Das Podcast-Jahr 2024 und der überraschende Wert von Kritik

Ich habe einen Traum. Ich wünsche mir einen Podcast, in dem andere Podcaster:innen lang und ausführlich zu ihren Podcasts interviewt werden. Vor meinem inneren Auge sieht das Ganze aus wie ein Mix aus dem Longform Podcast, der lange Interviews mit Journalist:innen (gelegentlich auch Podcaster:innen) führte und leider dieses Jahr eingestellt wurde, und Song Exploder. Das heißt: Man würde sowohl im Großen sprechen: Wie kam die Story zu Stande? Warum wurden welche dramaturgischen Entscheidungen getroffen? Aber man könnte sich auch mal eine Schlüsselszene vornehmen und diese auseinandernehmen, wie es Rob Rosenthal in Sound School gelegentlich macht. Da dieses Format ohnehin nur ein sehr kleines Nischenpublikum interessieren würde, sollte es nerdy sein und an unerwarteten Stellen in die Tiefe bohren. Wichtig fände ich aber auch, dass es unabhängig und kritisch ist.

Welcher Wert genau darin, in der unabhängigen und kritischen Betrachtung von Podcasts steckt, ist mir dieses Jahr bewusst geworden. Ich habe in LÄUFT (das übrigens dieser Tage seine 50. Episode feiert und zum Ende des Jahres wieder ein ambitioniertes Finale in den den Startlöchern hat, das nur am Rande) und schriftlich für “epd medien” eine ganze Reihe Podcasts kritisch besprochen. Außerdem habe ich Anfang des Jahres mehr aus Zufall eine Kurzkritik-Reihe namens “Höreindrücke” ins Leben gerufen, für die ich Podcasts austeste und nach zwei bis drei Folgen eine Einschätzung abgebe.

Feedback zum Feedback

Zu beidem war das Feedback von Macher:innen fast ausnahmslos positiv, selbst wenn ich nicht immer nur Gutes über die besprochenen Podcasts zu sagen hatte. Menschen freuten sich sowohl darüber, einen Eindruck über die allgemeine Formatlandschaft gespiegelt zu bekommen, als auch, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte, ihre Arbeit in Ruhe anzugucken, zu analysieren und ihnen Feedback dazu zu geben.

Anscheinend ist das selten genug. Die Podcast-Kritik-Kolumne auf “Übermedien” wurde vor einigen Jahren eingestellt. “SZ” und “taz” veröffentlichen regelmäßig Podcastkritiken, die aber irgendwie ziemlich unter dem Radar laufen. Es gibt immer noch den “Über Podcast” (in dem ich dieses Jahr erstmals zu Gast sein durfte, was mich extrem gefreut hat). Und ansonsten gibt es aus der Branche heraus – also von Leuten, die auch selbst Podcasts machen – vor allem Empfehlungen, zum Beispiel in Newslettern wie “Oh My Pod”. Das ist auch schön. Wer Orientierung im Podcast-Dschungel sucht, für den sind Empfehlungen genau das Richtige. Aber es scheint auch wirklich wertvoll zu sein, wenn einem mal jemand sagt, was für ihn oder sie nicht funktioniert hat. Ich kann nur sagen, dass mich das Feedback zum Feedback jedes Mal sehr gefreut hat.

Die fetten Jahre sind vorbei

Diese Art von Austausch stand für mich auch im Zentrum der einzigen Podcastkonferenz, auf die ich es dieses Jahr geschafft habe. Auf der “So Many Voices” in München ging es viel darum, Wissen miteinander zu teilen – auch Wissen über Arbeitsbedingungen in der Branche – und Ideen und Arbeitsweisen gemeinsam zu diskutieren. Es ging weniger darum, Erfolgsgeschichten (mit dem entsprechenden Survivor Bias) zu erzählen, was von außen oft mein Eindruck von anderen, größeren Veranstaltungen war. (Zum Beispiel in meinem Interview mit Christian Conradi zu “All Ears” im April.)

Ich weiß nicht, wieviel Unterschied all diese Gedanken am Ende unterm Strich machen in einem Podcastjahr, das, soweit ich das sehe, unter dem Motto “Die fetten Jahre sind vorbei” stand. Ich bin ohnehin kein großer “Branchenbeobachter” in dem Sinne. Hier sind die Analysen von Sandro Schroeder in “Hören/Sagen” für mich immer noch der Goldstandard. Selbst wenn ich seine Einschätzungen nicht immer teile, basieren sie auf einem kritischen Blick, der sowohl tief als auch weit ist. (Mein Leben besteht ironischerweise für diese Art von Beschäftigung immer noch zu wenig aus Podcasts und zu viel aus anderen Dingen, wie einem 30-Stunden-Brotjob, was gerne jemand ändern darf.) 

Ich kann also immer nur das einschätzen und spiegeln, was ich am Ende höre. Und das war dieses Jahr trotz allem immer noch eine Flut an neuen Podcasts, auch vieler Doku- und Storytellingpodcasts, sowohl von öffentlich-rechtlichen als auch von privaten Anbietern.

Neue Ideen

Ich habe dabei jedes Mal die Ohren aufgestellt, wenn ich den Eindruck hatte, dass mal wieder jemand etwas Neues probiert. Etwa im BR-Podcast In 5 Tagen Mord, der seine Story anhand einer Versuchsanordnung, oder wie man heute sagt: einer Challenge, erzählt, dabei unterhaltsam und lehrreich (meine Lieblings-Adjektivkombo) ist und am Ende als Bonus auch noch ein neues Hörspiel auswirft. Ich glaube, ich kann heute mit gutem Gewissen sagen, dass das Ergebnis mein Lieblingspodcast des Jahres ist.

Aber ich war auch sehr positiv überrascht vom Mordlust-Ableger Justitias Wille, obwohl ich mit dem Mutterformat absolut nichts anfangen kann. Ich fand die Idee einfach sehr clever, einen laufenden Prozess mit einem Podcast zu begleiten, der sowohl aktuelle Entwicklungen berichtet, als auch – vorproduziert – die Hintergrundgeschichte dazu. Logistisch hoch komplex, aber erzählerisch erstaunlich befriedigend.

Dieses positive Gefühl für Neues entsteht bei mir sogar bei einem Format wie Der Zerfall Babylons vom RBB aus dem Herbst, mit dem ich zwar aus anderen Gründen Probleme habe, dessen Grundidee, die Grenzen zwischen offenem Gesprächs- und abgeschlossenem Dokupodcast zu verwischen, ich aber für zumindest bemerkenswert halte.

Doppelmoderationen und Color Commentators

Gleichzeitig lässt sich natürlich auch wie jedes Jahr die Verhärtung einiger Trends beobachten, die dadurch nicht besser werden, dass man sie wiederholt. Mein größter Pet Peeve gegen Mitte des Jahres war der Einsatz von unangenehmen Doppelmoderationen. Dieses Format, in dem einer der beiden Hosts eine Geschichte mitbringt, und die andere Person darauf reagiert (ich nenne es gerne das “umgekehrte Interview”), ist ja in der Podcastlandschaft eigentlich ein alter Hut. 

Und es gibt jedes Jahr wieder Podcasts, die das auf Augenhöhe und mit guter Chemie hinbekommen (ich mochte zum Beispiel HDGDL von Kugel und Niere mit Christian Alt und Yasmin Polat). Aber oft genug wirkt es auch so, als wären entweder beide Personen nur auf Basis von Bekanntheit und vager Themenassoziation gecastet worden, oder – noch schlimmer – als hätte man nach altem Muster einem eher uninteressanten Mann einen jungen weiblichen Sidekick als Color Commentator zur Seite gestellt, damit auch alle Zielgruppen abgeholt sind. Bitte nicht mehr machen!

Persönliche Handschriften

Und damit kommen wir zu etwas, was ich (gefühlt) jedes Jahr wieder sage, und was deswegen nicht weniger wahr wird. Gerade Doku-Podcasts sind meiner Ansicht nach am eindrucksvollsten, wenn sie eine persönliche Handschrift tragen. Wenn die Person, die mich durch die Geschichte führt, etwas mitbringt, dass nur sie zu dieser Geschichte beitragen kann.

Damit meine ich nicht, dass sich alle Journalist:innen immer zwanghaft mit ihren eigenen Reaktionen auf die Erlebnisse ihrer Protagonist:innen in ihre Story einschreiben müssen – vor allem nicht wenn sie sich auf ein “Ich finde das ganz schön heftig” beschränken. Aber ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen beim Ringen mit dem Stoff, ihre Haltung finden sich irgendwo im Podcast wieder. Sie geben mir einen Grund, ihnen auf ihrer Reise zu folgen. Das muss nicht immer viel sein, aber es ist am Ende spürbar.

Für mich war das dieses Jahr in Podcasts wie Deutschland – Ein halbes Leben von Christian Bollert (detektor.fm/MDR) der Fall, im Guerilla-Projekt Lost im Bundestag (ARD) von Bianca Schwarz aber auch in KINO.TO – Die verbotene Streamingrevolution (Studio Soma/probono/ARD Kultur). Im letzten Fall ist die Host Maxie Römhild noch nicht einmal die einzige Autorin, aber sie ist trotzdem eine erfolgreiche Identifikationsfigur. Kurz vorm Schreiben dieses Artikels hat sich auch noch Becoming The Beatles (NDR) von Ocke Bandixen dazugesellt, der sich laut Beschreibung wie ein überflüssiger regionaler Dreh auf eine x-fach erzählte Geschichte liest, aber sein persönliches Herz so sehr am Revers trägt, das ich ihm erstaunlich schnell verfallen bin.

Mehr Kunst wagen

Um noch einen draufzusetzen: Wo es persönlich wird, darf es meiner Ansicht nach auch gerne ab und zu noch ein bisschen künstlerischer werden. Hier kann sich der narrative Podcast meiner Ansicht nach durchaus noch einiges von seinem Vorfahren, dem Radiofeature, abschauen, dem er ja mit gerechtfertigter jugendlicher Rebellion noch immer gerne den Mittelfinger zeigt, um sich lieber an glitzernden amerikanischen Vorbildern zu orientieren. Ein Projekt wie Goodbye Stranger (DLF) mag keine glattgeschliffene Geschichte mit perfekter Dramaturgie haben, aber es bietet eine emotionale und Nähe erzeugende Hörerfahrung, wie sie typische Storytelling-Podcasts selten zu bieten haben.

Natürlich fehlen in den vielen Zeichen, die ich bis hierher geschrieben habe, dutzende aufwändige Podcasts, die ich nicht gehört habe, obwohl ich mich noch nie so sehr bemüht habe, breit statt tief zu hören, wie dieses Jahr (was ganz schön stressig ist, übrigens). Schreib mir doch deinen herausragenden Lieblingspodcast, den ich vergessen habe (aber nicht deinen eigenen) gerne in die Kommentare. Vielleicht habe ich ja noch Zeit, reinzuhören.

Natürlich, eine Liste

Und weil Menschen Listen mögen, und sich aus einer Liste auch besser später ein Sharepic auf Instagram bauen lässt, liste ich hier noch einmal meine persönlichen Lieblings-Doku-Podcasts aus Deutschland für 2024 auf. Mir fällt auf: In einer Aufzählung wie dieser entwickelt die inzwischen typische Kombi aus Titel und Untertitel eine gewisse dadaistische Komik.

  1. In 5 Tagen Mord – Die Krimi-Challenge mit KI
  2. Justitias Wille – Leben in der Waagschale
  3. Deutschland – ein halbes Leben. 35 Jahre Mauerfall
  4. Rasenball: Red Bull und der moderne Fußball
  5. KINO.TO – die verbotene Streamingrevolution
  6. Becoming the Beatles – Die Hamburger Jahre
  7. Goodbye Stranger – Wie wir uns von unseren Vätern verabschieden

Und außerdem

Mein eigentlicher Lieblingspodcast des Jahres, den ich nicht müde werde, zu empfehlen, ist übrigens Politik mit Anne Will (Will Media), den ich ja auch schon in den “Über Podcast” mitgebracht habe. Hier freue ich mich jede Woche auf die neue Folge. Es ist einfach eine total gute Idee, ein aktuelles Politiker:innen-Interview zu führen, aber dann nicht dieses Interview in den Mittelpunkt des Podcasts zu stellen, sondern eine sachkundige Erörterung des Themas, in der das Interview nur als Indiz fungiert.

Und aus den USA? Ich habe dieses Jahr, etwas late to the Party, If Books Could Kill entdeckt, ein medienkritisches Gesprächsformat, das eine perfekte Kombi aus Wissen und albernem bis bissigem Humor vorzuweisen hat. Dieser Podcast gefällt mir so gut, dass ich Patron geworden bin und freiwillig mehr höre, obwohl ich einen vollen Podcast-Stundenplan habe. Außerdem kann ich jedem eine weitere Indieproduktion, Shell Game von Evan Ratliff, ans Herz legen, in der Ratliff auf sehr persönliche und nachdenkliche Weise die Möglichkeiten von KI-Stimmenklonen auslotet

Wenn ich abschließend eine einzelne Podcast-Folge nennen müsste, die bei mir dieses Jahr am meisten nachgewirkt hat, dann war es sicher “Why didn’t Chris and Dan get into Berghain?`” aus PJ Vogts Search Engine. Diese Episode (streng genommen sind es zwei) hat mir nicht nur eine Frage beantwortet, über die ich selbst schon oft gerätselt habe, sondern mich auch neu für elektronische Musik begeistert. Das muss man erstmal schaffen.

Dieser Artikel führt erfahrungsgemäß mehr Leute auf mein Blog als gewöhnlich. Hast du meine Ausführungen gerne gelesen? Dann überleg doch mal, ob du LÄUFT, den Podcast, den ich für epd medien und Grimme Institut produziere und hoste, nicht abonnieren willst. Dort gibt es alle zwei Wochen Interviews und Kritiken von mir zu Podcasts und verwandten Themen. Ich würde mich freuen.

Real Virtuality 2018 – Persönliche Highlights

Ich habe hier im Blog schon über Musik geschrieben. Meine Leseliste gibt’s auf Goodreads. Podcasts und Filme folgen (hoffentlich) noch. In diesem Post schreibe ich ein bisschen auf, was bei mir persönlich los war in diesem Jahr.

Für mich persönlich wurde 2018 von einem Ereignis dominiert, und wer mich online verfolgt ahnt natürlich, welches es ist. Auch dazu will ich ein bisschen was schreiben, aber es gab auch noch ein paar andere erwähnenswerte Dinge:

Der neue Job

Den habe ich eigentlich schon im September 2017 angetreten, aber dieses Jahr hat er dann angefangen Früchte zu tragen. Ich bin sehr gerne bei der Stiftung, bei der ich arbeite (die ich hier nicht nenne, weil dieser Post sonst wieder im Pressespiegel auftaucht), und ich konnte dort über’s Jahr einiges ausprobieren und vor allem weiterhin viel lernen, vor allem über Pädagogik und menschliches Miteinander. Ich durfte einen Kurs zu Gewaltfreier Kommunikation besuchen (sehr empfehlenswert), an einem Design Thinking Workshop teilnehmen, und mit vielen spannenden Menschen sprechen, die in Bereichen wie Sprachförderung, Interkulturelle Kompetenz oder Anti-Bias vor allem mit Kindern arbeiten. Zu sehen, wie Kinder im Kita-Alter – in dieser Alterskohorte hat rund ein Drittel der Deutschen einen Migrationshintergrund – miteinander forschen und lernen, gibt einem tatsächlich Hoffnung für die Menschheit.

Der Gedanke, der mir am meisten nachhängt, stammt aus einem Interview mit der Pädagogikwissenschaftlerin Frauke Hildebrandt. Sie hat darüber gesprochen, was gute Gespräche ausmacht. Ihre Meinung: Gemeinsam darüber nachzudenken, “warum die Dinge sind, wie sie sind, und ob sie nicht auch anders sein könnten”. Kann ich eigentlich so unterschreiben.

Kulturindustrie

Auch wenn wir im Mai aufhören mussten: Ich bin stolz auf diesen Podcast, der meinen Horizont enorm erweitert und mich viel gelehrt hat. Wenn die Dinge nicht so gekommen wären, wie sie kamen, würde ich mir die Arbeit jetzt immer noch gerne machen. Und ich hoffe sehr, dass die Sterne irgendwann wieder richtig stehen, damit ein ähnliches Format (das es nach wie vor nirgendwo in Deutschland gibt) noch einmal passieren kann.

“Unsichtbare Kunst”

Ich bin sehr dankbar, dass ich bei epd medien neben meinem Brotjob einen kleinen Zeh im Medienjournalismus behalten kann, an dem – das ist kein Geheimnis – mein Herz hängt. Meisten schreibe ich Hörfunkkritiken, ungefähr eine pro Monat, aber im Frühjahr hatte ich noch einmal Gelegenheit eine große Geschichte zu schreiben, über die Visual-Effects-Landschaft in deutschen TV-Produktionen. Die Recherche hat eine Menge Spaß gemacht, ich konnte mit persönlichen Heldinnen wie Barbara Flückiger sprechen, und auf den resultierenden Artikel bin ich doch recht stolz. Er ist immer noch online.

Podcasts

Nicht nur habe ich 2018 den Aufstieg und Fall meines eigenen Podcasts erlebt, ich habe auch den Boom des Mediums mitgenommen selbst sehr viele gehört. Die besten konnte ich regelmäßig bei “Piqd” empfehlen, was ich ebenfalls sehr genossen habe. Ich hoffe, ich kann noch einen eigenen Post zu meinen Lieblingsepisoden schreiben. Aber so viel steht fest: Ich liebe dieses Medium, ich beobachte mit Freude, wie es sich entwickelt, und ich warte gespannt auf das, was noch kommt.

Magic: The Gathering

Das hatte ich letztes Jahr schon im Jahresrückblick, aber ich muss es einfach noch mal erwähnen. Die Wiederentdeckung dieses bestimmenden Spiels meiner Teenagerzeit war mir 2018 ein wichtiger Anker. Als die freie Zeit rar wurde, und ich mir deswegen umso genauer überlegte, wie ich sie verbringe, war meine Antwort oft nicht Kino oder Lesen sondern Magic. Bei diesem Spiel fällt es mir leicht, in einer andere Welt abzutauchen, in der ich nicht Kritiker bin, einfach meinen Spaß haben und gleichzeitig mein taktisches Hirn trainieren kann. Noch dazu habe ich einen ganzen Haufen neue, nette Leute kennengelernt, mit denen das Spielen immer Spaß macht. Einziger Wermutstropfen: Mit dem tieferen Eintauchen in die Community und die Finessen des Spiels kann ich defintiv nicht mehr alles aufrechterhalten, was ich in meinem etwas unkritischen Post im Januar geschrieben habe.

Das Kind

Im April bin ich Vater geworden und, wie ich auch schon für “kino-zeit” mit Blick auf Gundermann aufgeschrieben habe, es verändert sich dadurch wirklich irgendwie alles (und nichts), zumindest dann, wenn man, wie ich, ein gleichberechtigter und gleichbepflichteter Elternteil sein möchte. Es stimmt auch, dass einen auf die emotionale Seite des Ganzen niemand vorbereiten kann. Viele Dinge muss man eben fühlen, um sie begreifen zu können.

Da ist zum einen die Verantwortung. Das hat mich wenige Tage nach der Geburt wie ein Hammer getroffen. Ich neige dazu, mir im Leben Optionen offen zu halten und habe entsprechend oft Jobs oder Wohnorte gewechselt, wenn sich mir neue Möglichkeiten geboten haben. Dabei bleibt natürlich immer auch etwas zurück. Von der Bindung an diesen neuen Mensch aber gibt es kein zurück. Ich bin für ihn verantwortlich. Ich hoffe, ich enttäusche ihn nicht.

Dann die Liebe, die sich erstaunlicherweise nicht sofort eingestellt hat. Zunächst hat die Überwältigung überwogen, gepaart mit einem unbedingten Bedürfnis, dieses fremdartige Wesen zu beschützen, Aber das echte Sehen, das echte Wahrnehmen jenes Wesens als einen Mensch in meinem Leben, kam erst mit der Zeit. Das Tolle ist allerdings: Jetzt kann ich der Liebe beim Wachsen zusehen. Sie wird jeden Tag größer (ich sitze immer noch manchmal da und habe das Gefühl, ich habe Herzchen in den Augen wie ein Smiley, und meine Bürokolleginnen können bestätigen, wieviel ich von meinem Kind rede), und der Unglaube vom Anfang, ist einem tiefen Vertrauen gewichen. Vor allem seit meiner Elternzeit im Herbst haben mein Kind und ich einen einzigartigen Draht zueinander – und mir ist jetzt klar: das ist das, wovon immer alle reden.

Eine starke Partnerschaft ist mit das schwierigste, was es zu erhalten gilt, dagegen sind Schlaflosigkeit und volle Windeln ein Pappenstiel. Da kommen plötzlich innere Dämonen zum Vorschein, von denen ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Ich bin regelmäßih aufs Neue dankbar, dass wir gut miteinander reden können, und uns auch trauen, das immer und immer wieder zu tun, wenn es notwendig ist. Falls ihr also darüber nachdenkt, euch Kinder anzuschaffen, übt das lieber schon mal vorher.

Und schließlich die Zeit. Ich habe wirklich so richtig krass unterschätzt, wie wenig Zeit man als Mensch mit Kind noch für sich hat, oder umgedreht: wie viel Zeit man vorher hatte, und wieviel man davon mit Dingen verbringt, die einem eigentlich wenig bedeuten. Das Ganze ist Segen und Fluch zugleich. Einerseits kann ich jetzt eben keinen Podcast mehr aufnehmen, nicht mehr 50 mal im Jahr ins Kino gehen, Videospiele durchspielen, auf dutzende Veranstaltungen gehen und nebenher bloggen, aber andererseits genieße ich die Kinobesuche, Freundetreffen und Spieleabende, die möglich sind, dafür jetzt viel mehr. Mir ist rückblickend aufgefallen, dass ich große Teile meiner Freizeit oft als eine Art To-Do-Liste begriffen habe, in denen möglichst viele Dinge erledigt werden mussten. Das hat sich jetzt ganz von selbst erledigt, und es hat mir insgesamt gesehen gut getan. Nur manchmal werde ich wehmütig und sogar ein bisschen bitter, aber auch das gehört dazu. Andere Eltern sagen ja: Es wird besser und normaler, so ab dem dritten Lebensjahr.

Die Sängerin Brandi Carlile hat in ihrem Lied “The Mother” Ende 2017 ganz gut auf den Punkt gebracht, wie man manchmal innerlich abwägt, aber natürlich nur auf einer Seite rauskommen kann:

Outside of my windows are the mountains and the snow
I hold you while you’re sleeping and I wish that I could go
All my rowdy friends are out accomplishing their dreams
But I am the mother of Evangeline

And they’ve still got their morning paper and their coffee and their time
And they still enjoy their evenings with the skeptics and the wine
Oh, but all the wonders I have seen, I will see a second time
From inside of the ages through your eyes.

Ich habe ja insgesamt eine eher additive Vorstellung von menschlichen Beziehungen. Andere Menschen füllen für mich keine Lücken in unseren Herzen, die wie bei Gundermann “verlassene Häuser” sind. Wir sind auch alleine gut genug und brauchen weder Partner noch Kinder, um uns zu “vervollständigen”. Aber ohne andere Menschen wäre das Leben auch um ein vielfaches langweiliger, ärmer und weniger aufregend. Und dieser neue Mensch in meinem Leben, neben dem ich jeden Abend einschlafen und jeden Morgen aufwachen darf, ist auf jeden Fall genau die Herausforderung und die Bereicherung, die ich gebraucht habe. Und ich kann nicht erwarten, womit er mich noch alles überraschen wird.

Ich bin sehr glücklich, dass mein Kind sehr kommunikativ und überhaupt nicht schüchtern  ist, mit großen Augen die Welt erkundet und so langsam auch den Eindruck macht, als würde es hart über vieles nachdenken, was es sieht. Damit erobert es auch in der Öffentlichkeit, ob im Bus oder im Supermarkt, regelmäßig die Herzen selbst der bluetooth-headsettigsten Businesskasper. Und ich genieße in der Regel die Interaktionen, die daraus entstehen, denn die meisten sind positiv. Das schönste Kompliment des Jahres, zum Beispiel, haben Kind, Mutter und ich heute von einer Kellnerin bekommen: “Euer Kind ist super, ihr solltet dringend noch mehr kriegen!”

Ist vorerst nicht geplant. Aber ein gutes Gefühl, dass man in die Feiertage und ins neue Jahr mitnehmen kann. Ich wünsche euch eine gute Zeit mit den Menschen, die euch bereichern, und alles Gute für 2019.