Am Anfang dieser Liste steht wie immer die Enttäuschung. Anders kann man sich ja gar nicht zur Euphorie der besten Filme des Jahres vorarbeiten. Enttäuschung über den mediokren Blockbuster-Sommer, in dem mich kein einziger Film positiv überrascht hat. Aber auch Enttäuschung, dass es mir wie immer nicht gelungen ist, alle Filme zu sehen, die mir von anderen empfohlen wurden. L’Avenir und 14 Wochen wurde für diese Liste ebensowenig in Erwägung gezogen wie Son of Saul oder Into the Inferno. The Green Room habe ich nicht gesehen und Tangerine leider auch nicht. So ist das jedes Jahr.
Immerhin habe ich es wohl gut 50 mal geschafft, ins Kino zu gehen dieses Jahr, und das ohne ein Festival zu besuchen. Bei insgesamt nur 108 gesehenen Filmen (und dafür immer mehr Fernsehserien) ist das schon ein Schnitt, der deutlich über den Vorjahren liegt. Trotzdem kann ich schon sagen, dass es die Filmemacher dieses Jahres schwerer hatten, mich zu begeistern. Ob das an der Grundstimmung des Jahres liegt, an Stress im Job oder an einer Verschiebung meines Geschmacks – ich weiß es nicht. Bei vielen Filmen hat es für mich jedenfalls nur für einen Platz am Katzentisch genannt. Oder, wie ich es sonst immer nenne:
Lobende Erwähnungen
Gut, aber nicht gut genug für die Top 10 fand ich dieses Jahr unter anderem Paterson, Everybody Wants Some!!, The Revenant, Joy und A Bigger Splash. Anomalisa war beim Anschauen toll, aber sein Glanz ist jetzt zum Ende des Jahres arg verblasst. Dr. Strange und Star Trek Beyond fand ich sehr solide. Captain America: Civil War, Batman v Superman: Dawn of Justice und Warcraft sind Filme, über deren Fehler, Stärken und Plätze in der modernen Hollywood-Blockbustermaschine ich lange reden könnte, die aber alle nicht gut waren. Rogue One war auch gut, aber nicht mehr. Besser als nur gut waren hingegen die folgenden Filme:
10. 13th
Ava DuVernays für Netflix realisierter Dokumentarfilm ist nicht besonders bildgewaltig. Wahrscheinlich hat er sogar nur eine Sequenz, zum Ende hin, die sein visuelles Medium wirklich in einer eisensteinschen Kollisionsmontage von erstaunlicher Effektivität nutzt. Aber es gelingt 13th, ein Argument aufzublättern und Sinnzusammenhänge herzustellen, die ich noch nie gesehen hatte und die mir trotzdem sofort einleuchteten: Es gibt eine gerade Linie zwischen dem Erbe der Sklaverei und der massenhaften Einsperrung schwarzer Männer seit den 70er Jahren. Und die aktuelle politische Lage verspricht keine Besserung. Für all die politische Wut, die ich ohnehin schon im Bauch hatte, war 13th idealer zusätzlicher Brennstoff.
9. Kubo and the Two Strings
Es gibt genug, was man Kubo entgegenhalten könnte, von seiner kulturellen Appropriation, die trotz asiatischem Settings ohne Schauspieler_innen mit asiatischen Wurzeln in den Hauptrollen auskommt, bis zu seiner absehbaren Moral. Ich war im Kino trotzdem bewegt – vom Design und den Posen der Figuren, vom Textadventure-Plot, bei dem ein cooler Schauplatz nach dem nächsten besucht werden muss, und von der absehbaren Moral über Familie und Zusammenhalt. Warum mir gerade Letzteres zurzeit immer so nah geht (sogar bei Sing), müsst ihr meine Therapeutin fragen.
8. The Girl with All the Gifts
Posthumanismus, der Gedanke, dass die Menschheit in ihrer jetzigen Form nicht die Krone der Schöpfung sein muss, ist in unseren gelegentlich apokalyptsichen Zeiten ein spannender und manchmal tröstender Gedanke. Die Verfilmung von M. R. Careys Roman The Girl with all the Gifts, die dieses Jahr auf dem Fantasy Film Fest lief (regulärer Kinostart: 9. Februar), arbeitet diesen Gedanken nicht zuletzt durch ihr Casting perfekt heraus, denn im Gegensatz zum Roman sieht das titelgebende “Girl” hier eher so aus wie die Generation, die diese Welt erben wird. Dass The Girl with all the Gifts dazu noch ein Zombiefilm ist, der fast ohne Blut und dafür mit umso mehr beeindruckender Stadtüberwucherung daherkommt, macht ihn zum idealen Ersatz für den 28 Months Later-Film, den es wohl nie geben wird.
7. Arrival
Die besten Science-Fiction-Filme haben in ihrem Kern eine revolutionäre Idee und drumherum eine Ehrfurcht für das Außergewöhnliche. Denis Villeneuves besitzt beides, einen cleveren Gedanken über Zeitwahrnehmung, erzählt in einer einfachen Geschichte, und wundersame Bilderwelten, die einen wie ein Traktorstrahl in der Schwebe halten. Ich bin dankbar, dass es solche Filme gibt – noch dazu, wenn sie von Sprachwissenschaftlern handeln. (Es lohnt sich übrigens, diesen Podcast über die Entwicklung des Drehbuchs zu hören.)
6. Brooklyn
Gerade im Winter braucht es manchmal Filme, die einen innerlich mit Wärme füllen. Im vergangenen Januar war Brooklyn das für mich. Ich habe eine Schwäche für einfache Liebesgeschichten, in denen Menschen nicht dumm handeln, damit das Drehbuch hanebüchene Missverständnisse daraus stricken kann, sondern auftretende Konflikte mit Herz und Vernunft durchschreiten, wie bei den Menschen, die ich auch im realen Leben bewundere und mag. Am Ende bleibt von Brooklyn vor allem das Gefühl übrig, dass es ganz ohne Hollywood-Schmalz jede Menge liebende und liebenswerte Menschen in der Welt gibt, die deswegen noch lange nicht perfekt sind. Und das deckt sich mit meiner Wahrnehmung.
5. Toni Erdmann
Ich habe hier im Blog aufgeschrieben, dass ich das Interessanteste an Toni Erdmann die Reaktionen seiner Zuschauer_innen fand. Ich fürchte mich ein wenig davor, den Film noch einmal zu sehen. Wird er meinem Blick stand halten, jetzt wo er mich nicht mehr überraschen kann? Oder werden seine Beobachtungen über Deutschland, Väter, Töchter, Globalisierung, Führungskräfte, Lebensweisheiten und Hilflosigkeit nur tiefer? Auf jeden Fall hat Maren Ades Film genug Eindruck hinterlassen, dass ich es gerne ausprobieren würde.
4. The Lobster
Ich war kein Fan von Yorgos Lanthimos’ Alpen. Aber The Lobster hat im Vergleich gerade genug relatability und bizarre Liebenswürdigkeit, dass er einen durch das verrückte Konzept in seinem Zentrum durchträgt. Dass seine bittere Satire auf das gesellschaftliche Ideal von Liebe und Partnerschaft ins Schwarze trifft, habe ich vor allem darin gemerkt, dass ich im Kino saß und mich nicht nur fragte, wie ich wohl in dem Szenario bestehen würde, in dem Colin Farrell den Film beginnt, sondern ob das nicht eigentlich eine interessante Herausforderung wäre.
3. The Big Short
Ich bin ein großer Fan des Podcasts Planet Money, der Wirtschaftsthemen so erklärt, dass ich sie verstehe. The Big Short ist eine lange Planet-Money-Episode, gekreuzt mit einem Meme-gespickten Buzzfeed-Listicle namens “Diese 31 verrückten Fakten zur Finanzkrise werden dir die Krokoleder-Schuhe ausziehen”. So muss man das Thema angehen: mit Humor, Überdrehtheit und verzweifeltem Optimismus.
2. Spotlight
Als ich aus Spotlight kam, wäre ich am liebsten sofort wieder hauptberuflich in den Journalismus zurückgekehrt. Nicht um große Skandale aufzudecken, wie das Team im Film, sondern einfach nur um das Privileg zu genießen, genau dann Fragen zu stellen, wenn so viele glauben, dass sie die Antwort schon kennen. Wie sehr es im Journalismus genau nicht um Ruhm und Glamour und mediale Eitelkeit geht, sondern um das beharrliche Nachhaken in Situationen, in denen sich alle bereits auf eine Haltung geeinigt zu haben scheinen, das macht Tom McCarthy in Spotlight nicht zuletzt durch seine ebenso beharrliche und unglamouröse Inszenierung deutlich.
1. Vor der Morgenröte
Die schönsten Filme sind die, die einen überraschen. Die Trailer zu Maria Schraders Vor der Morgenröte ließen mich vermuten, dass es sich dabei um ein beliebiges wohlgesittetes Biopic deutscher Bauart handelte. Erst durch die nachdrückliche Empfehlung von Bloggerkollegen ging ich ins Kino und erlebte unerwartet ein grandios intelligentes Drehbuch, umgesetzt in perfekt kadrierten Bildern – nicht nur in den langen Einstellungen am Anfang und Ende des Films.
Beeindruckend fand ich vor allem den merkwürdig anmutenden moralischen Konflikt im Herzen des Films: Stefan Zweig weiß, dass es ihm – mit seinen Reisen und lästigen Empfängen – so viel besser geht, als den Bekannten und Freunden, die ihn um Hilfe bitten, weil sie um ihr Leben fürchten, und trotzdem will er einfach nur seine Ruhe, um das zu tun, wozu er sich berufen sieht: Kunst schaffen, die er dem Gräuel des Krieges entgegensetzen kann. Was wie eine einfach Entscheidung klingt, ist eindeutig keine, und es ist großartig, diesen Konflikt auf Josef Haders Gesicht ablesen zu können. Tief bewegend, voller kluger Gedanken – mein Film des Jahres.
Haftungsausschluss: Die Sichtungen von Moana und Nocturnal Animals stehen noch aus, aber ich denke, diese Liste ist für den Moment recht sicher.