Der “Point-of-View”-Shot war von Anfang an eine der faszinierendsten, aber auch der gimmickhaftesten Anwendungen bewegter Bilder. Man montiere eine Kamera auf einem Auto oder Zug, lasse das Fahrzeug fahren und fertig ist der Film. Diese sogenannten “Ghost Rides” haben auch heute noch magnetische Wirkung, obwohl sie seit 20 Jahren in Deutschland auch als Lückenfüller für das Nachtprogramm dienen. Es ergibt einfach einen gewissen Sog, sich auf der Leinwand in die Tiefe zu bewegen, durch die “Augen” eines anderen – Menschen oder Fahrzeugs.
Der POV-Shot, in dem die Kamera die Perspektive eines Menschen einnimmt, wurde in der Filmgeschichte durchgängig mehr oder weniger effektvoll eingesetzt. Man denke an die gespenstische Eröffnungssequenz von Halloween, in der man im Kopf des Killers zu stecken scheint. Oder an The Lady in the Lake, der sich in den 40ern daran versuchte, einen ganzen Film aus der Ich-Perspektive zu erzählen. Auf “Film School Rejects” fand sich vor kurzem eine kleine aber feine Zusammenstellung weiterer Beispiele.
Ego-Shooter haben den POV-Shot zu einer fast alltäglichen Perspektive gemacht. Vielleicht ist auch deswegen die “Super Soldier”-Sequenz aus dem ansonsten eher nicht so künstlerisch wertvollen (aber amüsanten) Doom mein Lieblingsbeispiel aus der Liste. Der transmediale Wiedererkennungseffekt hat mich damals im Kino jedenfalls ziemlich, ich glaube der Terminus Technicus lautet: geflasht.
Durch den technischen Fortschritt erlebt der Point-of-View-Shot derzeit eine Renaissance wie schon lange nicht mehr. Kameras wie die GoPro erlauben gestochen scharfe und ruckelfreie Aufnahmen, die sich vor allem im Extremsport (und bei der Tier-Empathie) größter Beliebtheit erfreuen. Skydiving, Snowboarding & Co konnte man noch nie so gut in Aktion verfolgen. Heute etwa geisterte dieses schwindelerregende POV-Video eines Parkour-Athleten durchs Netz:
Mit Google Glass könnte das ganze noch omnipräsenter werden. Ein vor kurzem geteilter Zusammenschnitt eines Tages in Disneyland mit der Datenbrille zeigt, wie natürlich und fast schon angenehm gewöhnlich die Perspektive wirkt, die das neue Gerät in seinen Filmaufnahmen erzeugt. (Und natürlich wirken auch hier die “Ghost Rides” auf den Fahrgeschäften am besten.)
Im Kino jedoch führt der POV-Shot noch immer ein gewisses Nischendasein – im Horrorfilm. Dort hat sich in den vergangenen Jahren, durch den Erfolg von Filmen wie The Blair Witch Project und Paranormal Activity ein ganzes Subgenre der “Found Footage”-Filme herausgebildet, der die Alltäglichkeit von privaten Filmaufnahmen nutzt, um einen Schrecken zu erzeugen, der sich extrem persönlich und direkt anfühlt. Ein Film wie [Rec], der komplett durch die Perspektive einer einzelnen TV-Kamera erzählt wird, ist eigentlich der legitime Nachfolger von The Lady in the Lake. Mit V/H/S hat das Subgenre inzwischen sein eigenes Anthologie-Franchise erzeugt. Und in V/H/S 2 (den ich selbst noch nicht gesehen habe) spielt die GoPro wohl auch eine tragende Rolle.
Die Frage ist: Wird sich diese neue Durchdringung unseres Bilderstroms mit POV-Shots auch im restlichen Kino niederschlagen? Einen Film wie Russian Ark müsste man heute nicht mehr unbedingt mit einer Steadicam-Spezialanfertigung drehen, die dem Kameramann nach 90 Minuten fast das Kreuz bricht. Dem Dokumentarfilm eröffnen sich einige Möglichkeiten (die außerhalb meines Sichtfeldes bestimmt auch schon genutzt wurden – ich bitte um Hinweise) beim Einfangen seiner Bilder. 3D könnte den Sogeffekt der Bilder noch verstärken – schon/noch heute sind Ghost Rides ja auch einer der beliebtesten Anwendungsgebiete von 3D.
Doch auch im großen Spielfilm könnten POV-Shots nach GoPro- und Glass-Modell durchaus ihren Platz finden. Ich sehe besonders im Superhelden-Genre einige Anwendungsmöglichkeiten. Wie sähe wohl ein Hulk-Out aus Banners Perspektive aus? Und trägt Clark Kent in Man of Steel 2 vielleicht Google Glass? In Chronicle wurde letztes Jahr in gewisser Weise eine Art Anfang gemacht. Der Rest muss jetzt nur noch nachziehen.
Bild: Steven | Alan, CC-BY-ND (aufgenommen mit einer GoPro)