Eine meiner Geschäftsführerinnen hat mir im Gespräch mal vom “Problem des zweiten Kirchentags” erzählt. Wenn man diesen Wahnwitz, ein Event für 100.000 Menschen mit 2.500 Veranstaltungen auf die Beine zu stellen, zum ersten Mal macht, ist man in der Vorbereitung irgendwann völlig überfordert. Meist muss man von erfahreneren Kollegen immer wieder daran erinnert werden, dass schon alles gut gehen wird. Was es dann auch tut. Wenn man sich entscheidet, das Ganze ein zweites Mal zu machen, ist man dann allerdings davon überzeugt, dass man jetzt verstanden hat, wie alles funktioniert. Das kann gefährlich sein, denn natürlich ist jeder Kirchentag anders. Andere Stadt, andere Kollegen, andere Zeiten.
Mittendrin im wahrscheinlich größten beruflichen Stress, in dem ich je gesteckt habe – nämlich vier Wochen vor meinem zweiten Kirchentag, setze ich mich in einen Zug und fahre nach Berlin. Dort findet zum neunten Mal der “Kirchentag der Netzgemeinde” statt und obwohl ich letztes Jahr schon einmal dort war, versuche ich auch hier, mich innerlich darauf einzustellen, dass vieles anders sein wird.
#rp15 ist zu großen Teilen Erwartungsmanagement.
— Alexander Matzkeit (@alexmatzkeit) May 5, 2015
Ich mache mir sehr viel Gedanken darüber, wie andere Leute mich wahrnehmen, auch wenn ich weiß, dass ich das nicht sollte. Letztes Jahr war ich nur interessierter Beobachter. Dieses Jahr bin ich selbst Speaker, sogar doppelt. Und auch wenn ich einmal nur zehn Minuten über ein Thema spreche, dessen ich mir ziemlich sicher bin und einmal als Teil eines großartigen Teams auf der Bühne stehe, bin ich deswegen ziemlich aufgeregt. Ich möchte einfach, dass meine Auftritte Erfolge sind.
Damit meine ich nicht nur Bühnenauftritte. 2014 hatte ich nur mit sehr wenigen Menschen diese Situation, die ein bisschen an ein erstes Date erinnert. Man kennt sich aus dem Internet, hat schon miteinander getwittert oder gechattet, aber sich noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Dieses Jahr stand mir das mit der kompletten Chatbesetzung des Techniktagebuchs bevor. Menschen, mit denen ich im letzten halben Jahr in einigen Dingen eine gewissee Vertrautheit aufgebaut hatte, die mich aber nur in schriftlicher Form kennen.
Ich glaube, dass es gerade im Internet normal ist, dass Menschen zu anderen Menschen eine stärkere Bindung aufbauen als umgekehrt. Mit anderen Worten: Oft ist einer von beiden erst Fan und so etwas ähnliches wie Freundschaft auf Augenhöhe entsteht erst später. Zum Glück schweben Menschen, die internetberühmt sind, meist nicht in dieser Celebrity-Blase umher, die Stars häufig vergessen lässt, wie das “normale” Leben funktioniert und so dauert es meistens nicht lange, bis das Star-Fan-Verhältnis sich nivelliert hat.
Ich fahre aber trotzdem im vollen Bewusstsein zur re:publica, dass ich Fan einiger Menschen bin, die ich dort mit Sicherheit persönlich treffen werde. Andererseits werde ich dann wiederum vor diesen Menschen auf der Bühne stehen. Ich hoffe also gleichzeitig, dass diese Menschen im persönlichen Kontakt meine Hoffnungen erfüllen und dass ich auf sie so wirke, wie ich mir das wünsche. Gleichzeitig weiß ich, dass es extrem behämmert ist, mir über sowas Sorgen zu machen. Ich tue es aber trotzdem. Sehr verwirrend, das Ganze.
Endlich da. Und mein Telefon hat sogar das W-LAN wiedererkannt! #rp15
— Alexander Matzkeit (@alexmatzkeit) May 4, 2015
Zum Glück wird natürlich alles viel entspannter als befürchtet. Mit den meisten Techniktagebuch-Menschen treffe ich mich bereits am Sonntagabend abseits der re:publica. Das baut schon mal Hemmungen ab und natürlich sind alle diese Menschen, auf die man im Internet manchmal Dinge projiziert, ganz anders, als man sie sich projiziert hat. Meistens netter.
Und genauso wie mein Telefon das W-LAN in der Station sofort wiedererkennt, erkenne ich auch die re:publica sofort wieder. Die verändert sich eben nicht so stark wie ein Kirchentag und mein Dienstag ist deswegen auch ein rundum guter Tag. Die Keynote von Ethan Zuckerman bietet eine gute Problemanalyse aber sehr schwache Lösungsvorschläge. Ralf Stockmann und Claudia Krell fassen super zusammen, wie auch ich mir die Zukunft des Podcastings wünsche. Maschek und Anne Schüßler bringen mich ordentlich zum Lachen. Ich führe anregende Gespräche, trinke Bier und habe einen schönen Abend.
I <3 my mom. pic.twitter.com/nkhOHbSEGe
— Alexander Matzkeit (@alexmatzkeit) May 6, 2015
Der Mittwoch ist dagegen ein Wirbelwind, aber natürlich geht auch hier nichts schief – warum sollte es auch? Ich leide etwas unter Müdigkeit, aber der Talk läuft gut und erntet einige nette Reaktionen, persönlich und auf Twitter. Dass sogar meine Eltern live dabei sind, rührt mich sehr. Danach bin ich so erschöpft, dass ich mir keine weiteren Vorträge wirklich anhören kann, selbst mit Astronauten nicht, aber abends bin ich zur absolut großartigen Techniktagebuch-Session “Wir hatten ja nix! Und das haben wir mitgebracht” wieder einigermaßen fit. Danach noch ein Abschiedsbier und das war’s. Am Donnerstagmorgen sitze ich wieder im Zug.
Und trotzdem. Während ich im ICE Kirchentags-E-Mails beantworte, merke ich, wie schwer es mir fällt, aus der Parallelwelt aufzutauchen, in der ich in den letzten Tagen gesteckt habe. In der man mit Menschen irgendwie anders umgeht, weil man glaubt, sie schon zu kennen. In der vielleicht sogar ich den einen oder anderen Fan habe, von dem ich nichts weiß und auch gar nichts wissen möchte, aber in der man doch spürt, dass man auf eine andere Art und Weise wahrgenommen und wertgeschätzt wird als im Alltag.
Es ist extrem passend, dass Felix Schwenzels Vortrag, den ich leider live verpasst und erst heute morgen nachgeholt habe, davon handelt, dass Realität und Virtualität beides Produkte unseres Bewusstseins und unserer Wahrnehmung sind. Am Ende sagt er, dass wir “Ambiguitätstoleranz” entwickeln müssen, um damit umzugehen, dass nicht immer alles in das Bild passt, was wir uns zurechtgelegt haben. Dass wir Widersprüche – auch zwischen fleischlicher und virtueller Existenz – nicht nur aushalten sondern umarmen müssen.
Dafür ist die re:publica die perfekte Trainingseinheit.
Ist ja klasse, dass deine Eltern zugehört haben. Cool, cool, cool. Meine Mutter hat wenigstens von der re:publica durch die Medien gewusst und war interessiert. Auch sehr cool. Auch ansonsten schöner Eintrag, der das Gefühl ziemlich gut trifft, obwohl ich nur Zuschauer war…