Walt Disney Pictures
“Ralph reicht’s” ist das Originellste und Zeitgenössischste, was Walt Disney Feature Animation seit einiger Zeit hervorgebracht hat. Ich stehe voll hinter meiner Kritik des Films in der letzten “Close up”-Sendung – der Film ist voll mit cleveren und witzigen Ideen, und die Dynamik und das Schauspiel seiner beiden Hauptcharaktere ist großes Kino. Rich Moore weiß, was er tut, das hat er bei unzähligen “Futurama”- und “Simpsons”-Folgen bewiesen, und außerdem gebührt jedem ein Schulterklopfen, der sich dem Thema Videospiele überhaupt mal auf bessere Weise annimmt als, sagen wir, Resident Evil.
Und doch gab es da ein paar Dinge, die nicht aufhören an mir zu nagen, und die ich natürlich in eine Vier-Minuten-Fernsehkritik nicht hineinquetschen konnte.
Spoiler für Ralph reicht’s ab hier.
Ralph reicht’s basiert auf der Prämisse, dass hinter den Schirmen einer Videospiel-Arcade eine uns unbekannte Welt existiert, in der sämtliche Figuren, die in den Videospielen vorkommen, ein eigenes Leben führen. Wenn die Videospiele gespielt werden, ist das für sie wie Arbeiten. Doch wenn gerade keiner spielt, zum Beispiel nachts, interagieren die Figuren nicht nur innerhalb ihres Spiels autark miteinander, über die Stromleitungen und die Verteilersteckdose, an der die Arcade-Automaten hängen, können die Figuren auch ihr Spiel verlassen und in andere Spiele wechseln, zum Beispiel um zu “Anonymen Bösewichter”-Treffen zu gehen.
So weit, so gut. Nach einem ähnlichen Prinzip operiert jeder Film dieser Art, der eigentlich unbelebten Dingen für den Zweck einer Geschichte Leben einhaucht. Und fast immer geht es dabei in einer Art Determinismus-Meditation um genau dieses Spannungsverhältnis zwischen “Gegenstand, der von Menschen für einen Zweck hergestellt wurde” und “Selbst denkendes und fühlendes Wesen”.
Am Beispiel Toy Story lässt sich das sehr gut demonstrieren: Die Spielzeuge in Andys Zimmer führen ein Eigenleben mit ihren internen Querelen, sie sind aber unter dem Banner des Spielzeuge-von-Andy-Seins vereinigt. Als ein neues Spielzeug, Buzz Lightyear, diese Dynamik stört, weil er noch nicht weiß, dass er ein Spielzeug ist, entsteht ein Konflikt, der dadurch gelöst wird, dass Buzz in seiner Identität als Spielzeug eine erfüllende Aufgabe und keine Abwertung seines Charakters sieht.
Damit Toy Story funktioniert, muss es natürlich einige ungeschriebene Regeln geben, nach denen die Welt des Films operiert. Allen voran gilt, dass die Menschen auf keinen Fall merken dürfen, dass die Spielzeuge in ihrer Abwesenheit lebendig sind. Diese Regel wird nie direkt ausgesprochen, aber einer der Höhepunkte des Films entsteht daraus, dass die Regel bewusst und kontrolliert gebrochen wird, um Nachbarsjunge Syd einen Schrecken einzujagen. Die Logik dahinter ist nachvollziehbar und es braucht keinen großen “Leap of Faith”, um sich vorstellen zu können, dass auch unsere Welt nach Toy Story-Regeln funktioniert.
Bei Ralph sieht das ganze anders aus. Adam Quigley brachte im /Filmcast die Probleme des Films ziemlich gut auf den Punkt: “There’s so many rules they have to set up during the film, at a certain point it becomes exhausting just keeping track of all the expositional format of how this world can operate.” Auch Christopher Orr hat im “Atlantic” angemerkt “Unlike the Pixar films toward which it aspires — which marry sophisticated conceits to straightforward storylines— Wreck-It Ralph consistently gets lost in its own intricate plot mechanics.”
In Rich Moores Film sind die Regeln nicht nur allgemein gültige Prinzipien, die sich natürlich aus der Konfiguration der Handlung ergeben – etwa, dass das Spiel nicht mehr funktioniert, wenn es einer der Charaktere verlässt. Es werden vielmehr zusätzlich alle möglichen Regeln und Meta-Regeln eingeführt, die nicht durch interne Logik motiviert sind, die der Film aber braucht, um zusätzlich zu Ralphs innerem Identitäts-Konflikt auch noch einen äußeren Konflikt herzustellen, der den Plot des Films vorantreibt.
Ein paar Beispiele: Wenn ein Spiel vom Netz getrennt wird, sterben alle Charaktere darin, außer sie retten sich vorher (Was ist bei Stromausfall?). Wenn man in seinem eigenen Spiel stirbt, respawnt man, wenn man in einem anderen Spiel stirbt, nicht. Wenn einem Spiel die Einmottung droht, kann man durch die Stromleitung aus dem Spiel fliehen, außer man ist ein “Glitch”, wie Vanellope, dann ist man in seinem Spiel gefangen. Wenn ein Glitch Sugar Rush gewinnt, wird das Spiel auf null gesetzt, die Charaktere behalten aber alle Erinnerungen. Spielfiguren sind eigenständige Personen mit ausgeformten Charakteren und eigenenen Motivationen, aber sie sind auch “Code”, der von findigen Bösewichtern manipuliert werden kann. Es ist wirklich ermüdend.
Walt Disney Pictures
Weil all diese Regeln sich nicht immer logisch aus dem Fortgang der Handlung motivieren lassen, müssen sie im Film explizit mehrfach ausgesprochen werden, damit der Zuschauer sie versteht. Für die “Respawn”-Regel, die Ralphs Leben außerhalb seines eigenen Spiels in Gefahr schweben lässt (und damit indirekt das all seiner Co-Charaktere, da seine Abwesenheit ja das Spiel zur Fehlfunktion bringt), konnte sogar Sonic the Hedgehog als Testimonial gewonnen werden, der eine entsprechende Warnung von den Bannern der “Game Central Station” herunterruft. Eine Regel dieser Art kann jede Geschichte vertragen, vor allem wenn es die zentrale Voraussetzung für den weiteren Plot ist, und dann darf sie auch etwas willkürlich sein (zum Beispiel “Wenn Marty McFlys Eltern sich nicht auf dem Schulball ineinander verlieben, wird Marty nie geboren.”). Bei Ralph braucht man aber mehrere dieser Regeln, besonders um den Vanellope-Plot irgendwie am Laufen zu halten, und das ist schlicht und einfach schlechtes Storytelling.
Aus dieser merkwürdigen Unterwürfigkeit gegenüber willkürlichen Regeln entsteht auch das Ende und damit die Moral des Films, die mir irgendwie ein bisschen Sodbrennen bereitete. Ralph kehrt in sein Spiel zurück und findet sich damit ab, dass er dort auch weiterhin der Bösewicht ist und jeden Tag x-mal vom Dach des Hauses geworfen wird. Zum Ausgleich sind alle etwas netter zu ihm. Wiederum Adam Quigley dazu, diesmal auf Twitter:
WRECK-IT RALPH is about a terrorist who feels unfulfilled in his work until he learns that being a terrorist restores balance to the world.
— Adam Quigley (@alwayswatching) November 4, 2012
Quigley formuliert seine Bedenken bewusst zugespitzt, aber er hat recht. Ralph endet tatsächlich mit einer fast schon sozialdarwinistischen Moral, die darauf basiert, dass jeder seinen Platz in der Welt und seine Rolle zu erfüllen hat, und auf keinen Fall versuchen sollte, aus dieser Rolle auszubrechen. Zum Dank bekommt er Kekse. Das gilt anscheinend besonders für Bösewichter, denn diese müssen existieren, damit alle anderen etwas haben, gegen das sie ankämpfen können.
Zum Vergleich noch einmal Toy Story: Auch Buzz Lightyear fügt sich – wie schon erwähnt – am Ende in seine Rolle als Spielzeug. Das tut er aber nicht, weil er einsieht, dass er nichts anderes sein kann oder sein darf (in dieser Phase befindet er sich zwischendurch, schicksalsergeben als Mrs. Nesbitt in der Puppenstube von Syds Schwester Hannah), sondern weil er feststellt, dass es einfach das großartigste auf der Welt ist, von einem Kind als Spielzeug geliebt zu werden.
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Ganz anders Ralph. Ihm reicht es, dass seine Arbeit und sein Beitrag zur Videospiel-Gesellschaft künftig ernstgenommen wird, um für den Rest seines Lebens weiter den Bösewicht zu geben. Auch Vanellope wird am Ende des Films zur Prinzessin, was natürlich der Traum jedes Mädchens ist, aber sie behält wenigstens ihr Glitching, und rettet somit etwas von ihrer Persönlichkeit als Außenseiterin in den Mainstream. Ralph geht es besser als vorher. Er muss nicht mehr auf dem Schrotthaufen schlafen. Er darf Vanellope besuchen. Er bekommt ab und zu Kuchen. Aber seine törichten Pläne, “Good Guy” statt “Bad Guy” zu sein, hat er sich zum Glück aus dem Kopf geschlagen.
“Ich werde niemals gut sein, und das ist gar nicht schlimm”, lautet das Mantra der anonymen Bösewichter. Genau, ihr Plebs da draußen, ihr Kinder, die auf der falschen Seite der Stadt geboren seid: Wir brauchen euch, damit wir uns besser fühlen können, also bleibt, wo ihr seid. Der amerikanische Traum ist ausgeträumt. Oceania has always been at war with Eastasia..
Wunderbarer Text, dem ich in jedem Wort zustimme!