Es scheint gerade wieder en vogue zu sein, auf Musikstreaming zu schimpfen. Zumindest, wenn man Tiffany Ng in der “MIT Technology Review” folgt und dem Slate Culture Gabfest, das auf dem Artikel aufsetzt. Nicht aus den guten Gründen, natürlich, dass Künstler:innen von Streamingdiensten nach wie vor nicht ausreichend entlohnt werden und es immer noch nicht wenigstens ein User Centric Payout-Modell gibt.
Vielmehr geht es mal wieder um die Lieblings-Hassliebe kultureller Snobs: den Algorithmus. Einerseits bietet er einem ja die Möglichkeit, automatisch immer mehr Sachen zu entdecken, die man mag. Aber wo bleibt dann die Neugier, die Entdeckung, die Serendipity? Ich komme aus dem Gähnen schon gar nicht mehr wieder raus. Und Ngs Schlussfolgerung, für die sie einen 20.000 Zeichen langen Artikel braucht, ist dann auch entsprechend banal: Man muss halt manchmal auch Musik hören, die einem nicht vom Algorithmus vorgeschlagen wurde. No Shit, Sherlock.
Phasen
Als Elder Millennial und lebenslanger Musiknerd habe ich all die Phasen mitgemacht, die Ng in ihrem Artikel beschreibt: Ich habe lange vor allem CDs gehört, dann habe ich meine Musiksammlung vor einem Auslandsaufenthalt in mp3s umgewandelt, mp3-Alben mit Freunden getauscht und illegal heruntergeladen. 2015 bin ich auf Streaming umgestiegen, und ich habe nicht zurückgeblickt.
Ich würde behaupten: Mein Musikgeschmack war noch nie so vielfältig, und ich habe noch nie so viele neue Künstler entdeckt wie heute. Immer wieder stehe ich auf Konzerten und fühle mich wie ein alter Sack, weil 80 Prozent der mich umgebenden Personen knapp 20 Jahre jünger sind. Aber ja, natürlich darf man sich dafür nicht zu hundert Prozent einem statistischen Modell überlassen, genau wie man früher™ nicht nur “die größten Hits der 80er, 90er und das beste von heute” hören konnte, wenn man seinen musikalischen Horizont erweitern wollte.
Man muss den Algorithmus für sich arbeiten lassen, nicht umgekehrt.
Workflow
So mache ich das (übrigens, ich nutze Apple Music, nicht Spotify, aber ich bezweifle, dass es einen Unterschied macht):
Ich habe eine Playlist namens “Heavy Rotation”. Diese Playlist ist so eingestellt, dass sie Songs, die darin sind, automatisch aufs Handy runterlädt. Auf diese Songs habe ich also immer Zugriff, selbst in Funklöchern. Alle neue Musik, die ich auch nur vage interessant finde, wandert als erstes in diese Playlist. Neue Songs können aus verschiedenen Quellen kommen. Am häufigsten aus den Musikpodcasts, die ich höre (Switched On Pop, All Songs Considered, Song Exploder, Hit Parade, Soul Music), aber auch Empfehlungen von Freund:innen, Syncs in Serien oder Filmen, und manchmal auch immer noch Radiofetzen in der Öffentlichkeit.
Nicht wenige neue Songs kommen auch aus meiner “Neue Musik für dich”-Playlist, die jeden Freitag neu erscheint, und die ich meistens im Laufe der Woche durchhöre. In einer guten Woche sind vielleicht vier oder fünf der 25 automatisch ausgewählten Titel ein näheres Reinhören wert. In schlechteren Wochen vielleicht nur ein oder zwei. Vielleicht ist es das, was Leute meinen, wenn sie sagen, dass der Algorithmus nichts taugt. Ja, über 80 Prozent der Vorschläge landen nicht bei mir, aber für die 20 Prozent, die es tun, lohnt sich das Hören. Manche von ihnen sind fantastisch.
Und bei den anderen 80 Prozent denke ich mir zumindest oft: “Ok, ich kann verstehen, warum man denken könnte, es würde mir gefallen, aber wer kann schon vorher sagen, ob mir hier wirklich die Stimme des Sängers gefällt oder die Harmoniefolge gerade meine Laune diese Woche trifft.” In einem fast unendlichen Meer an neuer Musik kann man es sich erlauben, hart in seinem Urteil zu sein. Das genaue Gegenteil von früher, wo man sich irgendwann jeden Song auf der CD schöngehört hatte.
Ins Regal stellen
Die “Heavy Rotation” Playlist (und meist zusätzlich heruntergeladene neue Alben) höre ich zwischendurch immer wieder im Shuffle, wann immer mir danach ist, und sortiere während des Hörens weiter. War der Song vielleicht doch nicht so gut? Dann wird er wieder komplett aus der Mediathek gelöscht. Möchte ich ihn aktuell weiterhören, bleibt alles wie es ist. Möchte ich ihn behalten, aber aus der Rotation nehmen, sortiere ich ihn auf eine oder mehrere meiner thematischen Playlists und lösche ihn aus der “Heavy Rotation”. Ich stelle ihn sozusagen ins Regal.
Diese thematischen Playlists sind eine wilde Mischung aus Genres, Stimmungen und anderen Eigenschaften von Musik. Sie heißen “Hoedown” oder “Midtempo Afternoon”, “Only Forward” (Uptempo-Songs, die “nach vorne gehen”) oder “Spaß mit Guitars”, “Mostly Grooving Drums” oder “Instrumentale Instruktionen”, “Melancholie” oder “Summerland”, “Crash and Burn” oder – meine beliebteste Liste, die oft bei uns zu Hause läuft: “That Sunday Feeling”, eine eklektische Mischung aus seichten Popsongs unserer Kindheit, Kaffeehaus-Folk und Pianoballaden. Wenn ich mal keine Lust auf die “Heavy Rotation” habe, kann ich immer eine dieser Playlists auswählen. Dazu habe ich Künstler-Playlists meiner Lieblingsbands, “Best of”-Playlists für jedes Jahr und “Snapshots”, die ich ad hoc zusammenbaue, indem ich mich durch meine Gesamt-Mediathek skippe und mich spontan inspirieren lasse. Das geht, weil Apple Music noch meine gesamte iTunes-Mediathek von früher gespeichert hat, die wiederum auf meiner gerippten CD-Sammlung von davor basiert.
Es funktioniert
Dieser Workflow stellt sicher, dass ich, wann immer ich will, neue Musik entdecken kann, aber immer auch viel Vertrautes höre. Dass er funktioniert, merke ich immer wieder. Als ich etwa vor kurzem, angeregt durch das Saisonfinale von Search Engine, doch mal Lust hatte, elektronische Musik (jenseits des Eurodance) näher zu erforschen, habe ich mit der von PJ Vogt angelegten Playlist begonnen (importiert von Spotify via SongShift) aber nur etwa fünf Tracks gehört. Den Rest hat der Algorithmus gemacht und mir konsequent ab der darauffolgenden Woche Techno-Tracks empfohlen, von denen mindestens einer bereits große Chancen hat, auf meiner “Best of 2024”-Liste zu landen.
Eigentlich geht der Workflow übrigens noch über den Streamingdienst hinaus. Wie ich für das Techniktagebuch schon mal aufgeschrieben habe, ist die App “Songkick” mit meiner Musik-Mediathek verknüpft und checkt für mich, welche Bands aus dieser Mediathek in meiner Nähe Konzerte geben. Und da gerade die jüngeren, neueren Künstler:innen meistens günstig zu sehen sind, gehe ich immer öfter hin. Dort höre ich dann oft Songs, die ich noch nicht kenne, aber mag. Und die kommen dann zunächst wieder in die “Heavy Rotation”.
tl;dr: Ich habe einen komplizierten und wahrscheinlich auch etwas bescheuerten Workflow, um mein Musik-Menü beständig frisch zu halten. Der Algorithmus spielt dabei eine wichtige Rolle, aber er muss auch regelmäßig mit frischem Input gefüttert werden. Wer sich nur auf automatisierte Vorschläge verlässt, wird wenig wirklich neue Musik entdecken, will das aber vielleicht auch gar nicht!
Bild: Midjourney – “a platypus wearing sunglasses playing a keytar and singing, bathed in rainbow lights, dynamic framing, pop photography, –ar 2:1”
Alle Jahre wieder kommen die Jahresrückblicke auf das Blog nieder. Wie jedes Jahr blicke ich zuerst auf Musik. Und wie die letzten Jahre habe ich, ehrlich gesagt, weder Zeit noch Lust, viel zu schreiben. Es gibt eine Playlist. Wer Interesse an meinem Musikgeschmack hat, kann sie sich anhören. Ich habe sie extra auf Spotify geklont, damit auch Menschen, die nicht bei Apple Music sind, reinhören können.
In der Liste findet man wie immer meine typische Mischung aus Pop und Indierock nebst zweier Soundtrack-Queues – obwohl nämlich TheSuper Mario Bros. Movie sonst nicht viel hatte, was für ihn sprach, zumindest Bryan Tylers Verwebung der alten Videospiel-Musik mit einem symphonischen Score hat meinen Respekt verdient. Im April habe ich mich außerdem für LÄUFT durch die Beiträge zum Eurovision Song Contest gehört und dabei zwei Schmachteballaden gefunden, die mir gefallen. Prog ist wie schon in den letzten Jahren kaum noch Teil meines täglichen Musikmixes, wenn ich nicht gerade gezielt in bestimmten Phasen in das Werk einer meiner früheren Favoriten abtauche – dieses Jahr habe ich immerhin eine Band entdeckt, deren Sound mir gefällt: Dream the Electric Sleep, die man aber auch Problemos einfach als Heavy Rock labeln könnte.
Hervorheben muss ich, dass 2023 erstaunlicherweise mal wieder ein Jahr war, in dem ich ganze Alben liebgewonnen und gehört habe. Die Band KNOWER, ein Duo aus Louis Cole (Schlagzeug) und Genevieve Artadi (Gesang), war meine große Neuentdeckung des Jahres. Ich habe mich auch durch ihren gesamten Back-Catalogue gehört, aber keins ihrer bisherigen Alben ist so großartig wie das diesjährige KNOWER FOREVER, das deswegen auch ausnahmsweise zweimal auf der Playlist vertreten ist. Durch meinen übermäßigen Knower-Konsum hat mir Apple Music auch mal wieder regelmäßig diverse Jazz-Künstler vorgeschlagen, von denen ich auch einige ganz gerne gehört habe. Yussef Dayes’ Black Classical Music will ich in den nächsten Wochen noch mal in Ruhe von Anfang bis Ende hören.
Auch die britische Supergroup FIZZ und ihr Debütalbum The Secret of Life fand ich absolut großartig. Da ich zwei der Mitglieder, Dodie und Orla Gartland, eh schon mochte, haben die FIZZes bei mir natürlich offene Türen eingerannt, aber der ganze Sound der Band lebendig, stark und macht Bock, das Album immer wieder zu hören. Die Secret Sauce ist meiner Ansicht nach übrigens Drummer Matthew Swales, dessen ausladender Stil die Songs einfach immer noch einen Hauch interessanter macht (ähnlich wie Zac Farro bei Paramore). RAYEs Album My 21st Century Blues (und die dazugehörige Live-Fassung mit Orchester) muss man vermutlich an dieser Stelle nicht extra promoten, ähnlich wie Peter Fox’ Love Songs, dessen bester Track ja schon letztes Jahr auf meiner Bestenliste war.
Schließlich haben noch zwei Künstler beeindruckende Alterswerk-Alben hingelegt, die ich beide sicher auch noch viele Male hören werde. Einmal Paul Simon mit seinem ruhigen und reflektiven Seven Psalms, dessen Tracks es auch in Streamingdiensten nur am Stück zu hören gibt, und dass das ideale Album für dunkle Abendstunden ist.
Und dann Peter Gabriel mit I/O – der dabei auch wieder mal ausprobiert hat, wie man Musik neu denken kann. Einen Track pro Monat über ein ganzes Jahr zu releasen gibt einem als Hörer die Möglichkeit, sich dem Album langsam zu nähern, bevor man es als Ganzes wahrnimmt (was ich auch an der “Waterfall” Release-Strategie anderer Künstler sehr mag). Und zwei Mixe des gleichen Albums zu veröffentlichen (Bright Side und Dark Side) ist natürlich für jene, die Gabriels ohnehin immer interessante Produktion schätzen, reinste Katzenminze. Musikalisch ist I/O gar nicht so besonders und klingt genau wie Gabriel auch sonst seit So oder spätestens Us geklungen hat, aber da es die erste wirklich neue Musik des Musikers seit über 20 Jahren ist, ist es ein sehr willkommenes Wiedersehen, für mich vor allem in den etwas treibenderen Songs.
Hier ist die ganze Liste:
RAYE – Oscar Winning Tears
FIZZ – High in Brighton
KNOWER – I’m the President
Paramore – This is Why
Quiet Houses – Hot and Clumsy
The Beths – Watching the Credits
I spend all night cutting up edits Watching the credits to find direction in my existence
The Beths – Watching the Credits
Polinski – Distant Friend, I love you
Brian Tyler – Press Start
Marco Mengoni – Due Vite
Mia Nicolai & Dion Cooper – Burning Daylight
Gracie Adams – Amelie
The Heavy Heavy – Desert Raven
CVC – Sophie
Ratboys – Black Earth, Wi (bestes Gitarrensolo des Jahres)
Emily King – Medal
Asake – Lonely At the Top
Peter Gabriel – I/O (Dark-Side Mix)
Stuff coming out, stuff going in I’m just a part of everything
Peter Gabriel – I/O
Miss Grit – Syncing
Yes – Circles of Time
Daniel Pemberton – Spider-Woman (Gwen Stacy)
Dream the Electric Sleep – Beyond Repair
Miya Folick – So Clear
Alfredo Rodriguez – La Bilirrubina
Peter Fox – Toscana Fanboys (feat. Adriano Celentano)
Was uns Machine Learning und Big Data nicht alles ermöglicht. Es ist jetzt zum Beispiel kein Problem mehr, einfach alle Songs, die seit dem 1. Januar 2001 erschienen sind, in eine Black Box zu füttern und nach einigen Tagen Rechenzeit eine völlig objektive Liste herauszubekommen mit den absolut besten Songs, die diese Zeit hervorgebracht hat. Wissenschaftler haben genau das jetzt gemacht, und hier ist das Ergebnis. (Quelle)*
21. KNOWER – I’m the President (KNOWER Forever, 2023)
Eine erstaunliche Symbiose aus Funk, Pop und Jazz-Geist mit teilweise sehr witzigen Lyrics.
20. Eminem – Lose Yourself (8 Mile, 2002)
19. PeterLicht – Alles was du siehst gehört dir (Melancholie und Gesellschaft, 2008)
Ein wenig Kalenderspruch-Poesie, aber auf eine so liebliche Akkordfolge geträllert, dass man weich wird.
18. Dan Auerbach – Shine on Me (Waiting on a Song, 2017)
Der einfachst-mögliche Drei-Noten-Refrain und dazu ein wenig Gitarre von Mark Knopfler, fertig ist der ultimative Gute-Laune-Ohrwurm.
17. Frost* – Hyperventilate (Milliontown, 2006)
Für die einen eine Fingerübung (der Song enthält alle Taktarten von 2/4 bis 7/4), für die anderen der ultimative Abhebe-Song.
16. Leslie Odom Jr. – Wait For It (Hamilton: An American Musical (Original Broadway Cast Recording), 2015)
Wenn Musical Theatre in dieser Liste auftauchen würde, war irgendwie klar, dass es dieser Song sein müsste.
15. Porcupine Tree – Blackest Eyes (In Absentia, 2003)
Der ultimative Melancholie-Rocker für junge Erwachsene.
14. Maroon 5 – Kiwi (It Won’t Be Soon Before Long, 2008)
Nicht als Single veröffentlicht, aber unglaublich sexy und funky, allein dieses Gitarrensolo am Schluss.
13. Dave Matthews Band – Shake Me Like A Monkey (Big Whiskey and the Groo Grux King, 2009)
Die letzte dicke Power-Rakete, die die Band abgefeuert hat, bevor sie ein wenig in der Midtempo-Mittelmäßigkeit versunken ist. RIP LeRoi Moore.
12. Johnossi – Man Must Dance (Johnossi, 2006)
Ein kleiner, dummer Song über den Urtrieb des Tanzens, der aber leichtfüßiger nicht sein könnte.
11. Wir sind Helden – Aurélie (Die Reklamation, 2003)
Basierend auf einer wahren Geschichte.
10. Selena Gomez – Bad Liar (Rare, 2020)
Angeblich ist die Basslinie von “Psycho Killer” geklaut, aber das Lied ist trotzdem ein ganz anderes, irgendwie quirky, sex und cool.
9. Beatenberg – Ithaca (The Hanging Gardens of Beatenberg, 2014)
It’s a whole mood.
8. The Shins – Saint Simon (Chutes too Narrow, 2003)
Wird diese Band dein Leben verändern? Nein, aber der Song ist schon sehr schön.
7. Half•Alive – Still Feel. (Now, Not Yet, 2019)
6. The Mountain Goats – No Children (Tallahassee, 2002)
Noch so ein melancholischer Song für junge Erwachsene, aber ganz anderer Stil.
5. Taylor Swift – Shake It Off (1989, 2014)
4. Ryley Walker – Primrose Green (Primrose Green, 2015)
3. Everything Everything – MY KZ, UR BF (Man Alive, 2010)
And he was looking at me, like, whoa!
2. Aoife O’Donovan – Magic Hour (In the Magic Hour, 2016)
1. 65daysofstatic – Retreat! Retreat! (The Fall of Math, 2004)
Das beste Instrumentralstück aller Zeiten und der Grund für diese Liste.
* Nein, das sind einfach 21 Songs, die ich sehr gerne mag. Aber hättest du mit der Prämisse auf den Artikel geklickt? Das ist mein Musikgeschmack. Wie ich immer wieder feststelle: sehr weiß, entweder folky oder sehr auf musikalische Verspieltheit ausgelegt, episch und dramatisch. Vielleicht magst du einen der Songs ja auch.
“Quantified self” – dieser Begriff war vor zehn bis 15 Jahren der heißeste Scheiß. Mithilfe von “Wearables” automatisch Daten über den eigenen Körper zu sammeln und daraus Erkenntnisse zu ziehen, galt vielen als Schlüssel zum Glück. Was ist daraus geworden? Apps von Krankenkassen verteilen Goodies basierend auf den Schritten, die man jeden Tag geht.
Allerdings kommt in den Diskussionen um Quantified Self nie auf, dass man auch ganz andere Dinge tracken kann. Ich tracke Kultur. Das heißt: Ich führe Buch darüber, welche Kultur ich wahrnehme und “konsumiere”. Das habe ich bereits lange vor sozialen Netzwerken und Devices gemacht. Bereits als Tween habe ich jahrelang jede Woche persönliche Hitparaden erstellt und diese jedes halbe Jahr ausgewertet. Ich habe Lese- und Sichtungs-Listen abgearbeitet und so versucht, mein kulturelles Kapital zu festigen.
Aber seit etwa 20 Jahren bin ich zu einer generellen Strategie von “alles aufschreiben und kurz bewerten” übergegangen. Einige Websites haben diese Aufgabe zusätzlich erleichtert. Ich tracke heute also die (filebasierte) Musik, die ich höre (seit 2005 bei last.fm); die Bücher, die ich lese (seit 2012 bei Goodreads, zuvor seit 2002 per Tabelle) und die Filme, die ich schaue (bei Letterboxd, seit 2003 per Tabelle, die ich in Letterboxd importieren konnte). Auch über meine Konzertbesuche führe ich Buch. Und über die App Timehop erlebe ich täglich die Vergangenheit meiner eigenen Social-Media-Posts. Mein Streak ist seit 2017 ungebrochen.
Hilfreiche Statistiken
Ich bin nicht alleine mit diesem Verhalten, aber ich frage mich auch, welche Effekte es hat. Auf jeden Fall hat diese Art von quantifiziertem Kulturkonsum einige Vorteile, wenn man bereit ist, sich mit den eigenen Daten auseinanderzusetzen. An der reinen Anzahl meiner “Scrobbles”, also meiner gehörten Musik, kann man zum Beispiel sehr gut ablesen, in welchen Jahren ich alleine gelebt habe (2010-2011), wie ab 2012 langsam Podcasts den Siegeszug über Musik mit meiner “Ohrenzeit” antraten und in welchem Jahr mein Kind geboren wurde (2018).
So ähnlich sieht es auch auf meinem Letterboxd-Profil aus. 2011-2013 habe ich in der Filmredaktion 3sat gearbeitet, wie man unschwer erkennen kann. Mithilfe der Tags, die sich seit 20 Jahren vergebe, könnte ich außerdem sehr gut nachvollziehen, wie sich bei mir der Umstieg von physischen auf digitale Medien vollzog.
Besonders hilfreich fand ich meine Goodreads-Daten dieses Jahr, als ich mal schauen wollte, wie es eigentlich mit dem Geschlechterverhältnis bei meinen gelesenen Büchern aussieht. Gefühlt habe ich Bücher nie danach ausgewählt, ob sie von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurden. Bittererweise zeigen die Daten aber, dass ich selbst in Jahren, die sich für mich einigermaßen paritätisch anfühlten, ungefähr doppelt so viele Bücher von Männern wie von Frauen gelesen habe. (Ich korrigiere das dieses Jahr sehr bewusst, bin aber auch froh, dass man im Diagramm immerhin eine positive Tendenz sieht.)
Ein bisschen ist das quantifizieren von Kultur wie automatisiertes Tagebuchschreiben. Und es hilft manchmal, sich selbst zu checken. Habe ich die Songs, mit denen ich mich schmücke, auch wirklich am meisten gehört? Oder habe ich vielleicht doch eine geheime Schwäche für einen ganz anderen Künstler? Ganz abgesehen davon, dass es das Erstellen von Lieblingslisten am Ende jedes Jahres deutlich erleichert.
Wettbewerb und schlechte Daten
Die negativen Seiten liegen (für mich) ebenfalls auf der Hand. Tracking schafft Vergleichbarkeit. Für einen neidischen Scanner wie mich definitiv ein Problem. Habe ich dieses Jahr wirklich nur 30 Filme gesehen? Früher habe ich fünfmal so viel geschafft. Daten sagen auch nichts über die Qualität des kulturellen Genusses aus. Habe ich die vielen Songs, die ich dieses Jahr gehört habe, auch bewusst gehört? Oder dudelten sie im Hintergrund vor sich hin, während ich mit anderen Dingen beschäftigt war? Diese Art von “schlechten” Daten kennen viele aus ihren “Spotify Wrapped”-Listen, in denen Workout- oder Kinderlieder jedes Jahr die ersten Plätze einnehmen.
Das nervigste aber ist, dass Tracking die Gamification bzw. Workification von Kulturkonsum befeuert. Wenn man Kulturkonsum in Zahlen übersetzt, verbindet man schnell automatisch Ziele damit. Statt Genuss geht es dann plötzlich darum, etwas zu schaffen.
Goodreads zum Beispiel fordert einen jedes Jahr dazu auf, eine “Reading Challenge” festzulegen. Der ursprüngliche Hintergrundgedanke ist vermutlich, dass genug Leute sich sagen “Ich sollte wieder mehr lesen” und es dann nicht tun. Die haben mit einem selbstgesetzten Ziel einen Ansporn. Aber man kann es auch zur performativen Farce werden lassen.
Crush Your Reading Challenge
Denn im Oktober schickt Goodreads jedes Jahr eine E-Mail mit dem Betreff “Short Books to Crush Your Reading Challenge” raus. Ein schönes Beispiel dafür, wie sich alleine durch die Auswahl der “richtigen” KPI mit Statistiken bescheißen lässt. Wenn ich nur kurze Bücher lese, kann ich nominell ein höheres Ziel erreichen. Aber was habe ich dadurch für mich gewonnen?
Ich gebe zu: Ich kann mich diesem künstlichen Wettbewerb nicht ganz entziehen. Ich bin im, Herzen ein kompetitiver Mensch und will irgendwie bestehen können, also höre, lese und gucke ich mich manchmal durch die Welt, einfach weil ich das Gefühl habe, ich muss. Auf der anderem Seite, bereue ich es aber auch selten. Denn Filme gucken, lesen, Musik hören oder Podcast hören ist fast immer besser als die Alternative, etwa endloses Doomscrolling.
Aber es schmerzt halt dann auch immer, wenn ich das Gefühl habe, ich tue gerade nichts Messbares. Ich muss mich manchmal sehr zwingen, mir selbst Erlaubnis zu erteilen, Dinge zu machen, die hinterher nirgendwo festgehalten sind. Ich war schon immer schlecht im Entspannen, unter anderem, weil es sich so schlecht tracken lässt.
Immerhin: Es gibt eine Kulturform, die ich nicht tracke: Serien. Hier ist es mir meist ziemlich egal, wieviele Folgen oder Staffeln ich in welchem Zeitraum “geschafft” habe (“muss ich gucken, weil ich drüber schreiben/reden will” ist die Ausnahme). Insofern sind Serien vermutlich die entspannteste Form von Kultur für mich. Das ist ja auch eine Erkenntnis.
Eurodance ist eine merkwürdige Obsession von mir. Ich bin 1983 geboren, und damit fiel die dominante Zeit des Genres genau in die Zeit, in der ich begann, Popmusik für mich zu entdecken. Ich war sehr begeistert davon und mein Zimmer war übersät mit Postern von 2 Unlimited und Twenty 4 Seven. Recht gleichzeitig mit dem Ende des Eurodance-Booms jedoch hatte ich einen rockist turn und wandte mich komplett von elektronischer Musik ab. Statt also meine Studienzeit tanzend in Clubs zu verbringen, wurde ich zum Experten für Prog-Rock – so weit entfernt vom Dunstkreis “Techno”, wie man nur sein kann.
Vor einigen Jahren, im Zuge genereller Kindheits-Nostalgie-Neubewertung, habe ich Eurodance auch noch einmal neu betrachtet. Mir sind sofort ein paar Dinge an dieser kuriosen musikalischen Randerscheinung aufgefallen und ich wollte mehr dazu herausfinden. Also habe ich eine ARTE-Doku gesehen und ein paar Bücher gelesen. Wirklich gute gibt es nicht. Das Fan-Werk Move Your Body ist vor allem ein recht enzyklopädischer Überblick, Marcel Feiges Deep in Techno streift Eurodance nur sehr am Rande. Am aufschlussreichsten war das niederländische No Limits, in dem eine Menge Interview- und Recherchearbeit steckt, das aber am Ende doch vor allem unterhalten will.
Eurodance bleibt also vergleichsweise unentdeckt, vor allem, wenn es darum geht, es nicht nur als 90er-Nostalgie-Kuriosum, sondern als musik- und kulturgeschichtliches Phänomen zu begreifen. Mein Traum wäre es, an dieser Aufarbeitung mitzuwirken – ein Buch dazu zu schreiben oder einen Podcast zu produzieren. Das wird aber sehr wahrscheinlich nicht passieren, deswegen teile ich einfach an dieser Stelle in Form von acht Thesen schon mal die Gedanken, die ich mir bisher gemacht habe. Die meisten von ihnen sind relativ einfach und einleuchtend, aber ich finde, dass sie in ihrer Gesamtheit ein differenziertes Bild ergeben und das Potenzial einer guten Geschichte haben.
1. Eurodance ist die populäre Evolution von elektronischer Tanzmusik
Die Wurzeln des Eurodance liegen im Detroiter House (stampfende Beats) und im Hip-Hop (Rap-Gesang). Über die Übergangsform des Hip-House fügte Eurodance seinen Vorgängern etwas hinzu, was diese nicht hatten: mitsingbare Refrains (meist mit “Diva Vocals”) und Performer, die die Songs auf der Bühne verkörpern konnten. Damit wurde Eurodance zu einer Pop-Radio-tauglichen Evolution von allem, was sich unter Labels wie “Dance” oder “Techno” zusammenfassen lässt.
2. Eurodance war ein Strohfeuer …
“Rhythm is a Dancer” von Snap! gilt gemeinhin als der erste prototypische Eurodance-Track. Der Song wurde 1992 veröffentlicht. Der letzte richtig große Eurodance-Hit war Aquas “Barbie Girl”, fünf Jahre später. Wenn man großzügig ist, könnte man Eiffel 65s “Blue” und die Songs der Vengaboys noch dazurechnen, aber 1999 waren sie schon eher Außenseiter in der Popmusik-Landschaft. Die Jahre 1993 bis 1996 waren die dominanten Jahre des Eurodance, in denen die Jahres-Hitlisten voll davon sind. Wie die Kraans in No Limit anmerken, kann man die Zeit noch grob in zwei Phasen unterteilen, die der Pioniere (1992-1994) und die der Epigonen (1995-1996). Zu unterscheiden vor allem am Originalitätsgrad – etwa 2 Unlimited vs. Dolls United.
3. … mit spürbarem Einfluss
Musikgeschichtlich bekommt man immer ein wenig den Eindruck, die Welt sei spätestens 1996 aufgewacht, hat sich ein bisschen dafür geschämt, dass sie in den letzten drei Jahren etwas zu viel Ecstasy eingeworfen hatte, und hätte dann schnell so getan, als habe es Eurodance nicht gegeben. Elektronische Musik im Mainstream wurde gefälliger und weniger Popsong-mäßig (Gigi D’Agostino, Dario G), die restliche Popmusik konzentrierte sich auf Boygroups und Britney Spears. Aber nicht nur gab es natürlich weiter Eurodance-Acts und bis heute einen Revival-Circuit der auf der Nostalgiewelle reitet (meiner Ansicht nach der langweiligste Aspekt des ganzen Phänomens), aber die Kombi aus House Beats und Pop-Produktion war nach den 90ern einfach als ein Standard im Mainstream-Pop gesetzt, bis sie rund 10-15 Jahre später von den jetzt dominanten Reggaeton- und Afrobeats-Einflüssen abgelöst wurde. Der Siegeszug von “EDM” in den USA wäre ohne Eurodance schwer denkbar, denn in europäischen Clubs wurde zu diesem Zeitpunkt längst andere Musik gehört.
4. Es gibt zwei Geschichten des Eurodance
Dance/Techno/Wie immer man es nennen will, ist Musik von Producer-DJs für Producer-DJs. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dieses Ökosystem kapiert hatte – dass also diejenigen, die die Musik am Computer bauen, in der Regel die gleichen sind, die sie später im Club auflegen. Eurodance hat dem (siehe 1.) eine weitere Komponente hinzugefügt: Personen, die die Songs auf einer Bühne performen, meist Sängerinnen und Rapper. No Limits war zwischen den Zeilen zu entnehmen, dass es dadurch im Grunde zwei Erzählstränge gibt: Die Performer reisten auf dem Erfolg ihrer Songs rund um die Welt und erlebten klassische Popstar-Höhen und -Tiefen. Sie kannten sich auch untereinander und feierten zusammen, weil sie gemeinsam auf Festivals und in Fernsehshows auftraten. Die Produzenten, die die Songs in der Regel (mit Ausnahme der Raps) geschrieben hatten, saßen zu Hause in den Studios, verdienten zwar teilweise auch viel Geld, aber waren meist weit entfernt vom Glitzern der Popwelt. Zwischen ihnen gab es auch allem Anschein nach wenig Austausch, obwohl sie die eigentlichen Architekten des Eurodance waren. In der Diskrepanz zwischen diesen beiden Geschichten liegt eine zu erforschende Spannung.
5. Was die Mainstreamisierung mit der Techno-Szene gemacht hat, ist mir noch nicht ganz klar
In Deep in Techno und anderen Berichten aus der deutschen Techno-Zeit in der ersten Hälfte der 90er Jahre (z. B. Der Klang der Familie) tropft die Verachtung für Eurodance und seine Nutznießer innerhalb der deutschen Szene, Leute wie Marusha oder Mark’Oh, aus jeder Pore. Die DJs, bei denen sich H.P. Baxxter in “Hyper Hyper” bedankt, waren der Legende nach alles andere als glücklich, in einem solchen Song aufzutauchen. Gleichzeitig hat der Mainstream-Boom elektronischer Musik mit Love Parade & Co zu enormer Popularität verholfen und dafür gesorgt, dass sie heute eine dominante Form von Ausgehkultur ist. In den Niederlanden, wo der Eurodance eher aus dem Gabber und Hardcore in den Mainstream geschwappt ist, schein mir das Verhältnis zu den Popstars von damals ein anderes zu sein. Ist das alles nur der übliche Beef, der immer entsteht, wenn ein Underground-Phänomen populär wird und sich “ausverkauft”, oder ist hier mehr im Spiel?
6. Eurodance ist ein europäisches Phänomen
Als ich 1999 das erste Mal in den USA war, war ich erstaunt, wie wenig die elektronische Musik, die ich in Europa als absolut dominant erlebt hatte, dort stattgefunden hatte. Einzelne Songs wie “Mr. Vain” waren zwar auch in den USA Charterfolge, aber “Techno” wurde dort eher als Randerscheinung belächelt, während Schwarze Musik, insbesondere R&B, ein wesentlich größeres Stück des Popmusik-Kuchens ausmachte. Eurodance ist Musik von Europäern für Europäer. Es ist eine Melange verschiedener Strömungen und Traditionen in der europäischen Pop- und elektronischen Musik – englischer Hardcore, Frankfurter House, niederländischer Gabber, Italo-Disco, schwedischer Pop im Kielwasser von Abba – der nur hier entstehen konnte.
7. Eurodance hat eine politische Dimension
Das ist der große Punkt, der irgendwie in allen Geschichten der Musik ausgespart wird, und bei dem ich gespannt bin, ob 90er-Kulturgeschichten wie das bald erscheinende Jahrzehnte-Buch von Pop-Historiker Jens Balzer mehr zu sagen haben. Irgendwas muss diese neu erwachte, knallbunte pan-europäische Feierkultur doch mit dem Fall des eisernen Vorhangs zu tun haben. Eurodance ist Party-Mucke mit sinnlosen Texten, in der es selten um mehr als Liebe und Freude am Tanzen geht, und eins von vielen Bildern, das man von den frühen 90ern haben kann, ist das einer nicht endenden Party. Im Allgemeinen wird diese Korrelation immer nur dem Techno zugeschrieben und nicht seinem Pop-Cousin, dem Eurodance. Aber die beiden gehören zusammen.
8. Eurodance bedeutete Sichtbarkeit für People of Color
Ich war sehr dankbar für einen Artikel von Nadia Shehadeh, die mich auf einen Aspekt von Eurodance aufmerksam gemacht hat, über den ich zuvor kaum nachgedacht hatte. Viele der Performer im Eurodance, vor allem Sängerinnen und Rapper, waren People of Color. Bei deutschen Eurodance-Acts waren es vor allem Menschen aus dem Umfeld des in Deutschland stationierten US-Militärs, die als PoC auf den Bühnen standen. In den Niederlanden waren es eher Menschen mit Wurzeln in ehemaligen Kolonien wie Surinam, am prominentesten sicherlich Anita Doth von 2 Unlimited. Wie Nadia schreibt, war diese Sichtbarkeit ein zweischneidiges Schwert, das sowohl große Diversität in der Pop-Welt, aber auch eine Exotisierung und Austauschbarkeit mit sich brachte. Ein Aspekt, den es auf jeden Fall zu bedenken gilt.
Ich freue mich auf Austausch zu diesem Thema. Gibt es noch andere Menschen, die sich mit diesem Blick dafür begeistern könnten? Gibt es jemanden, der einen Autor oder Podcast-Producer braucht, der sich dem Thema annehmen könnte? Ich wäre bereit.
Alles beschleunigt, aber nichts verändert sich. Das ist das dominante Zeitgefühl der Postmoderne, spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Krisen mögen zunehmen, die Computerchips kleiner werden, aber wann war das letzte Mal, dass wir in der nördlichen Hemisphäre wirklich das Gefühl hatten: Oh, das ist neu, und das wird alles verändern?
Die globale Pandemie? Na ja, ich arbeite jetzt halt vier Tage die Woche von zu Hause und habe drei Jahre lang Maske getragen, aber trotz der vielen Toten – mein Leben hat sich eher trotz als wegen Covid verändert. Der Krieg in der Ukraine? Ich habe meine Abschlagszahlung für Öl und Gas etwas erhöht, fertig. Ich weiß natürlich, dass es viele individuelle Schicksale gibt, die die Auswirkungen deutlich mehr gespürt haben, als ich. Aber aus breiterer Perspektive hat sich doch das Leben im Rest der Welt auch nicht mehr verändert als bei einem Krieg, der weiter weg gewesen wäre. Das ist ja das absurde.
Simon Reynolds hat für dieses Gefühl in seinem Buch Retromania den Begriff Hyper-Stasis geschaffen. Ich habe mal das längere Originalzitat rausgesucht, das sich ursprünglich nur auf Musik bezieht. Reynolds beschreibt,
feeling impressed by the restless intelligence at work in the music, but missing that sensation of absolute newness, the sorely craved ‘never heard anything like this before’. Hyper-stasis can apply to particular works by individual artists, but also to entire fields of music. (…) In the analogue era, everyday life moved slowly (you had to wait for the news, and for new releases) but the culture as a whole felt like it was surging forward. In the digital present, everyday life consists of hyper-acceleration and near-instantaneity (downloading, web pages constantly being refreshed, the impatient skimming of text on screens), but on the macro-cultural level things feel static and stalled. We have this paradoxical combination of speed and standstill.
Simon Reynolds: Retromania: Pop Culture’s Addiction to its Own Past (2010)
Ich denke über dieses Gefühl seit mindestens zwölf Jahren nach, und ich suche entsprechend seit zwölf Jahren nach einem Ausweg daraus. Jetzt, 2023, bin ich erstmals bereit, zu behaupten: Ich denke, er steht bevor. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine folgt der Formel Change by Disaster. Der andere hat Kulturproduktion jetzt schon grundlegend verändert – und dabei hat seine Zeit gerade erst begonnen.
Klimawandel oder Klimakatastrophe?
Das erste, was mir einfiel, nachdem ich Retromania gelesen hatte, war: Wie hängt das alles mit Untergangsdenken zusammen? Ich habe sogar Simon Reynolds bei einer Lesung danach gefragt: Wäre nicht eine Katastrophe der Ausweg aus der Hyper-Stasis? Er hat gelacht und hatte keine weiteren Gedanken dazu, aber ich bleibe dabei: Ist das nicht in einer apokalyptisch geprägten Kultur wie der unseren eigentlich sogar der explizite Wunsch, auf den wir hinsteuern? Eine großeZäsur, eine wirkliche Zeitenwende, die die Spreu vom Weizen trennt und uns in einem Zug endlich von der großen Ennui befreit, die mit der Hyper-Stasis einhergeht.
Die Pandemie hatte ja bei vielen Menschen interessanterweise genau den gegenteiligen Effekt. Sie war etwas Schleichendes, Unsichtbares. Keine unmittelbare Bedrohung, sondern etwas, was für noch mehr Zeitlosigkeit sorgte.
Aber: Wie steht es mit der bevorstehenden Klimakatastrophe?
Als ich mit meinem Kulturindustrie-Co-Host Sascha im November 2019 über Nostalgie gesprochen habe, hat er etwas gesagt, was mir sehr im Kopf geblieben ist: “Ich glaube, dass das alles in der Zukunft noch schlimmer wird.” Die Angst vor der Zukunft werde die ganze Welt in die Vergangenheit treiben, meinte er. Das passt zu dem, was ich im Oktober geschrieben habe: Eventuell besteht die Reaktion der Menschheit im Angesicht der Katastrophe vor allem in einem herzhaften “Weiter so”.
Vielleicht aber sorgen die zunehmenden Vorboten des Kollapses aber auch für eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung in der großen Erzählung der Menschheit. Eventuell möchte diese doch lieber eine sein, die die Katastrophe in letzter Minute abgewendet hat, als eine, die sehenden Auges und trägen Geistes in sie hineingelaufen ist.
Bei mir und bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung, insbesondere in den Generationen nach mir, ist dieses Bewusstsein ja bereits erwacht. Ich glaube, dass es nicht nur die reine Angst ist, die alle antreibt, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, sondern auch der Wunsch, aus der bisherigen Rückwärtsgewandtheit auszubrechen.
Das also ist der erste Faktor für den Weg aus der Hyper-Stasis. Die Katastrophe kommt. Und egal ob wir sie abwenden oder nicht – die Welt, auch die kulturelle, wird dadurch auf jeden Fall neu geformt.
Geist in die und aus der Maschine
Der zweite wird seit letzem Jahr so viel diskutiert, dass es fast schon müßig scheint, ihn zu erwähnen. Aber dennoch: Ich denke, dass die zunehmende Macht von generativer Künstlicher Intelligenz uns aus der Hyper-Stasis führen könnte. Was Midjourney, ChatGPT und Co derzeit so fabrizieren, hat bei mir auf jeden Fall das erste Mal seit sehr langer Zeit ein Gefühl von Neuheit und Revolution in der Kulturproduktion hervorgerufen, wie Reynolds es beschreibt. Und das, obwohl generative KIs nur auf Daten und Referenzen zugreifen können, die bereits bestehen, also per Definition eigentlich nichts Neues schaffen können.
Und tatsächlich ist ein großer Einsatzort von generativer KI derzeit die Heraufbeschwörung von Nostalgie und Retromanie, meist für Dinge, die es nie gegeben hat (was Roland Meyer unter #ArtificialNostalgia und #NostalgicWeirdness zusammengefasst hat). Aber nicht nur werden die Maschinen-Lernmodelle schon jetzt von Monat zu Monat besser, sondern auch ihre Operatoren lernen ständig dazu.
Wenn man bedenkt, dass die letzte große Neuheit etwa in der Musik der Einsatz von Computern als Werkzeug war, erscheint es mir nur logisch, dass der nächste große Schritt in der Kulturproduktion der Einsatz von Software sein wird, die in der Lage ist, selbst Kultur zu schaffen. Wird sie damit alleine gelassen, dürfte sie nie etwas genuin Neues erzeugen, allen Befürchtungen von “self-aware” KIs zum Trotz. Aber Mensch und KI sollten gemeinsam in der Lage sein, Kultur zu schöpfen, die keiner von beiden alleine hätte generieren können und die sie wirklich neu anfühlt.
Ich habe bei Zukunftsvorhersagen und Potenzial-Prognosen neuer Technologien nicht die beste Bilanz. Vielleicht bin ich auch nur älter geworden und habe einfach ein großes Bedürfnis nach Ausbruch aus dem Bisherigen. Aber ich denke doch, dass der Hyper-Stasis-Vibe-Shift uns bereits erfasst hat.
Am 25. Februar bin ich 40 Jahre alt geworden. Um ehrlich zu sein beschäftigt mich diese Tatsache seit mindestens einem Jahr. Natürlich sind Alterszahlen relativ willkürliche Grenzen im Leben, aber irgendwas verändert sich ja doch, wenn nicht in einem selbst, dann zumindest in der Wahrnehmung durch andere. Mit 40 ist man auf jeden Fall nicht mehr „jung“. Auch nicht unbedingt alt (außer vielleicht in den Augen meines bald fünfjährigen Kindes), aber doch an einem Punkt angelangt, wo ein entscheidender Teil des Lebens meistens bereits abgeschlossen ist: Adoleszenz, Ausbildung, Berufswahl, Familiengründung.
Es ist logischerweise nicht zu spät, um sich neu zu orientieren. Darüber habe ich mit vielen, die mir ein paar Jahre voraus sind und von denen einige genau das getan haben, in den letzten zwölf Monaten gesprochen. Ich selbst habe das vor einem Jahr beruflich in Angriff genommen, mich nach vielen Jahren in der PR wieder stärker in Richtung Journalismus orientiert und ein wenig Freiberuflichkeit ausprobiert. Da meine größte Angst mehr oder weniger ist, in meinen 40ern irgendwie außerhalb meiner Familie irrelevant zu werden (eine sehr eitle Angst, ich weiß), fühlte sich das schon mal wie ein guter Schritt an. Ich hoffe, dass es gleichzeitig auch ergänzt wird von einer gewissen, auf Erfahrung beruhenden Gelassenheit, von der mir einige Ü40-Menschen erzählt haben. Wir werden sehen.
Ich bin nicht Kevin Kelly
Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Augenblick im Blog festhalten kann. Lange Zeit hatte ich die Idee, Ratschläge aus genau der eben erwähnten Erfahrung weiterzugeben, weil ich beispielsweise Kevin Kellys derartige Liste total toll fand. Aber ich fühle mich noch nicht bereit dafür. Also habe ich mich entschieden, zurück und nach innen zu schauen und zu überlegen, welche kulturellen Dinge (ich bin Schließlich im weitesten Sinn Kulturjournalist) mich als Person in den letzten 40 Jahren besonders geprägt haben.
Mein Maßstab dafür war weniger, was noch heute meine „Lieblings“-Bücher, Filme, Musik usw. sind und somit die Zeit überdauert haben, sondern woran ich immer noch öfter als formende Erfahrungen zurückdenke. Momente, in denen ich plötzlich einen neuen Blick auf die Welt wahrnahm, der mein Denken oder Fühlen verändert hat. Außerdem Erfahrungen von Kultur, die etwas in mir geweckt haben: ein Interesse, eine Leidenschaft, eine Gewohnheit, manchmal sogar einen Charakterzug, den ich heute noch in mir erkenne.
Zwischen 8 und 12
Beim Erstellen der Liste, die übrigens natürlich trotz aller Überlegung sehr willkürlich ist und in mindestens der Hälfte der Einträge auch anders aussehen könnte, ist mir aufgefallen, dass die entscheidendste kulturelle Phase meines Lebens etwa die Zeit zwischen 8 und 12 Jahren war. Keine große Erkenntnis aus entwicklungspsychologischer Sicht, ich weiß, aber es hat mich doch erstaunt, wie viele Grundsteine in dieser Zeit gelegt wurden, die ich heute als einen essenziellen Teil von mir betrachte, während vieles, was später kam, sich weniger entscheidend anfühlte – selbst viele Dinge, denen ich im Studium begegnet bin.
Je kürzer zurück die Erinnerungen reichen, desto spärlicher werden sie. Auch das ist logisch. Erstens kann man ihre Wirkkraft noch nicht so gut sehen wie bei älteren Erfahrungen. Zweitens waren für mich etwa die letzten zehn Jahre vermutlich mehr vom Erlernen von sozialen und beruflichen Fähigkeiten geprägt als von kulturellen Ideen. Ich glaube aber auch, dass es eine Rolle spielt, dass ich mein inneres Alter immer ungefähr auf 27 oder 28 beziffern würde. Zu dieser Zeit hatte ich mein Studium, meine ersten zwei Jobs und die ersten ernsthaften Beziehungen gemeistert, fühlte mich also etwas erfahren, aber gleichzeitig kaum festgelegt. Ich konnte überall auftauchen und als Mensch mit Potenzial wahrgenommen werden, und ich verhielt mich auch so. Jetzt, zwölf Jahre später fühle ich mich deutlich mehr „gesetzt“, sowohl innerlich als auch von außen betrachtet. Es wird in den nächsten Jahren wichtig sein, diese Gesetztheit aufzubrechen ohne im Prozess Fundamente zu verlieren, die mir wichtig sind.
Und jetzt endlich: die Liste. Ein größeres Mammutwerk, als ich gedacht hätte. Die Reihenfolge orientiert sich an der ungefähren Zeit, in der ich den Dingen begegnet bin.
1. Chris de Burgh: Spark to a Flame. Meine erste popkulturelle Erinnerung ist Mitsingen zu „Don’t Pay the Ferryman“. Der relativ softe Musikgeschmack meiner Eltern hat mich in jedem Fall geprägt. Noch heute sehe ich immer wieder, dass Popmusik, die eher im Folk als im Blues verwurzelt ist, mich stärker anspricht.
2. Cats und Starlight Express. Ich habe beide Musicals als Kind gesehen und natürlich anschließend die Alben in Dauerrotation gehört. „Musical Theatre“ und besonders der Stil von Andrew Lloyd Webber hat sich in meine DNA eingeschrieben. Trotz allem anderen, was ich im Leben so gemacht habe, würde ich mich, müsste ich mich einem US-Highschool-Clan zuordnen, am ehesten als „Theatre Kid“ bezeichnen.
3. Knister. Späteren Leser*innen dürfte der Kinderbuchautor Knister vor allem als Erfinder der Hexe Lilli bekannt sein. In den 90ern hat er aber eine Reihe Bücher geschrieben, die ich sehr mochte („Teppichpiloten“ zum Beispiel), darunter eins namens „Mikromaus mit Mikrofon“, in dem es darum ging, wie man mit Mikro und Recorder Hörspiele und andere Klangexperimente machen kann. Von dort zum Podcasten war es quasi ein logischer Schritt.
4. Otto Waalkes. Meine Eltern hatten fast alle Otto-Platten aus den 1970er Jahren, und ich habe sie als Kind rauf- und runtergehört – sicherlich ohne sie in all ihren Nuancen zu verstehen. Rückblickend kann ich sagen, dass mein Humor davon stark geprägt wurde. Das gilt für Nonsens und Sprachwitz gleichermaßen wie für die große Musikalität, die Ottos Bühnenprogrammen innewohnt. Dass er ein fantastischer Musiker ist, habe ich erst mit erwachsenen Ohren zu schätzen gelernt.
5. Bart Simpson. Die Simpsons sind inzwischen zum kulturellen Teppich einer ganzen Generation geworden, aber am Anfang war für mich vor allem die Figur von Bart interessant, noch bevor ich die Serie überhaupt geschaut habe. Der Schlingel auf dem Skateboard war lange Zeit mein Idol (ich wollte sogar „Bart“ heißen), obwohl ich weder Skateboard fuhr noch besonders schlecht in der Schule war.
6. Die Sendung mit der Maus. Meine Eltern hatten lange eine sehr restriktive Fernseh-Police und „Die Sendung mit der Maus“ war in den ersten 8 Jahren meines Lebens oft das einzige, das ich überhaupt schauen durfte.
7. Queen: Bohemian Rhapsody. Wie für wahrscheinlich viel Menschen war dieser Song, der sich über seine Laufzeit so stark verändert aber sein Pathos-Level unverändert hochhält, für mich ein musikalisches Erweckungserlebnis. Ich halte ihn für unerreicht.
8. Eurodance. Zwischen 1992 und 1995 bestanden große Teile meiner musikalischen Welt aus, wie ich es damals nannte, „Techno“. „No Limit“ von 2 Unlimited war meine erste Single. Obwohl ich kein großer Hörer elektronischer Musik geworden bin, fasziniert mich Eurodance, dieser Clash aus dem Elektro-Underground und Maximalpop, noch immer. So sehr, dass ich am liebsten mal eine große journalistische Recherche zur damaligen Zeit und ihrer Dynamik, die außerhalb Europas kaum eine Rolle spielte, umsetzen würde.
9. Roxette: Tourism. Meine erste CD war „Joyride“, aber „Tourism“ ist das besonderere Album, weil es ein so ungewöhnliches Konzept hat – eine Mischung aus Aufnahmen, die während einer Welttournee entstanden – manche im Studio, manche live, manche improvisiert. Die Musik von Per Gessle würde ich als eine weitere wichtige Säule meines Musikgeschmacks positionieren. Außerdem war ich damals schwer in Marie Fredriksson verknallt, die ich ebenfalls bis heute toll finde und deren früher Tod bis heute schmerzt.
10. M. C. Escher. Die mathematischen Muster und visuellen Verrenkungen im Werk von M. C. Escher haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Ich hatte lange das Bild „Tekenen“ als Druck an der Wand hängen. 2022 habe ich mir ein Penrose Dreieck, das Escher zu einigen seiner Werke inspiriert hat, als Tattoo stechen lassen.
11. 4D Sports Driving („Stunts“). Videospiele wurden ab ca. 1993 ein fester Teil meines Lebens und ich habe viele Klassiker ausführlich gespielt. Am meisten im Kopf geblieben ist mir aber „Stunts“, ein Rennspiel, in dem man mit seinem Fahrzeug durch Loopings fahren und über Brücken springen und – das wichtigste – selbst Strecken bauen konnte. Bis heute sind Sportspiele, von direkten Nachfolgern wie Trackmania bis zu Tony Hawk’s Pro Skater und Fifa eigentlich meine Lieblingsspiele.
12. X-Base.X-Base war eine leider kurzlebige Show im Nachmittagsprogramm des ZDF, die versuchte, das neu aufkommende Computerzeitalter für ein junges Publikum aufzubereiten. Es gab Videospiel-Wettkämpfe, Reportagen, einen digitalen Moderator namens Eddie Highscore und Auftritte von Elektro-Popgruppen. Ich fand X-Base von vorne bis hinten großartig, sie enthielt alles, was ich zu diesem Zeitpunkt toll fand. Leider wurde die Show nach einem halben Jahr eingestellt, aber sie hat in mir definitiv ein größeres Interesse für digitale Kultur geweckt.
13. Terminator II: Judgment Day. Dieser Film, den ich verbotenerweise viel früher schaute, als seine FSK-Einschätzung vorgab, hat sehr wahrscheinlich meine lebenslange Faszination mit Visual Effects und Computeranimation auf dem Gewissen.
14. J. R. R. Tolkien: The Lord of the Rings. Mit Tolkiens Buch, das ich las während ich eine Woche krank zu Hause war, hat sich für mich alles verändert. In seiner Folge gab es für mich über viele Jahre kaum etwas anderes als Fantasy und Science-Fiction zu lesen und bis heute sind Tolkiens Werke für mich literarische Texte, die ich – durch die zahllosen Veröffentlichungen zum Thema – weiter studiere.
15. Shadowrun. Das in Deutschland von Fantasy Productions veröffentlichte Spiel, das uns ein Klassenkamerad auf dem Rückweg einer Klassenfahrt im Bus erklärte, war mein erster Kontakt mit Tabletop-Rollenspielen. Nicht nur spiele ich diese bis heute (wenn auch selten), aber ich bin auch nach wie vor absolut fasziniert von der Cyberpunk-Vision, die Shadowrun dazu noch mit Fantasy-Tropes kombiniert.
16. Magic: The Gathering. Magic besiegelte meine Fantasy-Gaming-Obsession 1995 endgültig. Diesem Spiel gehörte fast jede freie Minute. Ich konnte alle Karten auswendig, bis die Faszination rund um mein Abitur 2001 irgendwann nachließ aber nie ganz einschlief. 2017 fing ich schließlich wieder an zu spielen und mich aufs Neue zu faszinieren. 2021 habe ich mir die fünf Mana-Symbole als Tattoo stechen lassen.
17. InQuest. Diese amerikanische Zeitschrift begriff sich als Begleitmagazin zu Magic und den anderen damals aufkommenden Collectible Card Games. Später erweiterte sie ihr Spektrum auf Rollenspiele und andere Phantastik-Hobbies. InQuest hat nicht nur meinen Blick auf die Welt der Phantastik nachhaltig geprägt (die darin von Zeit zu Zeit aufgestellten Kanons bester Filme oder Romane lassen sich bis heute schwer abschütteln), sondern auch den damals verbreiteten, sehr männlichen Nerd-Humor in mich eingeschrieben. Es hat einige Jahre gedauert, mich von dieser Prägung zu emanzipieren, die in einigen Ecken des Internets immer noch sehr stark ist.
18. Dream Theater: A Change of Seasons. Der Song, der meinen gesamten Musikgeschmack veränderte. Tendenzen waren eventuell durch Queen schon da, aber in den kommenden zehn Jahren würde sich für mich alles mehr und mehr um Progressive Rock drehen. Dream Theater war auch die Band, bei der ich zum ersten Mal Fandom im Internet erlebte, mit Mailinglisten und Online-Foren.
19. Blind Guardian: Nightfall in Middle Earth. Was mit Dream Theater begann, setzte sich mit Blind Guardian und anderen Bands, die hymnischen Metal zu Fantasy-Themen präsentierten, fort. Aus heutiger Sicht kann ich es klar der Pubertät anlasten, dass ich ausgerechnet diesem Wahre-Männer-Kämpfen-Metal damals so verfallen war. Schlich sich zum Glück zum Studium hin dann aus.
20. Robert Jordan: The Wheel of Time. In gewisser Weise beendete The Wheel of Time, die endlose und endlos derivative Fantasy-Saga rund um eine Gruppe Jugendliche und eine alte Prophezeiung, was Der Herr der Ringe begonnen hatte. Im Rückblick steht die Buchreihe, die ich nie beendet habe, für mich für die Abkehr von der großen Erzählung der Fantasy, der ich mich eine gute Dekade hingegeben hatte, und ein neues Erwachsenheitsgefühl.
21. DVD Extras. Schon bevor die DVD das dominante audiovisuelle Medium wurde, hatte ich mich dafür interessiert, wie Filme gemacht werden. Aber DVDs, mit ihren Featurettes und Audiokommentaren – und manchmal auch mit ernstzunehmenden Einblicken ins Filmemachen – haben meinen Blick auf die Filmwelt enorm geprägt. Ich habe sie alle geschaut und gehört, selbst dort, wo ich die Filme nicht besonders gut fand. Die Kombination aus Streaming und Zeitmangel durch Elternschaft hat dem leider weitgehend ein Ende gesetzt.
22. The Fellowship of the Ring. Was war das für ein Glück, dass ich in einer Zeit lebte, in der das 50 Jahre alte Buch, in das ich mich gerade verliebt hatte, dann auch noch grandios verfilmt wurde. An Fellowship brachen sich alle Dinge Bahn, die mich interessierten: Computer-Effekte, Internet-Hype-Kampagnen, Fantasy, eine fantastische Nutzung des DVD-Formats. Der Film meines 18-jährigen Lebens.
23. Futurama. Wo die Simpsons den Boden bestellt hatten, konnte Futurama ernten. Die nerdigere Variante von Matt Groenings und David Cohen Humor war eine große Faszination für mich. So sehr, dass ich alle fünf Staffeln vor der ersten Absetzung als DVD-Boxen besaß.
24. 65daysofstatic: Retreat! Retreat!. Mit dem Beginn meines Studiums begann für mich auch eine neue Ära der Musikentdeckung, besonders durch meinen Freund Carsten. Ich weiß nicht, wie sich mein musikalisches Leben ohne 65daysofstatic entwickelt hätte. Die Band hat so viele interessante Sachen in den letzten 20 Jahren gemacht, ihre Livekonzerte gehören zu meinen liebsten Dingen überhaupt. Und dieser erste Song, den ich von ihnen gehört habe, gehört immer noch zu den besten Songs aller Zeiten.
25. Neal Morse: One. Andererseits: Noch war meine Prog-Begeisterung lange nicht gebrochen. Als Spock’s Beard-Frontmann Neal Morse Anfang der 2000er sein Coming Out als Born-Again-Christ hatte und künftig nur noch christliche Prog-Alben machte, hat das, gemeinsam mit einigen anderen Faktoren, etwas in mir bewegt. Ohne Neal wäre ich wahrscheinlich nicht in der evangelischen Kirche und beim Kirchentag gelandet.
26. Pink Floyd: The Wall. Konzeptalben waren ein großes Ding für mich in der ersten Hälfte der 2000er und The Wall, zu dem es ja auch einen werden aber coolen Film gibt, war mein liebstes. Ich habe mich sehr ausführlich damit beschäftigt und meine Vorstellungen von gelungen transmedialen Erfahrungen, wie ich sie zehn Jahre später erforschen würde, wurden sehr davon geprägt. Aber nur damit das klar ist: Roger Waters kann hingehen, wo der Pfeffer wächst!
27. Zadie Smith: White Teeth. „Black British Fiction by Women“ hieß das Seminar, das ich im Anglistik-Studium eher aus Verlegenheit besuchte, und das mich in vielerlei Hinsicht erstmals dazu zwang, mich erstmals mit Marginalisierung, Feminismus und Postkolonialismus zu beschäftigen. Zadie Smiths Debütroman, der den Fächer der damit verbundenen Erfahrungen und Erzählungen weit aufmacht, war für mich der Schlüssel dazu. Zadie Smith hat mein Denken geprägt und bis heute gehört sie zu den wenigen Autor*innen, von denen ich kein Buch verpasse.
28. Cinematical. Ich habe auch eine Weile Ain’t It Cool News gelesen, aber Cinematical (RIP) war mein Einstieg in die US-Filmblog-Kultur, über die ich mein Film-Nerdtun lange Zeit gepflegt habe.
29. The Guardian Film Weekly. Mein allererster Podcast. Dass er mich geprägt hat, sieht man daran, dass ich heute selbst ein Format mit zwei Interviews pro Folge moderiere.
30. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Etwas hat „Klick“ bei mir gemacht, als ich von diesem 90 Jahre alten Buch das erste Mal hörte. Arnheim ist ein sehr konservativer Denker, aber er sein Verständnis davon, wie die Materialität des Mediums sein Output beeinflusst, entspricht einfach sehr gut meinem eigenen Kunst-Empfinden. Arnheims Text bildete dann einen Teil des Rückgrats meiner Magister-Arbeit, die leider aus anderen Gründen nicht das ruhmreichste Ende nahm.
31. Stefan Niggemeiers Blog. Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier war der erste deutsche Blogger, den ich bewusst wahrgenommen habe, erst über das Bildblog, dann über sein eigenes medienjournalistisches Blog. Ich muss einfach sagen, dass er auch ein großes Vorbild für mich war (und wahrscheinlich noch immer ist). Vielleicht nicht das beste, da ich immer wieder feststelle, dass ich von meiner Arbeitsweise ganz anders ticke, aber zumindest stilistisch glaube ich, dass er mich sehr beeinflusst hat. Fun fact: Zum ersten Mal persönlich miteinander gesprochen haben wir 2022.
32. Wired. Obwohl ich von Wired immer schon viel gehört hatte, hatte ich erst 2008 (nach einem USA-Urlaub) das erste Mal eine Ausgabe in der Hand und war sofort schockverliebt. Diese Art von Technikoptimismus passte exakt in diesen Moment meines Lebens zum Ende meines Studiums und zu beginn meines Berufslebens, das sich sehr bald stark in Richtung Online-Kommunikation drehen würde. Ich habe Wired kurz danach abonniert und ziemlich religiös gelesen. Erst als Chris Anderson als Chefredakteur ging, verlor ich das Interesse.
33. Slate’s Culture Gabfest. Dieser Podcast, den ich immer noch höre und zu dessen Hosts ich eine starke paarsoziale Beziehung habe, hat mich an das Podcastformat „stark moderierte Roundtable-Kulturdiskussion“ herangeführt, das ich viele Jahre später für meinen eigenen Podcast Kulturindustrie versucht habe, zu kopieren.
34. The Avengers. Als das Marvel Cinematic Universe noch keine Punchline war, sondern eine ganz neue Entwicklung – der Versuch, Erzählmechaniken aus seriellen Comics auf das Blockbuster-Kino zu übertragen – war ich völlig besessen davon. Ich fand die Idee einfach so revolutionär gut und neu. The Avengers halte ich für den Höhepunkt dieser Idee und bis heute für einen erstaunlichen Film.
35. This American Life. Die Art von Ira Glass und seinen Kolleg*innen, Radio zu machen, hat eine ganze Generation von Radioleuten und Podcastern beeinflusst. Auch mich hat sie von Anfang an gefangen genommen und sehr beeindruckt. Ich höre TAL immer noch jede Woche und lerne nach wie vor davon. Wenn es um den wahrhaft ausgelutschten Begriff „Storytelling“ im Journalismus geht, denke ich immer noch als erstes an TAL.
36. Simon Reynolds: Retromania. Auf der Suche nach dem Zeitgeist stieß ich 2011 auf dieses Buch, das in den kommenden Jahren als eine Art Prisma für meinen Blick auf große Teile der Kulturwelt diente (und das ich entsprechend oft zitiert habe). Interessanterweise denke ich, dass der Lebenszyklus des Buchs in den letzten zwei bis drei Jahren ein Ende gefunden hat, da sich der Eindruck einer „Hyper-Stasis“ (alles wird schneller, aber nichts verändert sich) vielerorts durch die am Horizont drohende Klimakatastrophe verändert hat.
37. re:publica. Lange bevor ich das erste Mal selbst auf die re:publica fahren konnte (2014) war sie ein Sehnsuchtsort. Der Raum, in dem sich alle Menschen trafen, die ich im Internet toll fand. Das beste: Bei meinem ersten Besuch (und auch meinem zweiten, wo ich zum ersten Mal selbst Speaker war) stellten sich viele Projektionen sogar als wahr heraus und ich hatte jedes Mal eine krasse Zeit. In den letzten Jahren hat, zugegeben, ein gewisser Gewöhnungseffekt eingesetzt.
38. Mark Rosewaters Kolumnen & Podcasts. Ich denke, der Head Designer von Magic: The Gathering ist einer der einflussreichsten Menschen in meinen Gedanken der letzten fünf Jahre. Erst im letzten halben Jahr habe ich den Eindruck, dass der Hype bei mir ein bisschen nachgelassen hat. Rosewater steht mit seiner Kolumne Making Magic und seinem Drive to Work Podcast für einen sehr transparenten Umgang mit Game Design und erklärt sehr regelmäßig genau, warum welche Entscheidungen für die Weiterentwicklung des komplexen Spiels getroffen wurden. Gleichzeitig ist er ein sehr sympathischer Typ, der seine Design-Lektionen auch gerne in Lebensweisheiten umwandelt.
39. Game Knights. Das YouTube-Format, in dem Menschen miteinander die Magic-Variante „Commander“ spielen, hat mir nicht nur das Format selbst nähergebracht, es hat mich (der sonst kaum YouTube-Formate schaut) auch viel darüber gelehrt, wie Spiele und Hobbys im Internet präsentiert werden können. Ich habe großen Respekt vor dem ganzen Team der „Command Zone“, die aus einem Zwei-Personen-Podcast ein kleines Nischen-Medienimperium mit einem dutzend Angestellten aufgebaut haben.
40. Terra Ignota. Ada Palmers vierbändiger Science-Fiction-Zyklus hat mich sehr beeindruckt und stark beeinflusst, wie ich derzeit über Science-Fiction, Worldbuilding und die Zukunft der Menschheit nachdenke.
Wie jedes Jahr folgt eine Liste der Songs, die mir in den vergangenen zwölf Monaten so gut gefallen haben, dass ich sie nicht nur gerne gehört habe, wenn sie zufällig im Shuffle kamen, sondern aktiv aufgesucht oder beim Durchskippen immer drauf hängen geblieben bin. Das qualifizierte sie dann irgendwann dafür, auf eine “Best of 2022” Playlist zu wandern, auf der ich in den letzten zwei Wochen noch einmal etwas ausgesiebt habe.
Diese Vorgehensweise ist ein interessanter Pattern des digitalen Zeitalters, aber es erleichtert auch ein wenig, sie inzwischen so kodifiziert zu haben. Genauso wie die Tatsache, dass ich ab 1. Dezember aufhöre, meine “Neue Musik für dich”-Listen zu hören, um mich ganz auf Rückschau und Genuss (z. B. ganze Alben durchhören) konzentrieren zu können.
1. The Beths – Silence Is Golden
NPRs “All Songs Considered” hat mich dieses Jahr auf diese coole neuseeländische Rockband gestoßen. “Silence is Golden” ist der Über-Banger des Albums “Expert in a Dying Field”, aber auch der Titelsong und der Rest der Platte lohnen sich.
2. Everything Everything – Bad Friday
Das Album, mit dem sich Everything Everything dieses Jahr zurückgemeldet haben, hat mich viel viel besser gefallen als die zwei davor. Die Lyrics wurden mit Hilfe einer KI geschrieben, aber was heißt das schon. Die Lead Single “Bad Friday” erinnert auf beste Art an ihren ersten Hit “MY KZ YR BF”, der in der Top 10 meiner Lieblingssongs aller Zeiten stehen dürfte.
I’m wondering: how did I get this battle over me? I got the pictures here on my phone.
Everything Everything
3. Fickle Friends – Love You To Death
Ich freue mich wirklich über diesen Strom an knalligen Pop-Formationen mit weiblichem Leadgesang. Fickle Friends war ziemlich sicher eine algorithmische Empfehlung, aber der Song (und Teile des Albums) macht auch einfach Laune.
4. Kae Tempest – More Pressure (feat. Kevin Abstract)
Rap ist nicht die Musik, die mir am natürlichsten zufällt. Es braucht schon irgendeinen Vibe, der mich über Beats und Text (den ich meistens erst spät wahrnehme) hinaus anspricht und bei “More Pressure” war das dieses Jahr der Fall. Kae war mir schon vorher ein Begriff und ich feierte bereits den Albumtitel “The Beigeness” vor acht Jahren, aber hier treten Flow und Musikalität noch einmal auf eine besonders gute Art heraus. Und natürlich könnte man sich “More pressure, more release, more relief, more belief” auch problemlos tätowieren lassen.
More pressure, more release, more relief, more belief
Kae Tempest
5. M Field – House and Leisure
Es gibt keinen Musiker, der mich in den letzten zwei Jahren mehr begeistert hat als Matthew Field. Vor allem mit seinen Soloplatten, aber auch mit seiner Band Beatenberg, die ich dieses Jahr live sehen durfte. Hier drückt einfach alles meine Knöpfe: die versteckt-komplexen Instrumentierungen und Grooves, die Stimme, die Harmonien, die Texte, die oft tongue-in-cheek von alltäglichem Kram und den daraus erwachsenen “großen” Gedanken erzählen.
And as the Amazon burns I water my little fern I bought on Amazon Prime
M Field
6. Aoife O’Donovan – Age of Apathy
Die Vorab-Single “Phoenix” war letztes Jahr schon auf meiner Playlist, aber auch der Titelsong des Albums ist einfach toll. Ich bleibe dabei: Aoife hat eine der schönsten Stimmen der Musikwelt überhaupt und ihre Songs verbreiten genau die richtige Melancholie.
Oh, to be born in the age of apathy When nothing’s got a hold on you, if you need someone to hold You can hold me
Aoife O’Donovan
7. Stromae – L’enfer
Ich habe dieses Jahr aufs Neue gemerkt, dass ich eine besondere Schwäche für Französisch als gesungene Sprache habe und bei Stromae verbindet sich diese merkwürdige Liebe mit dem vielleicht genialsten Stotter-Beat des Jahres. Das ganze Album “Multitude” ist ein großartiges Erlebnis – “Mon Amour” hätte ich am liebsten auch noch auf die Liste genommen. (Der wäre auch etwas weniger depri gewesen.)
8. Midlake – Bethel Woods
Teile von Midlakes Album haben etwas an sich, das mich auf einer subkutanen Ebene an 70er Genesis erinnert (“Feast of Carrion”). Das kommt in diesem Song nicht so deutlich raus, aber dafür hat es dieses treibende Schlagzeug, bei dem ich einfach nicht widerstehen kann.
9. Robert Glasper – Why We Speak (feat. Q-Tip & Esperanza Spalding)
Da auch R&B ein Genre ist, zu dem ich mich nicht so sehr von selbst hingezogen fühle, bin ich auch hier dankbar für “All Songs Considered”, die manchmal Titel anspielen, die auch für mich anschlussfähig sind. Ich kann zu dem Song trotzdem nicht viel sagen, außer dass ich ihn mag und die Mischung – auch in der Bilingualität und der Stimme von Esperanza Spalding – irgendwie stimmt.
10. Nilüfer Yanya – the dealer
Weckt bei mir Erinnerungen an Rocktitel aus den 90ern, aber mit einem moderneren Beat. Einfach ne gute Nummer.
11. And So I Watch You From Afar – Dive Pt 2
Meine großen Post-Rock-Zeiten liegen hinter mir, aber manchmal gelingt es Bands, mich doch noch mal hinter dem Ofen hervorzulocken. ASIWYFA haben das mit den Arrangements und der Dramaturgie des Albums “Jettison” dieses Jahr geschafft.
12. Gang of Youths – in the wake of your leave
Noch ein Album (“angel in realtime”), das sich in Gänze lohnt. Also, wenn man auf dramatischen Indierock mit großen Refrains steht.
13. half*alive – Move Me
Die Veröffentlichungspolitik von half*alive gibt mir zwar Rätsel auf (dieses Jahr erschien zunächst eine EP auf der Songs drauf waren, die zum Teil schon 2021 veröffentlich wurden, dann eine LP, auf der zum Teil noch mal die gleichen Songs waren), aber ihre Songs bleiben konstant gut und ungewöhnlich. “Move Me” ist der schönste der neuesten Charge.
14. Sergey Golovin – Factory
Sergey Golovin ist ein israelischer Gitarren-Wizard, der mich seit Jahren mit seinen Instrumentals erfreut. Seine ersten Alben klangen nach Dream Theater Anno 1992, “Factory” und die anderen Singles, die er dieses Jahr veröffentlicht hat, erinnern eher an Fitness-Motivations-Rocknummern aus den 80ern. Aber in geil.
15. Weezer – All this Love
Mein Sommer-Song 2022. Weezer im vollen Pop-Modus mit einem herzerwärmenden Post-Pandemie-Text. Hoffen wir, dass er sich nächstes Jahr endlich bewahrheiten kann.
I’ve got all this love that I’ve been saving up Let me let it out, let me let it out!
Weezer
16. MUNA – What I Want
MUNA begeistern mich bereits seit ihrem zweiten Album, aber hier ist mein dunkles Geheimnis: “Silk Chiffon” fand ich ziemlich langweilig. Gilt zum Glück nicht für den Rest des neuen Albums, und “What I Want” ist eine geniale Empowerment-Hymne, zu der ich hoffentlich irgendwann auch mal öffentlich tanzen kann. (Dieses Jahr beschränkte sich Tanzen auf die Firmenweihnachtsfeier und ich trug Maske dabei, worum ich aber im Nachhinein dankbar bin, denn die Menge an Corona-Meldungen vier Tage später machte keinen Spaß.)
17. Porcupine Tree – Rats Return
Was für ein Glück, dass sich diese drei Männer entschieden haben, doch noch ein Album zusammen zu machen. Bei “Closure / Continuation” ist der Name Programm, es bildet einen Abschluss eines erfolgreichen Albumzyklus, knüpft aber auch deutlich an alles an, was seit “In Absentia” kam. Und dazu gehören geniale Rhythmus-Riffs wie das in “Rats Return”. Instant Classic!
18. The Mars Volta – No Case Gain
Ich finde es gut, dass sich The Mars Volta mit dem unerwarteten neuen Album noch einmal auf neues, weniger proggiges Terrain gewagt haben. Nicht alle Songs sind bei mir hängengeblieben, aber dieser schon.
19. Remi Wolf – Sugar
Noch eine luftige Sommernummer. Für die gute Laune zwischendurch.
20. Regina Spektor – Becoming All Alone
Bei all dem Gerede über Interpolation, das dieses Jahr die Popmusik beherrschte, wundert es mich, dass niemand mal diesen Song und Aimee Manns “Wise Up” nebeneinandergelegt hat. Der Vibe ist schon sehr ähnlich, aber mich stört es definitiv auch nicht, zwei Lieder mit ihm zu haben.
And we wouldn’t even have to pay ‘Cause You Are God and You’re revered
Regina Spektor
21. Hans Zimmer & Andrew James Christie – Prehistoric Planet Theme
Serie nicht geguckt. Theme trotzdem immer wieder gerne gehört. So kann es gehen.
22. Von Wegen Lisbeth – Auf Eis
Sollte ich Von Wegen Lisbeth sauer sein, weil sie ein Lied gemacht haben, dessen Refrain lautet “Mach bitte, bitte, bitte keinen Podcast”? Kann ich nicht, weil sie gleichzeitig auch dieses Lied geschrieben haben, in dem sich der Protagonist mit der im Kreis fahrenden Claudia Pechstein identifiziert. Alberne Melancholie, sign me up. Bonuspunkte für den Reim von “Skaten” auf “Relaten”.
Ich interessier mich nicht für Skaten Und schon gar nicht auf dem Eis Doch ich kann gut mit ihr relaten Denn sie fährt die ganze Zeit im Kreis
Von Wegen Lisbeth
23. Peter Fox – Zukunft Pink (feat. Inéz)
Der Song, an dem man diesen Herbst nicht vorbeikam. Aber er ist auch einfach so gut. Ich hoffe es schreibt irgendwann jemand mal eine gute Analyse darüber, wie der Ragaton-Rhythmus zum dominanten Stilmittel der letzten zehn Jahre wurde.
24. Eule – Kapitänin der Band
Die “Eule findet den Beat”-Kinder-Hörspiele sind über die letzten Alben immer weniger kindermäßig geworden und enthalten einfach objektiv gute Songs (Hier mein Interview mit Schöpferin Nina Addin). Klar, der Text ist hier immer noch ein bisschen drauf gemünzt, das Instrument zu erklären (auf der ganzen Platte geht es darum, die Welt der Instrumente zu entdecken) – aber ich wünschte ich hätte als Mini-Schlagzeuger diesen Song gehabt. “Overdrive” vom gleichen Album steht “Kapitänin der Band” übrigens in nichts nach.
Jetzt spiel ich richtig laut Wenn sich der Song aufbaut
Eule
25. The Mountain Goats – Training Montage
Als jemand, der Musik selten wegen der Texte hört, dringen die Mountain Goats immer nur dann zu mir durch, wenn sie auch mal wieder einen Ohrwurm geschrieben haben. “Training Montage” vom Actionfilm-Konzeptalbum “Bleed Out” ist so ein Fall. “I’m doing this for revenge!” ist aber auch eine Textzeile, die sich sehr gut mitrufen lässt (mit Fistpump versteht sich).
26. Beatenberg & Msaki – White Shadow
Bitte noch einmal zu M Field (5.) zurückspringen und alles noch mal lesen. Diese Nummer ist dazu noch ein tolles Duett.
27. Harry Styles – Music For a Sushi Restaurant
Noch so ein Lied, dem man dieses Jahr nicht ausweichen konnte. Und immer Props für Songs, deren Refrain nur ein Bläser-Einsatz ist.
28. King Princess – Cursed
“Cursed” ist die Art Song, bei der ich erst nicht so sicher war, wie gut er mir gefällt, der mir dann aber immer wieder in den Kopf kam.
29. APRE – Submarine
Wie jedes Jahr haben sich auch 2022 die zwei Jungs von APRE mit einer ihrer Pop-Rock-Hymnen in meine Gehörgänge gewurmt und sind deswegen in dieser Liste vertreten.
30. Fergus McCreadle – The Unfurrowed Field
Mein Geheimtipp seit Jahren: Beim Mercury Prize gucken, welches Jazz-Album nominiert wurde. Dort finden sich häufig sehr mainstream-anschlussfähige Acts wie GoGo Penguin oder Moses Boyd. Dieses Jahr Fergus McCreadle, der einfache Themen am Piano über mehrere Minuten mit Trio variiert und immer weiter aufbaut. Sehr hörbar.
31. Roxette – Never Is A Long Time (EMI Demo May 26-30, 1987)
Marie Fredriksson ist vor drei Jahren gestorben, was mich immer noch jedes Mal traurig macht, wenn ich dran denke. Ihr musikalischer Partner Per Gessle veröffentlicht fröhlich weiter, sowohl neues Material (solo und als PG Roxette) als auch immer wieder ungewöhnliche Archiv-Funde, wie diese Version des Songs, der schließlich auf “Joyride” landen sollte und hier noch sehr nach 1987 und nach New Wave klingt. Faszinierend, wenn eine Band so regelmäßig Einblicke in ihren Produktionsprozess erlaubt.
Im Jahr 2009 hatte die Band Spock’s Beard eine harte Zeit. Ihr Frontmann, Visionär und einziger Songschreiber hatte einige Jahre zuvor eine Solokarriere gestartet, weil er Born-Again Christ geworden war. Die letzten zwei Alben, in denen die Band versucht hatte, zu zeigen, was das restliche Personal so produzieren kann, hatten sich nur mäßig verkauft. Spock’s Beard entschieden sich also, einen damals noch recht neuen, aber von anderen Bands mit hartem Fan-Kern wie Marillion vorgelebten, Weg zu gehen, und die Studiozeit für das neue Album X per Crowdfunding vorzufinanzieren.
Wie damals auch schon üblich gab es verschiedene Stufen, auf denen man die Band unterstützen konnte. Nur das Album, das Album und ein T-Shirt, diverse Deluxe-Ausstattungen. Das “Ultra Package” aber enthielt etwas noch Krasseres:
your name written into the lyrics of a new Spock’s Beard song. This track will include a vocal section where your name (or somone you choose) will be sung by the band. This will be a full band, fully-produced song that requires a long list of names be sung as part of the lyric.
Die Diskussionen in den Fan-Foren liefen heiß. War das eine gute Idee? Ging das nicht eine Spur zu weit in Sachen Gimmickiness? Es war ja eine Sache, Namen von Unterstützern in den Credits aufzulisten (wie es inzwischen jeder zweite Patreon macht), aber ein Lied mit 100 oder mehr Namen drin? Das konnte ja nur schief gehen.
Ich will mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber ich finde “Their Names Escape Me” ist vielleicht der beste Song, den Spock’s Beard in dieser Bandkonstellation geschrieben haben. (Und er ist nicht einmal auf der regulären Verkaufsversion des Albums enthalten.)
Im Text geht es um jemand (vielleicht einen Priester oder einen Seher), der vor ein Orakel geschleift wird. Die göttliche Kraft, die hinter dem Orakel steht, herrscht ihn an, er möge die Namen aller Verräter nennen, die “arms against the nation” führen würden. Der Priester bittet um Vergebung, dass er die Namen gegenüber seinem Gott nicht geheimhalten kann – und zählt auf. Erst ganz leise, dann immer lauter und wilder steigert er sich in den Verrat hinein, während die Musik hinter ihm anschwillt. (Wer nur mal reinhören will, dieser Teil beginnt bei 3:39 Minuten.)
“Their Names Escape Me” profitiert natürlich davon, dass 9-minütige Songs, in denen es minutenlange, langsame Steigerungen gibt, im Progrock, in dem sich Spock’s Beard bewegen, keine Seltenheit sind. Seine ernsthafte Stimmung wird an einigen Stellen dadurch gebrochen, dass Sänger Nick D’Virgilio Quatschnamen wie “Simon D’Progcat” singen muss. Aber ein Gimmick ist er auf keinen Fall. Er besitzt dafür, dass er im Endeffekt eine Crowdfunding-Belohnung war, eine erstaunliche Gravitas. Mir schaudert es heute noch wohlig an einigen Stellen, gerade in dem Wissen, das hinter den Namen echte Fans stehen, die bereit waren, ihre Band großzügig zu unterstützen (mein Name ist übrigens nicht dabei).
Crowdfunding Rewards auf Plattformen wie Steady, Patreon oder Kickstarter haben eine gewisse Routine erreicht. Auf den unteren Levels gibt es einfachen Zugang, auf den höheren besseren Zugang, persönliche Grüße, Credits, Autogramme und Merch. Das ist vollkommen in Ordnung so. Diese Plattformen sollen Künstler*innnen ja in erster Linie dazu dienen, ihnen Freiheit für ihre Kunst zu gewähren. Aber wenn es mal, wie in diesem Fall, dazu kommt, dass die Fans in der Kunst selbst verewigt werden können, gehört das zusätzlich gefeiert.
Unplugged-Musik hat eine feste Ästhetik bekommen. Was vor 30 Jahren, als MTV Unplugged startete, noch eine neue Idee war – Rockbands spielen ihre Songs “ohne Strom”, eigentlich also ohne Verzerrer, elektrische Tonabnehmer und Keyboardchips, ist inzwischen ein Satz an Konventionen, einem der voreingestellten Instagram-Filter vergleichbar. Elektrische Gitarren und Bässe werden durch akustische ersetzt, Keyboards durch Klaviere, dazu kommen je nach Budget ein paar Streicher. Der Schlagzeuger spielt statt mit Stöcken mit Power Rods, damit alles etwas sanfter klingt. Auf Streamingdiensten gibt es Künstler, die vermutlich gar nicht schlecht damit nebenbei verdienen, bekannte Rock- und Popsongs genau in dieser Ästhetik zu covern. Cottagecore für den Rock’n’Roll.
Ich höre immer wieder gerne ein etwas vergessenes Album, was dieses Prinzip etwas auf den Kopf stellt. Nick D’Virgilio, damals Kopf der Progtruppe Spock’s Beard und Sessiondrummer in diversen Projekten, und der Produzent Mark Hornsby kamen Ende der 2000er auf die Idee, das gesamte Magnum Opus The Lamb Lies Down on Broadway von Genesis zu covern, ein verschlungenes Doppelkonzeptalbum mit traumwandlerischer Story von 1975. Aber statt auf die bekannte Ästhetik zu setzen, klingt Rewiring Genesis, wie das Album am Ende heißen sollte, ziemlich einzigartig.
Längst nicht alle Stecker sind gezogen, es gibt durchaus elektrische Gitarren zu hören, und das Schlagzeug spielt mit ganzer Power, aber die für die Genesis-Besetzung der Ära typische Mischung aus 12-saitigen Gitarre´n mit vielen Effekten sowie analogen Synthesizern, E-Orgeln und experimentellen Tasteninstrumenten wie dem Mellotron, ist völlig aufgelöst. An ihre Stelle treten Streicher, Bläser, Melodikas, Akkordeons, A-Capella-Chöre und eine kleine Prise Jazz. Das Ergebnis hat die volle Wucht des Originals, es ist keine sanfte Akustikversion, die man leicht nebenbei hören kann, aber es klingt gleichzeitig ganz anders. Ein kleiner Vergleich:
Diese Art von Arrangements scheint Drummern zu liegen. Gavin Harrison, der Schlagzeuger von Porcupine Tree, hat vor ein paar Jahren auf seinem Soloalbum etwas ähnliches gemacht. Die von Gitarrenwänden und Keyboardflächen geprägten Songs der Band erschallen im hier vollends jazzigen Gewand auf ähnliche Weise genauso kräftig, aber eben anders.
Ich wollte eigentlich nur in der Erinnerungskiste wühlen und ein Album empfehlen , das zu meinen meistgehörten zählt (und das es leider nirgendwo digital zu kaufen oder zu streamen gibt).
Aber steckt darin vielleicht auch eine Lebensweisheit? Wenn es um digitalen Medienkonsum geht, ist ja auch oft die Rede davon, mal den Stecker zu ziehen und Digital Detox zu machen. Und tatsächlich tauchen dabei vor meinem geistigen Auge ähnlich geronnene Bilder auf, wie bei Unplugged-Musik – ein Bauernhaus auf dem Land, im Wind wehende Leinenstoffe, eine perfekt für den Katalog inszenierte Gemütlichkeit and not a cell phone in sight. Eventuell (auf jeden Fall für mich) ist auch in diesem Fall ein Rewiring die interessantere Lösung. Statt Handy und Laptop im Garten zu vergraben (wenn man denn einen hat), vielleicht einfach mal schauen, was man damit statt Doomscrolling machen könnte. Mal wieder Blogs lesen, statt Twitter. Mal wieder einen längeren Gedanken festhalten, statt eine Insta-Story zu posten. Die Aufmerksamkeit neu auswildern. Die Wucht behalten. Die Instrumentierung ändern.