Wir fangen mit Musik an. So will es die Tradition. Viel Spaß mit meinen Lieblingssongs des Jahres. Die Reihenfolge ist keine Rangfolge, die Songs lassen sich so aber gut hintereinanderweg hören.
SEITE A
1. Selena Gomez – Bad Liar
Der Podcast “Switched on Pop” hat dieses Jahr wieder ganze Arbeit bei mir geleistet. Auch wenn die generellen Theorien über die Poplandschaft weniger geworden sind (ich vermisse Termini-Neuschöpfungen wie den “Pop Drop”), hilft er mir dabei, die Perlen der Charts, die ich nicht verfolge, zu entdecken. “Bad Liar” gehört definitiv dazu. Nicht, weil er wohl auf dem “Psycho Killer”-Riff der Talking Heads basiert (ich finde die Verwandschaft minimal), sondern wegen dieses tollen synkopischen Refrains, dem pling! auf der eins und dem schicken B-Teil, der mit “Oh Baby let’s make …” beginnt.
2. Dan Auerbach – Shine on Me
Ich musste ein Interview mit Auerbach hören, um zu kapieren, dass Mark Knopfler himself hier die Gitarre spielt. Wenn man es weißt, leuchtet es sofort ein. Aber auch ohne das Dire-Straits-Riff macht dieser Song einfach wahnsinnig Laune und eignet sich viel zu gut, um ihn an Sommernachmittagen zu singen, während man durch das Wohngebiet spaziert. Leider konnte mich nicht das ganze Album “Waiting on a song” überzeugen.
3. Judith Holofernes – Charlotte Atlas
Insgesamt konnte mich Judith Holofernes’ zweites Soloalbum nicht ganz so überzeugen wie ihr erstes, aber einige Songs liefen trotzdem bei mir in Dauerschleife. “Analogpunk” natürlich (mit einigen der besten Reime des Jahres wie “Ich Firewall / du Thor Heyerdahl”), der Titeltrack “Ich bin das Chaos” und eben “Charlotte Atlas”, in dem Judith (die ich auch live sehen durfte) aus vollem Rohren “Walk like an Egyptian” channelt, um zu mehr Gelassenheit beim Tragen unserer Sorgen aufzurufen.
4. Satchmode – State of Mind
Einige der Einträge aus dieser Liste stammen aus den “New Music for You”-Playlists von Apple Music, darunter dieser Track. Apple hat anscheinend meine merkwürdige Schwäche für 70s/80s Soft Rock durchschaut und einen Song gefunden, der wie im Labor für mich gezüchtet wirkt. Schummrige Synthies, klimpernde Gitarren, elektronisches Schlagzeug und ein hymnischer, bittersüßer Refrain. “You just keep breaking my heart / It’s only making me love you more” – du Dummkopf!
5. Henry Jamison – If You Could Read My Mind
Coverversionen sind ja im Streamingzeitalter a dime a dozen und viele von ihnen sind das mehrmalige Anhören gar nicht wert. Was Henry Jamison allerdings aus Gordon Lightfoots Song gemacht hat, gefiel mir irgendwie von Anfang an. Er behält den selbstmitleidigen Pathos in der Stimme bei, aber entschlackt das Bett darunter etwas und gibt ihm etwas mehr rhythmischen Umpf. Henry Jamisons Album “The Wilds” ist auch gar nicht verkehrt (insbesondere der Titelsong), aber ihm fehlt die songschreiberische Stärke von “If you could read my mind”.
6. Eddie Berman . You Can Call Me Al
Ein Cover noch, dann kehren wir zu den Originalen zurück. Eddie Berman gelingt es in seiner Gitarrenpicking-Interpretation Paul Simons Klassiker, der ja eigentlich von seinem Synthieriff und seinen stampfenden Drums lebt, eine neue Melancholie zu verleihen. So kommt die ganze Selbstreflektion des Originals ganz anders zum Vorschein.
7. K.Flay – Blood in the Cut
A propos stampfende Drums. Die kommen hier irgendwann dazu und bilden die Grundlage für einen immer größeren Aufbau von Drohkulisse bis zum finalen Refrain, den man dann endgültig mitgröhlen möchte. Ein Song, den ich beinahe selbst gerne mal covern würde.
8. The National – The System Only dreams in Darkness
Zeichen und Wunder! Ähnlich wie auch Arcade Fire und Radiohead gingen The National trotz großer Beliebtheit bei allen musikinteressierten Freunden über all die Jahre nicht an mich. Dieser Song hat das geändert. Ob es an dieser coolen Sologitarre liegt? An dem wunderbar aufrüttelnden Schlagzeug? Oder an “I can’t explain it / any other / any other way”? Erinnert mich jedes Mal daran, dass ich mir auch den Rest des neuen Albums in Ruhe anhören möchte.
9. alt-J – 3WW
Nicht alles, was alt-J auf ihrem dritten Album ausprobieren, gefällt mir. Im Gegensatz zu den beiden Vorgängerscheiben kann ich es nicht immer wieder durchhören. Aber die erste Vorabsingle hat sich in mein Hirn gebrannt. Vom langsamen Intro, über die ersten volksliedartigen Strophen bis zum Einsatz von Ellie Rowsell im letzten Drittel des Songs fließt der Song einfach wunderbar von Stimmung zu Stimmung, anscheinend um eine Outdoor-Liebesgeschichte zu erzählen.
10. Severija – Zu Asche, zu Staub (Psycho Nikoros)
Zu Babylon Berlin wird in diesem Blog dieses Jahr noch etwas mehr zu lesen sein, denn ich mochte die Serie wirklich. Die Musik, und vor allem dieser Track, der in einer fulminanten Szene in Folge 2 für den ersten Höhepunkt sorgt, haben daran auch einen Anteil. Dieses unbeirrbar pulsierende Jazzschlagzeug, über dem sich irgendwann die schwelgenden Tanzorchester-Klänge entfalten, hat einfach was. Es fängt tatsächlich ganz gelungen den Tanz auf dem Vulkan ein, den die Serie aus der Zeit macht, in der sie spielt. Da kann man bei “das bloße Haschen nach dem Wind” schon mal eine Gänsehaut bekommen.
SEITE B
11. Charlie Puth – Attention
Noch eine “Switched on Pop”-Perle. Kein besonders gehaltvoller Song, besonders vom Text, der aber irgendwie meinen R&B-Sweetspot trifft, nicht zuletzt wegen dieser enorm lässigen Bassgitarre im Refrain. Naja und dann ist da noch mein leichter Falsett-Fetisch. Aber darüber rede ich wahrscheinlich besser mit meinem Therapeuten. ;-)
12. Beck – Square One
Beck ist auch einer dieser gefeierten Künstler, dessen Oeuvre mir nie besonders zugesagt hat. Dass er auf seiner neuen Platte das Credo “Full Pop” ausgegeben hat, was einigen Fans weniger gefiel, scheint aber genau für mich gepasst zu haben. “Colors” ist insgesamt ein gut gelauntes, fett produziertes Popalbum, dass sich lohnt. “Square One” hat die schönsten Akkordfolgen, insbesondere im Refrain.
13. Jonathan Coulton – Don’t Feed the Trolls
Trotz mehreren Versuchen konnte ich aus Coultons Konzeptalbum “Solid State” nicht wirklich viel mehr ziehen als diesen Song, der textlich auf englischen Abzählreimen basiert, diese dann aber immer dreht, um irgendwas (ich weiß nicht genau was) über Internetkultur auszusagen. Bleibt locker? Lasst euch nicht fertigmachen? Ruhm vergeht? Egal. Ich mag die paranoide Zeile “Dance like they’re watching you / cause they are watching you”.
14. Julia Michaels – Issues
In Momenten emotionaler Verletzlichkeit hat mich dieser ebenfalls nicht gerade tiefgründige Popsong trotzdem regelmäßig sehr gerührt. Ich mag dieses Narrativ von zwei Menschen, die beide akzeptieren, dass sie Probleme haben und anstrengend seinen können, aber sich lieben und sich miteinander durchschlagen, wahrscheinlich weil es auch meine Philosophie ist. Vor sieben Jahren, beim ersten Date mit meiner Frau, haben wir uns beide unsere größten Schwächen erzählt und damit eine gute Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung geschaffen. “I’ve got issues, you’ve got ’em too / so give them all to me and I’ll give mine to you. / Bask in the glory of all our problems / cause we’ve got the kind of love it takes to solve them.”
15. 2raumwohnung – Ich bin die Bass Drum (Nacht)
Auch diese Nummer tauchte irgendwann in meiner Apple-Music-Liste auf und natürlich kenne ich 2raumwohnung irgendwie, aber eigentlich auch nicht. Der Track hat mich bisher noch nicht dazu verführt, den Rest des “Nacht und Tag”-Albums zu entdecken, aber seine futuristische Melancholie mag ich einfach.
16. Farin Urlaub – The Power of Blöd
Über Farins Album voller unveröffentlichter Demos gab es ein Radiofeature, über das ich wiederum eine Kritik geschrieben habe. Keiner der Songs blieb wirklich bei mir hängen, bis auf diesen großartigen Nonsens-Song, von dem ich mich wirklich frage, warum er nie auf einem Ärzte-Album gelandet ist und – wie geplant – in endlosen neuen Iterationen live gespielt wird. Enthält die Textzeile des Jahres: “Aber ich muss es singen, weil es hier steht / ich bin nur der Interpret / es ist dermaßen blöd.”
17. Caro – Eyes on the Ground
In einem Jahr, in dem mich das neue Everything Everything-Album doch irgendwie kalt zurückgelassen hat, muss ich mir irgendwie zappeligen Indiepop-Ersatz suchen und das Caro mit diesem Song noch am besten geschafft. War lange der größte Wackelkandidat für diese Liste, hat aber dann doch diese schönen Momente zwischendrin, vor allem diese Gitarrenfigur kurz vor dem Refrain.
18. Steven Wilson – Pariah
In prognahen Medien war zu lesen, dass Wilson mit seinem Album “To the Bone” auf besonders graziöse Weise den Brückenschlag zwischen Art Rock und Pop geschafft habe. Das finde ich nicht, ich finde “To the Bone” klingt halt wie Wilson immer klingt, was immer solide ist, aber immer auch sehr unterschiedlich bei mir hängenbleibt (“Insurgentes”, “Hand. Cannot. Erase.”) oder nicht (“Grace for Drowning”, “The Raven”). In “Pariah” findet er die richtige Kombination aus Harmonien, Sounds, Dramaturgie und Stimmen, um mir zu gefallen. Aber ich spreche trotzdem eine Hörempfehlung aus für alle, die diesen Ausnahmemusiker noch nicht kennen.
19. Lo Moon – This is it
Lo Moon hätten das Potenzial, in Wilsons Jagdgebiet irgendwann mal Teilpächter zu werden. Ihre Songs, von denen es leider immer noch nicht viele gibt, haben auch diese schwelgerische, überzeugte Epik, die gelingen oder albern klingen kann. Noch lieber als “This is it” hätte ich wahrscheinlich die erste Single “Loveless” in die Liste aufgenommen, aber die stammt von Herbst 2016. Dafür klingt “This is it” noch etwas mehr nach 80s Peter Gabriel und das ist doch auch was. Hoffentlich kommt von den Kaliforniern, die sich schon in ihrer Twitterbio als “3 song Band” bezeichnen, bald ein Album.
20. Iron & Wine – Call it Dreaming
Der letzte Song, der sich am Ende des Jahres noch auf die Liste gerettet hat. Einfach weil er trotz seiner sommerigen Stimmung auch perfekt in den kalten dunklen Winter passt. Ich weiß nicht genau, worum es in dem Song geht, ich glaube Vergänglichkeit, aber “Where we drift and call it dreaming / we can weep and call it singing” klingt trotzdem toll. Vor allem in der Stimme von Sam Beam.
21. Sufjan Stevens, Bryce Dessner, Nico Muhly & James McAlister – Jupiter
Es fällt mir durch das Streaming-Zeitalter zunehmend schwerer, mich für ganze Alben zu begeistern, aber dieses Jahr hat es eins geschafft: “Planetarium”, diese merkwürdige Kollaboration aus zwei Indie-Darlings, einem New-Music-Komponisten und einem Drummer, ist dank dieser Menschenkombination dann auch irgendwie ein Gesamtkunstwerk geworden, das vielleicht noch am ehesten mit Sufjan Stevens’ “Age of Adz” vergleichbar ist. “Jupiter” ist das Herzstück des Albums und enthält alle seine Merkmale. Stevensige sanft lullende Melodielinien, plötzlich hämmernde Elektronik, verzerrte Stimmen und weirde Harmoniefolgen und am Ende dieser verdammte Bläsereinsatz, mit dem man die Mauern von Jericho aufs neue zum Einstürzen bringen könnte. Nicht für jeden was, aber voll was für mich.
22. Per Gessle – Känn dej som hemma
Nach über 30 Jahren muss man von einem Songwriter mit so viel Output wie Per Gessle nichts Überraschendes mehr erwarten, und so klangen dann ja auch die letzten Roxette-Alben. Aber solo und auf Schwedisch hat Gessle diese eine Schiene, die er in seiner englischen Popmusik selten erforscht, außer auf “Song of a Plumber”, das zu meinen Lieblingsalben gehört. In diesem Modus denkt er in Instrumentierung und Gefühl an den Folk-Popm seiner Kindheit in den 70ern zurück und lässt sie neu entstehen mit sanften Songs wie “Känn dej som hemma” (Fühl dich Zuhause), mit gleitendem E-Piano, Fiedel, Maultrommel, gedämpfter Gitarre und einem heimeligen Text über jemand, der für seine geliebte Person zu Hause alles so herrichtet, dass sie sich wohlfühlt. Das ganze Album “En vacker dag” (Ein schöner Tag) ist so gefällig – da braucht es keine Hygge-Manuals mehr.
Knapp am Mixtape vorbeigeschrammt, aber dennoch hörenswert: A Perfect Circle – The Doomed, Ibeyi – I wanna be like you, Mew – Carry me to safety, Partner – Everybody Knows, LUWTEN – Difference, Ride – Home is a Feeling, Portugal. The Man – Feel it Still, Charlie Bliss – Black Hole, The Building – Have to Forgive, Set and Setting – The Mirrored Self
Dieses Jahr sehr viel gehört, aber leider nicht 2017 erschienen: Von Wegen Lisbeth – Wenn du tanzt, Aoife O’Donovan – Turn Me On, I’m a Radio, Pyur – Epoch Sinus, The Pineapple Thief – No Man’s Land, Things of Stone and Wood – Happy Birthday Helen, Neal Morse – The Ways of a Fool, St. Vincent – New York