Was soll denn dieses Digital Shaming?

Louis C.K. war nur der Tropfen der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. In seinem Auftritt bei Conan O’Brien, in dem er auf seine ureigene Art darüber herzog, wie das Nutzen von Smartphones uns alle und besonders Kinder gegenüber echten Gefühlen und Empathie abstumpft, war er definitiv nicht der erste Kulturpessimist, der mal wieder die Verrohung (oder eben gerade nicht) der Gesellschaft durch ständige Vernetzung beklagte.

Vor Louis C.K. standen auf jeden Fall größere Teile meiner Facebook-Timeline. Dort wurden in den Wochen zuvor nämlich zwei Videos hochgejubelt, die in die gleiche Kerbe schlugen. Der Kurzfilm “I forgot my phone”, in dem in einer Reihe von zart beleuchteten Bildern Menschen gezeigt werden, die wunderschöne Augenblicke verpassen, weil sie damit beschäftigt sind, auf ihr Telefon zu gucken. Und ein hübsch animiertes Video mit vielen kleinen Punkten, das zu erklären versuchte, warum wir uns einsam fühlen, obwohl wir von angeblich sozialen Medien umgeben sind.

Episch-ironische Selbst-Flagellation

Die epische Ironie, solche Videos (am besten per Smartphone) auf sozialen Netzwerken zu teilen, wurde in der Regel nicht erwähnt. Ganz im Gegenteil, ich hatte sogar das Gefühl, sie wurde billigend in Kauf genommen, als eine Art Selbst-Flagellation. Wie ein Betrunkener, der einen auf der Party anhaut und “Mann, ich bin soooo betrunken” ruft. “Seht her”, schien man mir sagen zu wollen, “wir sind ganz schön schlimm in unserem modernen Zeitalter. Ich inklusive. Wir sollten alle mal wieder rausgehen und ein paar Azaleen beim Wachsen zugucken.”

Ich bezweifle, dass die Anzahl an echten Gefühlserfahrungen und persönlichen Treffen ohne Smartphone durch diese Videos gesteigert wurden. Und somit möchte ich diesen Vorgang als “Digital Shaming” bezeichnen, eine Analogbildung zu “Fat Shaming”. Könnt ihr euch noch an diesen unsäglichen Spruch “Remember: Dress for the body you have, not for the body you want” erinnern, der immer an heißen Sommertagen die Runde macht? Das ist “Fat Shaming”. Eine fiese Art und Weise, Menschen für ihr Übergewicht öffentlich bloßzustellen. Die geheime Hoffnung dabei: Scham regt zu Gewichtsverlust an. Denkste.

Sollte ich mich schämen?

Mir geht es genauso. Soll ich mich wirklich dafür schämen, dass ich das Internet benutze und ein Smartphone besitze? Wird dadurch irgendwas besser? Das könnte ich ja gerade noch verstehen, wenn ich damit regelmäßig Menschen persönlich vor den Kopf stoßen würde (meine Frau hat mich mal freundlicherweise darauf hingewiesen, dass ich dazu neigte, in meinem Smartphone zu verschwinden, wenn mir größere Gesprächsrunden zu langweilig wurden – das ist einfach unhöflich, also habe ich es abgestellt).

Aber ich denke, ich habe mein Mediennutzungsverhalten im Griff. Ich fühle mich nicht so, wie die Menschen in den Videos. Ja, ich habe mich auch MAL einsam gefühlt, obwohl ich das Internet vor mir hatte. Und ich habe auch MAL einen Sonnenuntergang mit dem Handy fotografiert, statt ihn einfach zu genießen. Aber genauso oft hat mir mein Smartphone das Erleben schöner Momente überhaupt erst möglich gemacht. Und wenn ich die Instanzen zähle, wo ich mich in letzter Zeit gesellig gefühlt habe, war Internet dabei mindestens genauso oft abwesend wie anwesend.

Bücher sind viel schlimmer

Der größte Scherz ist allerdings, dass der Ruf “Das Internet macht unser Sozialverhalten kaputt” nicht einmal einfach so haltbar ist. Wie Daniel Engber bei “Slate” in seiner Reaktion auf Louis C. K.s Ausbruch sehr schön festgestellt hat, sind es (zumindest laut einer Studie aus Stanford) mitnichten Smartphones, die Jugendliche am ehesten zu scheuen, unsozialen Wesen machen. Der größte Übeltäter in Sachen Isolation sind nach wie vor BÜCHER! Jemand sollte schnell Fahrenheit 451 anrufen.

Es gilt das Gleiche, was ich bereits bezüglich Google Glass argumentiert habe. Ich will gar nicht leugnen, dass technische Entwicklungen unser Kommunikations- und Sozialverhalten grundlegend verändern. Aber wir sollten eher daran arbeiten, damit umzugehen und soziale Regeln zu etablieren, die negative Folgen der Vernetzung auffangen oder verhindern, statt uns selbst und anderen pauschal ein schlechtes Gewissen zu machen, damit wir uns für den Bruchteil einer Sekunde überlegen fühlen können.

Ich habe übrigens auch Freunde, die weder Smartphone noch Facebook-Account haben. Die beschweren sich merkwürdigerweise am wenigsten darüber, dass das Internet alles kaputt macht. Kein Wunder, wir treffen uns ja auch regelmäßig.