendere Geschichte.

Eine Geburtstagstorte für Mando

Bei der aktuellen Staffel The Mandalorian, deren vierte Folge, die heute erscheint, ich noch nicht gesehen habe, hat mich der ähnlich simple Plot, der seit Folge 1 gesponnen wird, hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Irritation. Er erinnerte mich ein wenig an das Kinderbuch Eine Geburtstagstorte für die Katze, das aber auch nur eine alte Formel variiert: Petterson will Kuchen backen, stellt fest das er kein Mehl mehr hat. Also will er in die Stadt fahren, um neues zu holen, aber sein Fahrrad hat einen Platten. Um an das Flickzeug zu kommen, muss er in seinen Schuppen, doch der Schlüssel ist verschwunden. Um an den Schlüssel zu kommen, muss er einen Stier ablenken, der im Weg steht usw. Jedes Hindernis gebiert in seiner Überwindung ein neues. Am Ende jedoch lässt sich die ganze Kette zurückverfolgen und der Kuchen wird gebacken.

So ähnlich kommt es mir bei Mando auch vor. Er will nach Mandalore, um in den Quellen zu baden, doch der Planet ist verseucht. Also braucht er einen Roboter, doch dessen Schaltkreise sind kaputt. Also braucht er neue Schaltkreise, doch die gibt es nicht mehr. Am Ende von Folge 3 hatte er es mit einigen Hindernissen tatsächlich geschafft, in den Quellen zu – naja – baden. Der Auftrag ist eigentlich erfüllt, doch dahinter steht natürlich der größere Auftrag, die Mandalorianer wieder zu vereinen. Wird The Mandalorian seinen Quest-Plot fortsetzen? Oder wird alles noch viel komplizierter?