Ein Gastbeitrag von Kilian Hauptmann
Kilian hat auf Twitter mal geschrieben, dass er was zum “Ende der Erzählungen” gemacht hat. “Klingt interessant”, meinte ich, “möchtest du einen Gastbeitrag schreiben?”. Und nur sechs Monate später schreibe ich diese Einleitung.
Kurze Warnung: Das hier ist wissenschaftlicher als der reguläre Tenor meines Blogs und Kilian ist Kultursemiotiker, eine Disziplin, um die ich normalerweise einen großen Bogen mache (Weiche, Christian Metz!). Kilians These vom Ende des Endes aber finde ich interessant, wie mich überhaupt die ganze Idee einer Post-Postmoderne fasziniert. Lesen lohnt sich also. Und folgt dem klugen Mann auf Twitter.
Film ist für mich ein Modus kultureller Selbstreproduktion: Eine Kultur kann immer nur das hervorbringen, was auch in ihr angelegt ist – sei es technisches Wissen, Ideologie, Machtstrukturen, Normen oder Werte. Filme reproduzieren dieses kulturelle Wissen. Sie stellen somit Artefakte einer Kultur dar, die sich untersuchen lassen, Speicher für kulturelles Wissen.
Mein Artefakt für diesen Artikel ist der Film Cloud Atlas von Tom Tykwer und den Wachowskis. Homosexualität, Transsexualität, Umwelt, Klone, Sklaverei, Medien, Macht(strukturen) – es gibt kaum etwas, das der Film nicht aufgreift. Das sind zwar alles Themen, die ganz und gar nicht neu sind und schon gar nicht revolutionär. Trotzdem finde ich etwas an diesem Film irritierend, etwas, das sich schlecht einordnen lässt, und genau das macht ihn für die Forschung interessant.
Das Ende der (großen) Erzählungen
Jean-François Lyotard postulierte 1979 in Das postmoderne Wissen das Ende der „großen Erzählungen“. Lyotard fasste unter diesen „Erzählungen“ Welterklärungsmodelle wie die Bibel oder die Systemtheorie auf, die in der Postmoderne mit einer zunehmenden Skepsis bedacht werden. Auch im Film lässt sich beobachten, wie sich sowohl diese Welterklärungsmodelle, als auch die Erzählungen selbst auflösen. Sie weisen unauflösbare oder unaufgelöste Rätselstrukturen auf, werden fragmentiert und verweigern jeden Sinn oder dekonstruieren „Sinn“ ganz offensiv.
Auch kulturelle Narrative, wie Familie, Ehe oder Liebe werden offen dekonstruiert. Die Texte (auch „Filmtexte“) sind in hohem Maße geprägt von intertextuellen Verweisen auf andere Texte und sind häufig selbstreferentiell, indem sie auf ihre eigene Konstruktion als „(Film)Text“ hinweisen. Filme und andere Kulturerzeugnisse wie die Beat-Literatur in den USA oder die Popliteratur der 60er Jahre in Deutschland werden so zu stark zeichenhaften Texten, die den Rezipient_innen einiges an kulturellem Wissen abverlangen.
Diese postmoderne Ästhetik hängt eng mit der ideologischen Konstruktion der Filme zusammen, ihrem Modell von „Welt“. Große Erzählungen weisen semiotisch betrachtet ein „transzendentales Signifikat“ auf, also eine Konzept, welches die Erzählung in ihrer inneren Logik konstituiert. Im Falle von Love Actually wäre dieses transzendentale Signifikat zum Beispiel „Liebe“ oder in Cloud Atlas „Schicksal“. Postmoderne Filme hingegen verweigern eine solche übergeordnete, die Welt gliedernde Struktur, was sie unter anderem durch die Fragmentierung ihrer Erzählung vermitteln. Auch haben die Protagonist_innen ein starkes Bewusstsein dafür, dass alles auch anders sein könnte (“Kontingenzbewusstsein”). Beinah scheint es, als würde das postmoderne Subjekt wissen, dass es nicht weiß, und ließe gerade deshalb klassische Verfahren der Sinnstiftung nicht zu.
Short-Cuts-Erzählung als „ideologische Hülle“
Als Erzählmodell dient dem postmodernen Film gerne die sogenannte “Short-Cuts-Erzählung”, bei der unabhängige Geschichten oder Handlungsstränge in kurze Segmente zerteilt, montiert und an bestimmten Knotenpunkten des Geschehens temporär zusammengeführt werden. Aus diesen Knotenpunkten kann wiederum weitere Handlung entstehen.
Ein Beispiel für einen postmodernen Short-Cuts-Film wäre natürlich der namensgebende Film Short Cuts von Robert Altman aus dem Jahr 1994, aber auch der viel bekanntere Pulp Fiction. Bei letzterem haben wir drei Erzählstränge, die miteinander nicht direkt verbunden sind, sondern jeweils eigenständige Geschichten erzählen, gleichwohl sie untereinander Ereignisse motivieren. Diese Ereignisse wiederum spielen für die einzelnen Erzählstränge keine weitere Rolle, sondern stellen nur eine oberflächliche Verbindung zwischen den Erzählungen her.
Pulp Fiction als postmoderner Film leitet aus der Kohärenz dieser Geschichten nun gerade keine sinnhafte, schicksalhafte Verbindung ab, sondern präsentiert sie als funktionslose Selbstreferenz auf die eigene Diegese. Gleichzeitig lässt sich auf der Ebene dessen, was erzählt wird, eine Dekonstruktion der „großen Erzählung“ beobachten. Die vermeintliche Bibelstelle Jules Winfields ist kein wirklicher Vers, sondern vielmehr ein kunstvolles Mashup verschiedener Bibelstellen, die sich Jules entgegen seiner Aussage vielleicht nicht ganz so exakt eingeprägt hat. Durch diesen Zynismus, eine Bibelstelle als Rechtfertigung für die Hinrichtung eines Kleinkriminellen zu verwenden, wird die Funktion der Bibel als sinnstiftende, moralische Leitlinie pervertiert und negiert.
Ästhetik ohne Ideologie
Während nun also die Short-Cuts-Erzählung für diese Filme dazu dient, eine fragmentierte, nicht sinnhafte Ordnung zu repräsentieren, verwenden andere Filme dieselbe Form um genau das Gegenteil in ihr Modell von Welt zu integrieren. Diese Filme übernehmen die postmoderne Ästhetik der 90er Jahre ohne ihre ideologischen Grundlagen – die Verweigerung von Sinn und die Annahme eines dissozierten Subjekts – zu übernehmen. Ein Film wie Love Actually weist eine im narratologischen Sinne fragmentierte Oberfläche nach dem Short-Cuts-Verfahren auf, besitzt aber im Gegensatz zu postmodernen Filmen ein transzendentales Signifikat („Liebe“), das die Fragmentierung durch eine den Film konstituierende Ordnung kohärent auflöst.
Ästhetische Verfahren der Postmoderne werden also für Filme benutzt, deren ideologische Grundlage durchweg konservativ ist. So zeigt etwa Michel Gondrys Film Eternal Sunshine of the Spotless Mind in jenen Sequenzen, in denen die Hauptfigur Joel Barish sich durch ihre eigenen Erinnerungen bewegt, eine auf mehreren Ebenen unklare Erzählsituation, in der Unsicherheit darüber besteht, ob das Erzählte der Wahrheit entspricht, oder ob eine Erzählinstanz, zum Beispiel Joels Psyche, das Erzählte manipuliert. Die eine oder andere Erzählinstanz greift sozusagen regelwidrig in die andere über – die für die Postmoderne so typische “Metalepse”. Hinzu kommt, dass der Film gerade auf Ebene der Binnenhandlung nicht chronologisch erzählt wird, sondern scheinbar willkürlich.
Der Film präsentiert also eine im wesentlichen postmoderne Ästhetik, installiert insgesamt aber ein kohärentes Weltbild. Denn die Fragmentierung der Oberfläche wird letztlich aufgelöst: Die naturalisierte, orts- und zeitunabhängige Liebe von Joel und Clementine führt die beiden am Ende des Films wieder zusammen. Trotz der vergessenen gemeinsamen Vergangenheit verlieben sich die beiden erneut: „Liebe“ dient in Gondrys Film also als transzendentale, übergeordnete Struktur, durch die das postmoderne Subjekt die Fragmentierung aufheben kann.
Medialität als Sinnstiftung
Cloud Atlas treibt diese Entwicklung auf die Spitze. Auf filmtechnisch und narratologisch bewundernswerte Weise nutzt der Film alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um eine übergeordnete, das Modell von Welt konstituierende Ordnung zu etablieren. In Cloud Atlas dient die Fragmentierung der Erzählung nicht mehr der Ästhetik einer fragmentierten Wirklichkeit, wie dies in der Postmoderne der Fall ist. Vielmehr dient das Short-Cuts-Verfahren selbst der Sinnstiftung: Erst durch die Medialität des Films wird den Zuschauer_innen eine kontingente Repräsentation einer Wirklichkeit, also eine andere mögliche Sicht der Dinge offengelegt. Die Erzähloberfläche, also das, wie erzählt wird (discours), ist so strukturiert, dass es die Geschichte selbst überlagert, also das, was erzählt wird (histoire). Anders gesagt: Erst durch das Erzählverfahren wird die Erzählung überhaupt erst möglich.
Eine Schlüsselszene in der Mitte des Films zeigt, wie die Struktur der Erzählung selbst eine erzählerische Funktion einnimmt. In dieser Szene verlässt die Kamera das einzige Mal vollständig die Hauptfigur der Episode, Luisa Rey, und zeigt den Protagonisten einer anderen Zeitebene, Isaac Sachs, wie er Notizen verfasst, die gleichzeitig von ihm vorgelesen aus dem Off zu hören sind. Das Bild führt Währenddessen entweder die Handlung der Episode fort oder stellt die Aussage des Off-Sprechers in einen Sinnkontext. Es greifen also auditiver und visueller Kanal ineinander über und erweitern den Informationsgehalt beider Kanäle. Die Kooperation von Text und Bild führt dazu, dass die einzelnen Kanäle mehr Bedeutung erhalten, als sie für sich alleine eigentlich transportieren würden. In der Zeichenlehre spricht man hier von einer „sekundären Semiotisierung“, also einer zweiten Bedeutung, die zur ersten hinzugefügt wird. Dadurch wird es möglich, dass in Cloud Atlas durch die Erzählform die eigentlich völlig unabhängigen Geschichten wieder kohärent zusammengefügt werden.
Die primären Vermittlungsfunktionen der einzelnen Kanäle, welche die primäre Semiotisierung und Bedeutungskonstitution übernehmen, werden durch die Auflösung der bisherigen Erzählinstanzen zueinander in Bezug gesetzt und auf diese Weise sekundär semiotisiert. Im konkreten Fall kooperieren gleich vier verschiedene auditive Kanäle miteinander; (a) der diegetische on-track Ton, also beispielsweise die Flugzeuggeräusche, (b) Off-Filmmusik, die (c) in eine an einem Flügel gespielte on-track „Filmmusik“ transformiert und anschließend mit dem diegetischen Ton in Kongruenz gebracht wird, sowie (d) ein per voice-over aus den Off präsentierter innerer Monolog, also der von Isaac Sachs verlesene Tagebucheintrag.
Diese auditive Ebene, die in sich selbst schon verwoben ist, eine zusätzlich zeichenhaft analysierbare Struktur aufbaut und damit auch erzählend ist, kooperiert nun mit der visuellen Ebene und versieht die einzelnen Episoden über ihre klassische filmische Bedeutungskonstituierung hinaus mit zusätzlicher Bedeutung. Wenn der Off-Sprecher Isaac Sachs sagt: „Kräfte, die Zeit und Raum neu definieren“ und dabei Robert Frobisher beim Komponieren gezeigt wird, setzt der Film natürlich eine Verbindung zwischen diesen Kräften und Frobishers Komposition. Es findet also eine „regelwidrige“ Überschreitung einzelner Kanäle statt. Sachs sagt durch seinen Monolog nicht mehr nur etwas über sich und seine Welt aus, sondern gleichzeitig auch etwas über die von Robert Frobisher, Son-Mi 451 und die anderen Charaktere, die zu sehen sind.
Die ideologische Grundidee des Films, nämlich dass alles zusammenhängt, kann also nur durch die Erzählform zustande kommen. Filmwissenschaftlich interessant ist dabei, dass die Medialität des Films es durch die Montage erlaubt, den discours als Sinnstiftungsinstanz zu installieren. Der Schnitt dient als Modus des tertium comparationis – „Alles ist verbunden“ (was auch der Untertitel der deutschen Fassung des Films ist). Dies wird entweder dadurch realisiert, dass ähnliche Erzählungen, etwa über Sklaverei, ähnliche Erzählstrukturen (Gefangenschaft-Freiheit) und ähnliche (diegetische) Orte hintereinander geschnitten werden oder sich Informationskanäle überlappen.
Die Struktur wird selbst erzählend
Zusammengefasst heißt das also: Durch die medienspezifische Montage der verschiedenen Kanäle sowie auf narrativer Ebene durch die Erzählstruktur, wird die Struktur selbst erzählend. Im Gegensatz zur Romanvorlage ist die Form der Erzählung für den Film sehr viel wichtiger: Die Geschichte entwickelt sich nicht nur dadurch, was erzählt wird, sondern auch wie sie erzählt wird. Es ist für den Film also wichtig, dass er ein Film ist: Das Nach- und Voreinander von Szenen, sich überlagernde Episoden, ist für die Geschichte des Films entscheidend. Er führt den Zuschauer_innen durch seine durchaus auch totalitäre Form eine mögliche Realität vor.
Verabsolutiert der Film also nur eine mögliche Wahrnehmung der Wirklichkeit und stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Dingen her, die nicht zwangsläufig gegeben sein müssen? Diese Frage lässt sich schnell mit „Ja“ beantworten, indem man zu den großen Erzählungen zurückkehrt: Denn Cloud Atlas propagiert eine solche große Erzählung, er stellt ein Welterklärungsmodell für scheinbar zufällige Ereignisse zur Verfügung.
Im Gegensatz zu Cloud Atlas weist Pulp Fiction durch seine ästhetischen Verfahren ständig auf die eigene Konstruktion als Film hin und unterläuft die oberflächliche Verbindung der Segmente, sodass der Gesamtfilm keine kohärente Erzählung darstellt.
Bei Cloud Atlas ist diese Verbindung der einzelnen Episoden sowohl durch das Erzählverfahren als auch durch das zugrunde liegende transzendentale Konzept des „Schicksals“ gewährleistet. Auf diese Weise wird die postmoderne Ästhetik der 1980er und 1990er Jahre metaphysisch gewendet und beendet das Ende der großen Erzählung, indem sie das Narrativ des Schicksals wieder aufgreift. Das ist nun insofern bemerkenswert, als dass sich hier vielleicht eine Rückwendung zu den „großen Erzählungen“ erkennen lässt. Die „großen Erzählungen“ werden in Cloud Atlas dabei durchaus in aktualisierter Form wiedergegeben, indem wir ein buntes Potpourri an religiösen Vermischungen wie etwa der klassischen Erlöserfigur Son-Mi 451 (Christentum) und Reinkarnationsglauben (Hinduismus) wiederfinden.
Daraus lässt sich ableiten, dass der Mensch in Cloud Atlas und anderen Filmen wieder nach Antworten auf die fragmentierte Welt sucht und die Sinnlosigkeit des postmodernen Menschen nicht akzeptieren möchte. Cloud Atlas ist dabei ein paradigmatischer Film, der die Fragmentierung selbst auf allen Ebenen thematisiert und gleichzeitig eine – ideologisch sicherlich nicht immer unproblematische – Lösung für das postmoderne Subjekt anbietet.
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