Nur noch sechs Tage im Jahr und noch einige Listen zu verbloggen. Fangen wir mal mit Audio an. Letztes Jahr habe ich noch über “Podcast-Highlights” gebloggt, aber ich schreibe inzwischen auch so viel über Hörspiele (und es sind auch zwei in der Liste), dass ich sie hier mal mit aufnehme. Alle genannten Produktionen sind aber hoffentlich zumindest noch eine Weile zeitsouverän im Netz abrufbar – und damit sind sie ja im Grunde auch alle Podcasts.
Außer Konkurrenz: #Podcapril
Der #Podcapril, mein Projekt, in dem ich einen Monat lang nur Podcasts gehört habe, die ich nicht kenne, um meinen Horizont konzentriert zu erweitern, hängt mir immer noch positiv nach. Ich habe sehr viel gelernt und freue mich bereits darauf, daraus eine regelmäßige Institution zu machen. Eine Liste für nächstes Jahr habe ich schon begonnen.
Himmelfahrtskommando – Mein Vater und das Olympia-Attentat (Patrizia Schlosser, Bayern 2)
Diese Liste hat bewusst keine Ordnungszahlen, aber als ich Himmelfahrtskommando hörte, dachte ich ziemlich schnell “Das ist der beste Podcast des Jahres bisher” und es kam auch nichts mehr nach, was mich noch mehr begeistert hätte. Patrizia Schlosser nutzt die Polizeivergangenheit ihres Vaters nicht zum ersten Mal, aber es gelingt ihr dennoch, Zeitgeschichte spannend zu erzählen, neue Erkenntnisse und Perspektiven hinzuzufügen und einen persönlichen Redemption Arc obendrauf zu packen. Das ergibt zusammen einfach eine sehr gute Mischung aus Information und Emotion, die es sich in jedem Fall zu hören lohnt.
Erdsee (Judith Adams, Jörg Schlüter, WDR)
Große Prestige-Hörspieladaptionen von Literaturklassikern landen aufgrund des möglichst breiten Appeals, der die Kosten rechtfertigen soll, oft ziemlich im Mittelmaß, aber an Judith Adams’ BBC-Adaption von 2018, die noch in Zusammenarbeit mit Ursula LeGuin begonnen, dieses Jahr auf deutsch übertragen und von Jörg Schlüter für den WDR inszeniert wurde, ist einfach nicht viel auszusetzen. Sie fängt Magie und sense of wonder des Originals gut ein und macht die Geschichte gut hörbar ohne in die typischen (insbesondere expositorischen) Fallen von literarischen Hörspielen zu treten. Dicke Empfehlung, insbesondere für die verbleibenden Wintermonate.
The Best Advice Show (Zak Rosen, Independent/Co-Loop)
So gerne ich lange, erzählte Podcasts höre, so gerne höre ich auch kurze Nugget-Formate, wenn sie einen gewissen Touch habe. Zak Rosen teilt zweimal die Woche einzelne Ratschläge von sehr unterschiedlichen Leuten, die man annehmen kann oder nicht. Die Themengebiete reichen von Self-Help bis Kochen und decken auch alles dazwischen ab. Das Format gibt es seit 2020, aber ich habe es erst dieses Jahr entdeckt. Besonders gevibet habe ich mit “When you’re there, do the thing“.
New Music Update (Miles & Miles, Independent)
Im Herbsturlaub wohnte in der Nebenwohnung eine Familie, mit der wir uns gut verstanden haben. Der Vater ist eigentlich Jazz-Gitarrist, aber auch als Pop-Produzent unterwegs. Und als er einige Wochen später mit seinem Produzenten-Partner einen Podcast startete, habe ich erstmal nur aus persönlicher Sympathie reingehört. Aber die Mischung aus “Blick in die Playlists” und “Diskussion zum aktuellen Musikbusiness-Geschehen” hat mir auch unabhängig davon gut gefallen.
Working Overtime (June Thomas, Karen Han und Isaac Butler, Slate)
Das Schwesterformat (im gleichen Feed) zu Slates Working dreht sich ebenfalls um Ratschläge und Reflexion, vor allem zu kreativer Arbeit. Für mein erstes Jahr als größerer Freiberufler war das nicht nur enorm hilfreich, ich finde auch die Dynamik zwischen den drei Hosts einfach sehr sympathisch und angenehm.
Plötzlich Mächtig – Das erste Jahr im Bundestag (Birthe Sönnichsen, Marcel Heberlein und Vera Wolfskämpf, Studio Jot/1LIVE/rbb24 Inforadio/ARD-Hauptstadtstudio)
Die größte Kritik, die ich an “Plötzlich Mächtig” äußern konnte, ist, dass es zu viel Geschichte in zu wenig Zeit pressen will. Davon abgesehen ist die Langzeitbeobachtung vier junger Bundestagsabgeordneter differenziert erzählt und sehr aufschlussreich. Ich könnte mir vorstellen, dass sich der Podcast gut im Gemeinschaftskunde-Unterricht einsetzen lässt, und ich hoffe, er bekommt irgendwann eine Fortsetzung, denn die Protagonisten sind einfach hervorragend gewählt.
We Were Three (Nancy Updike, Serial)
Niemand beherrscht die Disziplin “große gesellschaftliche Themen durch persönliche Geschichten” so gut wie die Alumni von This American Life und We Were Three ist keine Ausnahme. Eine bittere Geschichte über Familie, Entfremdung und Trauma, gefiltert durch lange Interviews mit einer Protagonistin und viel einordnende Reflexion der Erzählerin. Sehr intensiv und trotz Vertrauens auf gewohnte Stilmittel auf seine eigene Art ungewöhnlich.
Land of the Giants: The Facebook-Meta Disruption (Shirin Ghaffary, Alex Heath, The Verge)
Wenn Podcasts über “Geschichte” sprechen meinen sie fast immer Dinge, die irgendwie abgeschlossen wirken, aber die noch kurze Geschichte von Facebook zeigt, wie viele Sackgassen und Abbiegungen das Unternehmen in den 17 Jahren seines Bestehens bereits irgendwie überstanden hat. Im so kurz-erinnernden Internet, in dem kaum etwas mehr als ein paar Jahre hält, finde ich es sehr wichtig, diese Art von Rückblick gelegentlich zu wagen, um das Jetzt besser zu verstehen. Hier hat The Verge mal wieder sehr gut abgeliefert.
Cautionary Tales: Die Südpol-Trilogie (Tim Harford, Pushkin)
Tim Harfords Format Cautionary Tales, in denen er berüchtigte Fails aus der Geschichte mit sozialwissenschaftlicher Forschung verbindet, bereitet mir schon seit Jahren viel Freude. Dieses Jahr widmete das Format drei Folgen den Polarforschern Roald Amundsen und Robert Scott und beleuchtete ihre Lebensgeschichten und ihr berühmtes Rennen zum Südpol aus verschiedenen Blickwinkeln, die gemeinsam ein Netz aus Thesen weben, das immer wieder Erwartungen unterwandert.
Diese eine Liebe (Marco Seiffert, RBB)
Marco Seiffert beweist in seinem Format zur Berlin-Tour der Band Die Ärzte eindrücklich, dass sich auch offen zur Schau gestelltes Fan- bzw. Nerd-Tum mit journalistischer Haltung zu einem vielleicht nicht unbedingt besonders deepen, aber aber doch unterhaltsamen und immer wieder überraschenden Format zusammenrühren lässt. Gerade die persönliche Haltung und Beziehung zu seinem Thema und seinen Protagonisten ist es, die den Podcast besonders macht. Nur, wenn man Die Ärzte gar nicht ausstehen kann, würde ich nicht zum Hören raten.
Freitagnacht Jews: Jew Noir! Who Framed the Jew? (Daniel Donskoy, WDR)
In einigen gesellschaftlichen Debatten bin ich oft immer noch ziemlich clueless, und bevor ich diese Podcast-Episode im Podcapril empfohlen bekam, kannte ich Daniel Donskoy und sein Fernseh-Format Freitagnacht Jews (das kurze Zeit später einen Grimme-Preis bekam) auch nicht. In dieser Episode des vierteiligen Podcast-Ablegers führt Donskoy die diversen Antisemitismus-Debatten der vergangenen Jahre als ironisch-unterhaltsame Film-Noir-Mystery auf und verbindet Interviews mit einer sehr gut geschriebenen Erzählfigur. Solche genialen Formatbrüche braucht es bitte mehr!
2035 – Die Zukunft beginnt jetzt (Diverse, ARD/Deutschlandradio)
Mein letztes großes Kritikprojekt für dieses Jahr (erscheint erst im Januar) war die große ARD-Omnibus-Hörspielunternehmung zum Jahresende, in der jede ARD-Anstalt und das Deutschlandradio ein Hörspiel zur nahen Zukunft in Auftrag gegeben hat. Nicht alle Hörspiele sind super, aber einige – insbesondere von jüngeren Autor*innen – sind ziemlich gut und obwohl die kritische Auseinandersetzung mir in den letzten Wochen viel Stress verursacht hat, möchte ich sie doch weiterempfehlen. Meine Favoriten: “Landunter” (Wilke Weermann, Radio Bremen) und “Ein Käfer, der Erinnerungen frisst” (Fabian Raith und Sofie Neus, Deutschlandfunk Kultur).
Nicht aus diesem Jahr
Zwei Produktionen, die ich noch empfehlen will, habe ich dieses Jahr nachgehört, der größte Teil ihres Wirkens stammt aber aus zurückliegenden Jahren.
The Turning: The Sisters Who Left (Erika Lantz, Rococo Punch/iHeartMedia, 2021) erzählt von Aussteigerinnen des Ordens von Mutter Teresa. Beeindruckt hat mich daran vor allem die Kombination aus sehr kritischer Berichterstattung bei gleichzeitig großer Empathie. Niemand wird verteufelt, persönlicher Glaube wird sehr ernstgenommen und niemals von außen oder spöttisch beurteilt. Dennoch werden strukturelle Probleme systematisch aufgearbeitet und Grausamkeiten eindeutig als solche benannt. Wie gut The Turning ist, fiel mir vor allem auch im Kontrast zum deutschen Just Love (HR) auf, der irgendwie das gleiche versucht, aber es dabei nicht schafft, über seine Presenter-Investigativ-Pose hinauszuwachsen.
Fall of Civilizations (Paul Cooper, Independent, 2019ff.) ist eine Art Hörbuch-Podcast, der die Geschichte des Zusammenbruchs von Weltreichen auf der Basis historischer Quellen mit Soundkulisse nacherzählt. Mein Interesse an Geschichte wird immer vor allem dann wach, wenn ich glaube, daraus Schlüsse auf die Conditio Humana ziehen zu können (siehe diverse Beispiele oben) und das macht Cooper ganz gut. Für mich war Fall of Civilizations vor allem eine Horizonterweiterung mit Blick auf Zivilisationen außerhalb von Europa, etwa die Maya, die Khmer oder die Songhai in Westafrika. Sicher könnte man diese Geschichten auch weniger stark aus westlicher Perspektive erzählen, die Cooper sicher nie ganz abstreifen kann, aber als Einstieg fand ich seine Erzählung empathisch und sehr lehrreich.
Lobende Erwähnung: Die Wochendämmerung (Holger Klein, Katrin Rönicke, Hauseins)
Die Wochendämmerung höre ich schon eine ganze Weile (mindestens seit 2017 oder 2018) und wie bei jedem langlebigen Format habe ich eine parasoziale Beziehung mit den Hosts entwickelt (wobei ich Katrin immerhin auch einmal persönlich getroffen habe), die aber über die Jahre durchaus auch Höhen und Tiefen hatte. Zwischendurch ging mir das Format, das einmal die Woche Nachrichten aus der persönlichen Perspektive der Hosts zusammenfasst, gerade durch seine persönliche Färbung auch mal etwas auf den Keks, aber bei den dieses Jahr dominanten Themen war ich wieder sehr dankbar dafür. Wer, wie ich, kein News-Junkie ist, dennoch gerne einmal die Woche weiß, was sich in der Welt getan hat, keinen Bock auf den Ton der Lage der Nation hat, und bereit ist, sich an Meinungen auch mal zu reiben, dem empfehle ich die Wochendämmerung aus vollem Herzen.
Mehr Hörempfehlungen gebe ich regelmä´ßig (noch) auf Twitter und vor allem auf Piqd. Meine Kritiken in epd medien sind leider meist nicht online zu lesen, aber ich teile Ausschnitte in unregelmäßigen Abständen auch hier im Blog.
In den nächsten Tagen folgen an dieser Stelle noch Rückblicke zu Film & TV sowie zu meinen persönlichen Jahreshighlights.
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