Sprawl-Trilogie: Die perfekten Sequels

Buchcoverdesigns vom Gollancz-Verlag

Nachdem ich Neuromancer schon als Teenager das erste Mal gelesen habe (und 2021 erneut), habe ich in den letzten Wochen auch die anderen beiden Bände der Sprawl-Trilogie von William Gibson, Count Zero (deutscher Titel Biochips) und Mona Lisa Overdrive gelesen (den Erzählband Burning Chrome hole ich irgendwann noch nach).

Die Romane entstanden zwischen 1984 und 1988. Über ihren Charme, ihre Coolness und ihre prägende Zukunftsvision (mit einigen hellseherischen Passagen, wie dieser Tweet von mir zeigt, den Gibson retweetete und der daraufhin viele Likes bekam, und mit einigen putzigen Anachronismen etwa zur Bedeutung des Fax) ist längst genug gesagt und geschrieben worden. Was ich aber vor allem auch bemerkenswert fand, ist, wie gut die Bücher als Franchise funktionieren und als Sequels aufeinander aufbauen.

Fortsetzungen haben ja häufig das Problem, das sie eine Figur aus einer abgeschlossenen Geschichte “reaktivieren” müssen, obwohl diese in der Regel ihren dramatischen Spannungsbogen bereits abgeschlossen hat. Kommt dazu noch das Gefühl, das eine Fortsetzung eigentlich nicht reicht, sondern man am besten gleich aus einer Geschichte im nächsten Schritt eine Trilogie machen muss, wird es noch komplizierter, da der mittlere Teil einer Trilogie schon fast traditionell unabgeschlossen ist. Patrick Willems hat das ganze Problem einmal gut aufgeschlüsselt: Why Is It So Hard to End a Trilogy?

Das Ergebnis ist häufig etwas, das sich so aufzeichnen lassen könnte:

Struktur typischer Sequel-Trilogien (z. B. Matrix)

Die Handlung folgt der gleichen Hauptfigur (ab Teil 2 häufig um weitere Figuren erweitert) über drei Teile hinweg relativ linear. Die Spannungsbögen splitten sich, wie oben beschrieben, eher in zwei ungleiche Hälften als in einen großen oder drei einzelne und der thematische Schub der Trilogie mäandert ein wenig, weil er durch die unterschiedlichen Bedingungen in verschiedene Richtungen gezogen wird.

Die drei Bücher der Sprawl-Trilogie sind deutlich loser miteinander verbunden, und ich finde das ist eine große Stärke. Neuromancer erzählt die Geschichte des Hackers Case und der Söldnerin Molly, wie sie gemeinsam das Geheimnis einer KI namens Wintermute knacken, die von einer reichen Familie entwickelt wurde. In Count Zero kämpfen mehrere Charaktere um eine neu entwickelte Matrix-Technologie namens Biochips, die dazu führt, dass sich das weltweite Netzwerk verändert. Keiner der Charaktere aus Count Zero kommt auch in Neuromancer vor, aber die Auswirkungen der Geschehnisse aus Teil 1 sind spürbar. In Mona Lisa Overdrive wird Angie, eine Nebenfigur aus Count Zero, zu einem Point-of-View-Charakter, eine der Hauptfiguren aus Count Zero und Molly aus Neuromancer tauchen in tragenden aber nicht in POV-Rollen auf. Erneut arbeitet das Buch den “Fallout” der vorausgehenden Ereignisse auf.

Das Ergebnis würde ich etwa so skizzieren:

Struktur “Sprawl-Trilogie”

Jedes Buch hat einen abgeschlossenen Spannungsbogen, der den jeweiligen Hauptfiguren (Case in Neuromancer, Turner und Marly in Count Zero, Kumiko, Slick und Angie in Mona Lisa) ein befriedigendes Ende schenkt. Die Handlung jeder Fortsetzung setzt aber in einem Winkel zum vorhergehenden Band an (ich suche hier noch nach dem richtigen schlauen Wort – lateral? tangential?) und hat mit seinem Vorgänger immer nur am Rande zu tun.

Der thematische Bogen aber, in diesem Fall die spirituelle Veränderung der Matrix, des Internets, durch das Selbstbewusstsein von künstlichen Intelligenzen (auch ein Thema was gerade neue Aktualität erlangt), bleibt über die ganze Trilogie konsistent und öffnet sich immer weiter. Dadurch, dass die einzelnen Handlungen in sich geschlossen sind, entsteht kein Zwang, am Schluss von Band 3 die ganze Trilogie auch noch zu einem Ende zu bringen, das so zufriedenstellend ist wie das Ende des ersten Teils. Gleichzeitig ermöglichen die unabhängigen Handlungsstränge eine große Erweiterung des Worldbuildings ohne dass eine Hauptfigur nach dem “schneller, höher, weiter”-Prinzip in Fortsetzungen auf abenteuerliche Reisen geschickt werden muss, um mehr von der angerissenen Welt zu zeigen.

Ich bin seit langem Fan dieser Art Erzählens, das sich berührt und aufeinander aufbaut, ohne rein linear zu verlaufen (1, 2, 3, MCU Phase 1). Ich wünschte, viel mehr Geschichtskosmen würden so arbeiten. Bei einer Romanserie über die Matrix ist das alles natürlich noch mal mehr on point. Count Zero und Mona Lisa Overdrive haben nicht den Ur-Punch von Neuromancer, aber sie sind perfekte Sequels. (Dass Gibson im Laufe der Zeit seinen Frauenfiguren mehr Tiefe und Vielfalt gibt, ist ein Plus.)

Qualityland

Marc-Uwe Kling beherrscht etwas, was ich das “Humor-Sandwich” nenne. Wie bei allen Satirikern steckt unter Szenen, die oberflächlich witzig sind, eine Scheibe Ernst, doch er untergräbt meist auch den Ernst noch einmal mit einer weiteren Scheibe Humor, was ich für wichtig halte.

Spätestens seit dem dritten Känguru-Band hat er außerdem bewiesen, wie gekonnt er mit Genre- und Erzählstrukturen umgehen kann. Daher versucht Qualityland natürlich ein dystopischer Roman zu sein, der sich an alle Regeln von 1984 und Co hält (Heldenreise eines Einzelnen, der gegen das System rebelliert; Liebe als Motor; Lektionen von einem Mentor außerhalb des Systems; Begegnung mit dem Mächtigen; System erweist sich als robust), und sie gleichzeitig unterwandert (zum Beispiel, indem große expositionelle Info-Dumps von den Charakteren selbst als langweilig kommentiert werden, bezeichnend finde ich aber vor allem auch die Sympathie, die Kling den Maschinen entgegenbringt).

Die Ideen, die dabei entstehen, sind alle nicht neu (Maschinen, die menschlicher sind als Menschen, ist seit Frankenstein ja quasi der Urknall der SF), und die Systemkritik ist für eine informierte Internetleserin alles andere als überraschend, aber es gehört schon eine Menge Können dazu, das Ganze so nahtlos und unterhaltsam zu bündeln. Und eben, sich nicht von der Ernsthaftigkeit mancher Gedanken erdrücken zu lassen, sondern noch eine hoffnungsvolle Scheibe Humor drunterzuschieben, wie es vielleicht auch der Shruggie tun würde.

Unentschieden bin ich, ob ich es gut finde, dass Kling nicht auf Querverweise in sein Känguruverse verzichten kann. Aber ich habe meistens gelacht und nicht gestöhnt, was ich mal als gutes Zeichen werte.

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Vier Bücher, die mir geholfen haben, Hollywood zu verstehen

Mit welchem Vorwissen müssen Filmkritiker*innen an Filme herangehen? Für die Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk Film sollte, so will es die Hermeneutik, zunächst einmal nur das zählen, was wir auf der Leinwand sehen. Zu viel Wissen um Entstehungsprozesse, Motivationen und Wünsche der Beteiligten, behauptete Zielsetzung, kann den Blick trüben für das, was am Ende herausgekommen ist. Doch die meisten Menschen, die sich kritisch mit Filmen auseinandersetzen, sind auch vom Filmemachen als technischem Prozess, als Geschäft, als kulturelles Gesellschaftsphänomen fasziniert und im dominantesten Filmland der Welt sind diese Faktoren extrem stark mit der künstlerischen Seite des Filmemachens verwoben. Wer wie ich sogar am allerliebsten über Filme als Material, Produkt und Kunstwerk nachdenkt, sollte auf Wissen darüber zurückgreifen können, wie Filme eigentlich gemacht werden.

Die beste Methode, um zu verstehen, wie Filme in die Welt kommen, ist, selbst welche zu drehen. Nicht wenige Filmkritiker*innen haben irgendwann diesen Schritt gewagt, von der Nouvelle Vague bis zur Berliner Schule. Doch selbst wer einmal selbst einen Film gedreht hat, kann oft nur erahnen, wie es ist, einen Film im System von Hollywood zu drehen. Zum Glück entstehen immer wieder Bücher von Filmwissenschaftler*innen, Journalist*innen und Filmemacher*innen selbst, die Aufschluss geben über die menschlichen, technischen und kommerziellen Prozesse, die hinter den Filmen stehen. Vier Bücher, die mir persönlich – neben zahlreichen Gesprächen und Artikeln – dabei geholfen haben, einen Eindruck von diesen Prozessen zu bekommen, möchte ich heute vorstellen. Die Liste ist sehr persönlich und weit davon entfernt, vollständig zu sein. Ich freue mich über Ergänzungen in den Kommentaren.

1. Thomas Schatz – The Genius of the System

Hollywoods Erfolgsgeschichte beginnt in den 1910er-Jahren, in denen auch viele ihrer später typischen ästhetischen Merkmale bereits ausgeformt werden. Doch die US-Filmindustrie erreicht ihre erste “Goldene Ära” in den 1930er und 1940er Jahren. Der Filmhistoriker Thomas Schatz zeigt in seinem Buch anhand dreier Studios – Universal, MGM und Warner Bros. – auf, wie sich das ab den 1920er Jahren etablierte “Studiosystem” mit seinen Schauspiel-, Drehbuch-, Regie- und Produzentenstars entwickelte. Dazu folgt er sowohl der Karriere einzelner Produzenten-Persönlichkeiten, die teilweise auch von Studio zu Studio wechselten, als auch den Geldern, die für die produzierten Filme ausgegeben wurden. Das Ergebnis ist ein faszinierendes Porträt einer Branche im Auf- und Abwind, in der viele Prozesse festgeklopft wurden, die auch heute noch gelten.

The Genius of the System wird von Kritiker*innen zurecht vorgeworfen, dass es sich ganz der “Great Man Theory” verschrieben hat, welche einzelnen Personen – in der Regel Männern – in Schlüsselpositionen übermäßig viel Bedeutung zumisst. Das sollte jede Leserin und jeder Leser beim Lesen im Hinterkopf behalten. Schatz hat eine These, an die er glaubt, er beschreibt auch den Mythos einer goldenen Ära von Männern, die Kreativität und Geschäft gleichermaßen koordinieren konnten. Für ein Gesamtbild der Zeit fehlen viele Aspekte. Aber für das Verständnis von Hollywood heute ist es essentiell, auch den Mythos zu verstehen. Im Hollywood’schen Selbstverständnis wird sich auf ihn heute immer noch bei jeder Gelegenheit berufen. Manchmal werden sogar seine Mechanismen neu angewandt.

2. Peter Biskind – Easy Riders, Raging Bulls

Jeder Mythos braucht seinen Gegenmythos – die Geschichte davon, wie die etablierte Version einer Idee revolutioniert wurde. Im Fall von Hollywood ist das “New Hollywood” der Gegenmythos zum “Golden Age”. Junge Regisseure rebellieren, kapern das System und machen Filme, die ganz anders sind, als das, was man zuvor kannte. Wohl niemand hat diesen Schub so umfangreich eingefangen wie Peter Biskind in seinem aus vielen Interviews und Recherchen zusammengesetzten Buch Easy Riders, Raging Bulls, benannt nach den Filmen, die er als Start- und Endpunkt des New Hollywood begreift.

Große Teile von Easy Riders, Raging Bulls bestehen aus Gossip, Anekdoten, Selbst-Beweihräucherungen und He-said-she-said-Differenzen zwischen Filmemacher*innen und Stars. Dazu kommt Biskinds eigener, sehr parteiischer Kommentar. Das mag nicht besonders wissenschaftlich sein, aber es sorgt dafür, dass das Buch sehr amüsant zu lesen ist – und durch all diese zutiefst menschlichen Erlebnisse und Marotten seiner Protagonisten einen sehr direkten Eindruck davon vermittelt, was diejenigen, die damals den nächsten Mythos schafften, dabei empfunden haben und wie Hollywood als abstraktes System damit umging. (Wahrscheinlich gerade weil es weniger mythisch durchsetzt ist, ist das Nachfolgebuch Down and Dirty Pictures über den Indie-Boom der 90er längst nicht so gut.)

3. Sidney Lumet – Making Movies

Es gibt nicht viele Regisseur*innen, die sich gerne ausführlich dazu äußern, wie genau ihre Filme entstehen, und wir können froh sein, dass Sidney Lumet einer von ihnen ist. Making Movies ist keine Autobiografie und kein Lehrbuch. Es ist eine Reflektion von Lumet darüber, wie er in der Regel Filme dreht, vom Drehbuch bis zum Schnitt. Lumet ist deswegen so ein perfekter Autor, weil er in seiner langen Karriere viele sehr unterschiedliche Filme gedreht und seinen Stil über die Jahre auch verändert hat.

Um den filmemacherischen Prozess zu verstehen ist Making Movies wahrscheinlich sogar besser als die vielen tollen Interviewbände mit Regisseur*innen, die existieren, denn das Buch besitzt keinen journalistischen Fokus. Es geht nicht darum, den Filmemacher besser kennen zu lernen. Stattdessen entdecken wir seine Arbeitsweise und erfahren dabei vielleicht vieles, was wir – ohne selbst an einem Hollywood-Filmset gewesen zu sein – so nie gedacht hätten. So ging es mir zumindest.

4. Kristin Thompson – The Frodo Franchise

Moderne Filme sind oft keine mehr. Sie sind nur das Herzstück in einem gigantischen Paket aus Paratexten, Marketingmythen, Tie-in-Produkten, Fan-Beziehungen und globalen Finanzgeschäften. Die Lord of the Rings-Trilogie von Peter Jackson ist eines der ersten Filmprojekte des 21. Jahrhunderts, das dieses Bewusstsein vollständig verinnerlicht hatte, und Kristin Thompson ist durch einen Glücksfall wahrscheinlich die Person, die dieses Bewusstsein mit so viel Zugang studieren durfte, wie kaum jemand vor oder nach ihr. Dabei besitzt sie genau die richtige Mischung aus Fan-Fachwissen und jahrelanger Erfahrung in wissenschaftlicher Distanz – und das macht ihr Buch zu einem Standardwerk über das Hollywood der Franchise-Ära.

Thompson konnte sehr offene Gespräche mit fast allen führen, die an den Lord of the Rings-Filmen irgendwie beteiligt waren, von Produzent Barrie Osborne bis zu jenen Menschen, die die Electronic Press Kits für Journalisten zusammenstellen. Gleichzeitig war sie von Anfang an stark in der Fanszene aktiv und hat dort beobachtet, wie sich die Dynamik zwischen Filmemachern und Fans über das noch relativ neue Internet entwickelt hat. Einiges von dem, was sie beobachtet, gehört heute zum Standard, anderes ist eine Besonderheit dieses Filmprojekts, aber fast alles hat die kommenden Jahrzehnte aus Four-Quadrant-Blockbusters, Superheldenfilmen, Cinematic Universes, Sequels, Reboots und Transmedia Storytelling stark beeinflusst.

Noch einmal der Aufruf, diese Liste in den Kommentaren zu ergänzen.