Slave to the Music: 8 Thesen zu Eurodance

Eurodance ist eine merkwürdige Obsession von mir. Ich bin 1983 geboren, und damit fiel die dominante Zeit des Genres genau in die Zeit, in der ich begann, Popmusik für mich zu entdecken. Ich war sehr begeistert davon und mein Zimmer war übersät mit Postern von 2 Unlimited und Twenty 4 Seven. Recht gleichzeitig mit dem Ende des Eurodance-Booms jedoch hatte ich einen rockist turn und wandte mich komplett von elektronischer Musik ab. Statt also meine Studienzeit tanzend in Clubs zu verbringen, wurde ich zum Experten für Prog-Rock – so weit entfernt vom Dunstkreis “Techno”, wie man nur sein kann.

Vor einigen Jahren, im Zuge genereller Kindheits-Nostalgie-Neubewertung, habe ich Eurodance auch noch einmal neu betrachtet. Mir sind sofort ein paar Dinge an dieser kuriosen musikalischen Randerscheinung aufgefallen und ich wollte mehr dazu herausfinden. Also habe ich eine ARTE-Doku gesehen und ein paar Bücher gelesen. Wirklich gute gibt es nicht. Das Fan-Werk Move Your Body ist vor allem ein recht enzyklopädischer Überblick, Marcel Feiges Deep in Techno streift Eurodance nur sehr am Rande. Am aufschlussreichsten war das niederländische No Limits, in dem eine Menge Interview- und Recherchearbeit steckt, das aber am Ende doch vor allem unterhalten will.

Eurodance bleibt also vergleichsweise unentdeckt, vor allem, wenn es darum geht, es nicht nur als 90er-Nostalgie-Kuriosum, sondern als musik- und kulturgeschichtliches Phänomen zu begreifen. Mein Traum wäre es, an dieser Aufarbeitung mitzuwirken – ein Buch dazu zu schreiben oder einen Podcast zu produzieren. Das wird aber sehr wahrscheinlich nicht passieren, deswegen teile ich einfach an dieser Stelle in Form von acht Thesen schon mal die Gedanken, die ich mir bisher gemacht habe. Die meisten von ihnen sind relativ einfach und einleuchtend, aber ich finde, dass sie in ihrer Gesamtheit ein differenziertes Bild ergeben und das Potenzial einer guten Geschichte haben.

1. Eurodance ist die populäre Evolution von elektronischer Tanzmusik

Die Wurzeln des Eurodance liegen im Detroiter House (stampfende Beats) und im Hip-Hop (Rap-Gesang). Über die Übergangsform des Hip-House fügte Eurodance seinen Vorgängern etwas hinzu, was diese nicht hatten: mitsingbare Refrains (meist mit “Diva Vocals”) und Performer, die die Songs auf der Bühne verkörpern konnten. Damit wurde Eurodance zu einer Pop-Radio-tauglichen Evolution von allem, was sich unter Labels wie “Dance” oder “Techno” zusammenfassen lässt.

2. Eurodance war ein Strohfeuer …

“Rhythm is a Dancer” von Snap! gilt gemeinhin als der erste prototypische Eurodance-Track. Der Song wurde 1992 veröffentlicht. Der letzte richtig große Eurodance-Hit war Aquas “Barbie Girl”, fünf Jahre später. Wenn man großzügig ist, könnte man Eiffel 65s “Blue” und die Songs der Vengaboys noch dazurechnen, aber 1999 waren sie schon eher Außenseiter in der Popmusik-Landschaft. Die Jahre 1993 bis 1996 waren die dominanten Jahre des Eurodance, in denen die Jahres-Hitlisten voll davon sind. Wie die Kraans in No Limit anmerken, kann man die Zeit noch grob in zwei Phasen unterteilen, die der Pioniere (1992-1994) und die der Epigonen (1995-1996). Zu unterscheiden vor allem am Originalitätsgrad – etwa 2 Unlimited vs. Dolls United.

3. … mit spürbarem Einfluss

Musikgeschichtlich bekommt man immer ein wenig den Eindruck, die Welt sei spätestens 1996 aufgewacht, hat sich ein bisschen dafür geschämt, dass sie in den letzten drei Jahren etwas zu viel Ecstasy eingeworfen hatte, und hätte dann schnell so getan, als habe es Eurodance nicht gegeben. Elektronische Musik im Mainstream wurde gefälliger und weniger Popsong-mäßig (Gigi D’Agostino, Dario G), die restliche Popmusik konzentrierte sich auf Boygroups und Britney Spears. Aber nicht nur gab es natürlich weiter Eurodance-Acts und bis heute einen Revival-Circuit der auf der Nostalgiewelle reitet (meiner Ansicht nach der langweiligste Aspekt des ganzen Phänomens), aber die Kombi aus House Beats und Pop-Produktion war nach den 90ern einfach als ein Standard im Mainstream-Pop gesetzt, bis sie rund 10-15 Jahre später von den jetzt dominanten Reggaeton- und Afrobeats-Einflüssen abgelöst wurde. Der Siegeszug von “EDM” in den USA wäre ohne Eurodance schwer denkbar, denn in europäischen Clubs wurde zu diesem Zeitpunkt längst andere Musik gehört.

4. Es gibt zwei Geschichten des Eurodance

Dance/Techno/Wie immer man es nennen will, ist Musik von Producer-DJs für Producer-DJs. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich dieses Ökosystem kapiert hatte – dass also diejenigen, die die Musik am Computer bauen, in der Regel die gleichen sind, die sie später im Club auflegen. Eurodance hat dem (siehe 1.) eine weitere Komponente hinzugefügt: Personen, die die Songs auf einer Bühne performen, meist Sängerinnen und Rapper. No Limits war zwischen den Zeilen zu entnehmen, dass es dadurch im Grunde zwei Erzählstränge gibt: Die Performer reisten auf dem Erfolg ihrer Songs rund um die Welt und erlebten klassische Popstar-Höhen und -Tiefen. Sie kannten sich auch untereinander und feierten zusammen, weil sie gemeinsam auf Festivals und in Fernsehshows auftraten. Die Produzenten, die die Songs in der Regel (mit Ausnahme der Raps) geschrieben hatten, saßen zu Hause in den Studios, verdienten zwar teilweise auch viel Geld, aber waren meist weit entfernt vom Glitzern der Popwelt. Zwischen ihnen gab es auch allem Anschein nach wenig Austausch, obwohl sie die eigentlichen Architekten des Eurodance waren. In der Diskrepanz zwischen diesen beiden Geschichten liegt eine zu erforschende Spannung.

5. Was die Mainstreamisierung mit der Techno-Szene gemacht hat, ist mir noch nicht ganz klar

In Deep in Techno und anderen Berichten aus der deutschen Techno-Zeit in der ersten Hälfte der 90er Jahre (z. B. Der Klang der Familie) tropft die Verachtung für Eurodance und seine Nutznießer innerhalb der deutschen Szene, Leute wie Marusha oder Mark’Oh, aus jeder Pore. Die DJs, bei denen sich H.P. Baxxter in “Hyper Hyper” bedankt, waren der Legende nach alles andere als glücklich, in einem solchen Song aufzutauchen. Gleichzeitig hat der Mainstream-Boom elektronischer Musik mit Love Parade & Co zu enormer Popularität verholfen und dafür gesorgt, dass sie heute eine dominante Form von Ausgehkultur ist. In den Niederlanden, wo der Eurodance eher aus dem Gabber und Hardcore in den Mainstream geschwappt ist, schein mir das Verhältnis zu den Popstars von damals ein anderes zu sein. Ist das alles nur der übliche Beef, der immer entsteht, wenn ein Underground-Phänomen populär wird und sich “ausverkauft”, oder ist hier mehr im Spiel?

6. Eurodance ist ein europäisches Phänomen

Als ich 1999 das erste Mal in den USA war, war ich erstaunt, wie wenig die elektronische Musik, die ich in Europa als absolut dominant erlebt hatte, dort stattgefunden hatte. Einzelne Songs wie “Mr. Vain” waren zwar auch in den USA Charterfolge, aber “Techno” wurde dort eher als Randerscheinung belächelt, während Schwarze Musik, insbesondere R&B, ein wesentlich größeres Stück des Popmusik-Kuchens ausmachte. Eurodance ist Musik von Europäern für Europäer. Es ist eine Melange verschiedener Strömungen und Traditionen in der europäischen Pop- und elektronischen Musik – englischer Hardcore, Frankfurter House, niederländischer Gabber, Italo-Disco, schwedischer Pop im Kielwasser von Abba – der nur hier entstehen konnte.

7. Eurodance hat eine politische Dimension

Das ist der große Punkt, der irgendwie in allen Geschichten der Musik ausgespart wird, und bei dem ich gespannt bin, ob 90er-Kulturgeschichten wie das bald erscheinende Jahrzehnte-Buch von Pop-Historiker Jens Balzer mehr zu sagen haben. Irgendwas muss diese neu erwachte, knallbunte pan-europäische Feierkultur doch mit dem Fall des eisernen Vorhangs zu tun haben. Eurodance ist Party-Mucke mit sinnlosen Texten, in der es selten um mehr als Liebe und Freude am Tanzen geht, und eins von vielen Bildern, das man von den frühen 90ern haben kann, ist das einer nicht endenden Party. Im Allgemeinen wird diese Korrelation immer nur dem Techno zugeschrieben und nicht seinem Pop-Cousin, dem Eurodance. Aber die beiden gehören zusammen.

8. Eurodance bedeutete Sichtbarkeit für People of Color

Ich war sehr dankbar für einen Artikel von Nadia Shehadeh, die mich auf einen Aspekt von Eurodance aufmerksam gemacht hat, über den ich zuvor kaum nachgedacht hatte. Viele der Performer im Eurodance, vor allem Sängerinnen und Rapper, waren People of Color. Bei deutschen Eurodance-Acts waren es vor allem Menschen aus dem Umfeld des in Deutschland stationierten US-Militärs, die als PoC auf den Bühnen standen. In den Niederlanden waren es eher Menschen mit Wurzeln in ehemaligen Kolonien wie Surinam, am prominentesten sicherlich Anita Doth von 2 Unlimited. Wie Nadia schreibt, war diese Sichtbarkeit ein zweischneidiges Schwert, das sowohl große Diversität in der Pop-Welt, aber auch eine Exotisierung und Austauschbarkeit mit sich brachte. Ein Aspekt, den es auf jeden Fall zu bedenken gilt.

Ich freue mich auf Austausch zu diesem Thema. Gibt es noch andere Menschen, die sich mit diesem Blick dafür begeistern könnten? Gibt es jemanden, der einen Autor oder Podcast-Producer braucht, der sich dem Thema annehmen könnte? Ich wäre bereit.

4 thoughts on “Slave to the Music: 8 Thesen zu Eurodance”

  1. Merkt man eigentlich, dass ich seit kurzem wieder meinen Feedreader lese? :D Schon wieder ein schöner Text und schon wieder kann ich meine Klappe nicht halten.

    Ich bin nur unwesentliche 4 Jahr älter als du, hab die Zeit also auch voll mitgenommen und wär sehr daran interessiert, das mal kulturwissenschaftlich aufgearbeitet zu bekommen.

    Ich hätte zwei Anmerkungen:
    1. War nicht schon The Power von Snap ein prototypischer Eurodance-Song? Der hatte irgendwie noch eine gewisse Coolness, einen hiphopigeren Beat, weniger Kirmestechno, aber an sich waren alle Zutaten schon da und das Ding lief 1990 rauf und runter.

    2. Zu deiner These 5: Ich bin tatsächlich nach Eurodance direkt zu Techno weitergewandert und da auch bis heute geblieben. Nach meiner Wahrnehmung würde ich dir widersprechen, dass Eurodance einen Einfluss auf die Hochphase des Techno der 90er hatte. Man war da schon immer sehr drauf bedacht, sich abzugrenzen von allem was uncool ist. Das mag komisch klingen, wenn eine Over-The-Rainbow-Marusha als cool und real galt, ein Hyper-Hyper-Scooter aber nicht. Aber diese Abgrenzung gab es und da war auch wenig Vermischung.
    Techno und seine Auswüchse wie z.B. Happy Hardcore waren auch vor Eurodance da und bereits erfolgreich. Die kommerziell erfolgreichen Großraves hier bei uns, die so ab 89/90 starteten, hatten ihren Ursprung in der Acid-House-Bewegung Ende der 80er und in den Hardcore-Raves in Belgien und den Niederlanden. Aus diesen Ursprüngen heraus hat im Techno selbst dann eine Kommerzialisierung stattgefunden, in D mutmaßlich getrieben durch das Label Low Spirit (Westbam, Marusha, Members Of Mayday etc.), die auch wiederum vom Rest der Szene verachtet wurden :D, aber die eigentlich wenig anschlussfähig waren zu Eurodance.
    Sicher hat Techno Eurodance beinflusst und überhaupt erst ermöglicht, aber ich würde ernsthaft bezweifeln, dass es da einen Rückkanal gab.

    Und dann hab ich noch ne These 9 für dich: Eurodance lebt, aber nennt sich heute Hyper Pop! :D
    Ich hab keine Ahnung, ob das haltbar ist, aber ich fänd es naheliegend eine Verbindung zu ziehen von den 90ern über Lady Gaga zu dem überzuckerten Hyper Pop, der während der Pandemie seine bisherige Hochphase auf TikTok erlebte.

    Soweit meine Gedanken dazu. Lass mich da aber sehr gerne widerlegen :)

    1. Hi Thomas, vielen Dank, dass du dir Zeit für so viel Rückmeldung nimmst.

      1. “The Power” könnte man sicher als einen Vorläufer zählen, aber ich finde die richtige Formel hat sich erst in “Rhythm is a Dancer” verhärtet.

      2. Danke, da fehlt mir noch etwas zu sehr der Einblick in die genauen Strukturen (in “Deep in Techno” wird es beschrieben, aber ich hätte mitschreiben müssen, um mir alles zu merken ;-). Also wahrscheinlich waren die Rückkanäle eher unterbewusst, wenn überhaupt.

      3. Hyper-Pop? Vielleicht verstehe ich da das falsche drunter (ich habe da so Leute wie Charli XCX vor Augen), aber ganz sicher ist die Verbindung von Dance, Rap und Pop sehr lebendig und überall zu sehen, auch im K-Pop, würde ich sagen.

  2. Pingback: micro.wolfwitte.de

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *