De Senectute

Im Jahr 2003 wurde der Begriff “Das alte Europa” in Deutschland Wort des Jahres. Wie der Wikipedia-Eintrag zum Thema hilfreich aufschlüsselt, geht der Begriff in seiner damaligen Konnotation auf eine Äußerung von Donald Rumsfeld, damals US-Verteidigungsminister, zurück, der am 22. Januar 2003 auf einen Kommentar eines Journalisten, nach dem in den traditionellen europäischen Verbündeten der USA (Frankreich, Großbritannien, Deutschland) mehr als 70 Prozent der Bevölkerung gegen den Irakkrieg seien, antwortete:

You’re thinking of Europe as Germany and France. I don’t. I think that’s old Europe.

Altes Europa, im Sinne also von: Ein Europa, das rückwärts gewandt ist, das die scheinbar zukunftsweisende Politik der USA nicht unterstützen will. Ein Europa auch, das nicht mehr so wichtig ist, wie früher. Das neue Europa hat mehr zu bieten als die Kulturklötze Deutschland und Frankreich, beispielsweise ehemalige Ostblockstaaten wie Polen, die den Krieg der Amerikaner unterstützten.

Wie die Wikipedia weiter schreibt, und wie ich es auch in Erinnerung habe,

entwickelte sich das alte Europa [in Deutschland] zu einem geflügelten Wort, das teilweise auch mit Stolz und dem Hinweis auf eine vorgeblich moralisch integere Position gebraucht wird. Zudem dient es auch zur Unterscheidung der westeuropäischen Länder von den mittelosteuropäischen Ländern, die aus verschiedenen Erwägungen heraus den Kriegskurs der USA mehr oder weniger stark unterstützten. Kritiker sehen in dieser Haltung den Ausdruck einer gewissen Arroganz gegenüber den Staaten Ost- und Mittelosteuropas.

So weit, so gut. Das ist jetzt ja auch schon sechs Jahre her. Der Begriff jedoch lebt weiter, in persönlicher Unterhaltung genau so wie in den Medien. Eine Google News-Suche ergibt 19 Treffer, allein zum Zeitpunkt des Schreibens dieses Blogeintrags.

Wie mir heute aber erstmals deutlich in einem Perlentaucher-Beitrag bewusst wurde, scheint sich die Abgrenzung des Begriffs etwas verändert zu haben. Er bezieht sich nach wie vor ironisch und ein wenig trotzig auf die damaligen Oppositionsparteien, die Allianz der Grande Nation und des Landes der Dichter und Denker, allerdings kaum noch in Abgrenzung zum tatsächlich “neuen Europa” (im Sinne jener Staaten, die erst nach Fall des Eisernen Vorhangs plötzlich wieder als europäische Staaten in Erscheinung traten und auch die neuesten Mitglieder der EU sind), sondern stattdessen in Abgrenzung zu den USA (bzw. den USA und Großbritannien).

So schreibt also Thierry Chervel:

In den USA wird das Netz bei allen Problemen – etwa dem Zeitungssterben – als Reich einer neuen Freiheit begrüßt. Im alten Europa ist es das Reich des Bösen.

“Und im neuen Europa?” möchte man fragen. Auch in diesem Artikel tritt “das Alte Europa gegen die Neue Welt an”. Und hier schickt ein ursprünglich amerikanisches Kreuzfahrt-Unternehmen seine Schiffe nun auch “ins ‘alte Europa'”.

Auch in seinem ursprünglichen Kontext wird der Begriff noch oft genug gebraucht, aber diese Verwendung ist doch interessant genug. Das alte Europa ist hier also nicht mehr nur das altehrwürdige Europa, dass sich im Gegensatz zu den neureichen uppity-Staaten wenigstens auf seine moralische Integrität berufen kann und es nicht nötig hat, sich bei den Amerikanern anzubiedern. Es ist vielmehr auch das “gute alte Europa” (so wie die Briten ihr Land gerne Old Blighty nennen), das vielleicht von den fortschrittlichen Amerikanern längst abgehängt wurde, aber dafür “Staatengemeinschaft der Herzen” ist, oder so. Seine rückschrittliche Attitüde wird jedenfalls eher milde betrachtet. Wer will, der kann ja in die Neue Welt gehen, wir bleiben in unserem alten Europa. Wir müssen ihm gar kein neues Europa gegenüberstellen. Es gibt eh nur eins, und das ist nunmal alt.

Die Empörung der Unwissenden

Kann sich noch jemand erinnern, was für ein Aufschrei und eine Debatte durch die deutsche Medienlandschaft ging, als RTL 2 vor neun Jahren Big Brother startete? Mann, mann, was war da los… der Sender wollte Menschen doch tatsächlich 24 Stunden beobachten. Und: Weiter nichts. Inzwischen müssen die Kandidaten in dem Format gegeneinander kämpfen und soziale Gegensätze auf extreme Weise nachspielen und niemanden interessiert’s. Das “Dschungelcamp” (Ich bin ein Star, holt mich hier raus) machte dann vier Jahre später nochmal das gleiche durch – die Diskussion habe ich dann schon nicht mehr verfolgt. Inzwischen ist auch dieses Format seinen Schmuddelfaktor los und gehört zu den größten Quotenbringern von RTL.

Aber jetzt gibt es einen neuen Kandidaten, auf den sich die Sittenwächter der Republik wieder mit Freude stürzen können. Das Format heißt “Erwachsen auf Probe” und ist eine Adaption des in Großbritannien entwickelten und auch in den USA ausprobierten The Baby Borrowers. Jugendliche zwischen 16 und 19 sollen darin ausprobieren, wie es ist, Eltern zu sein. Sie machen einen Geburtskurs, kriegen erst eine Babypuppe zum drauf aufpassen, dann ein echtes Baby und später ein Kleinkind. Die Kameras sind die ganze Zeit dabei, die biologischen Eltern natürlich auch, “nur wenige Meter” von ihren Babys entfernt, oft genug direkt hinter der Kamera mit der Chance zum Eingreifen, wie es im RTL-Pressematerial heißt.

Wie mir ein RTL-Sprecher glaubhaft versicherte, hat keiner der Kritiker, inklusive des Deutschen Kinderschutzbundes (DKSB), der die Diskussion letzte Woche lostrat, die Sendung gesehen. RTL sagt “Wir laden unsere Kritiker ein, sich die Sendung anzusehen”. Selbst der DKSB ist laut RTL nicht auf den Sender zugekommen, weder vor noch nach seiner Erklärung. Gesehen hat sie nur die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) und ihr eine “positive pädagogische Absicht” attestiert.

Petra Pluwatsch vom Kölner Stadt-Anzeiger hat sich die Mühe gemacht, Hintergründe zu recherchieren und mit jemandem von der FSF zu sprechen. In ihrem recht ausgewogenen Artikel heißt es entsprechend:

Das Kernproblem sei die Tatsache, dass kleine Kinder in fremde Hände gegeben würden, so Joachim von Gottberg [Geschäftsführer der FSF]. „Da muss man sich fragen: Geht so etwas? Wissen die Eltern, was sie tun? Nehmen die Kinder Schaden, wenn sie in fremde Hände gegeben werden? Ist es generell in Ordnung, Kinder ans Fernsehen auszuleihen und abzugeben?“ Bei einigen dieser Fragen habe ihn durchaus ein ungutes Gefühl geschlichen. Auf der anderen Seite sehe er aber auch die „sozial wichtige Funktion einer solchen Sendung und ihre sinnvollen Tendenzen. Wie wollen Sie den jungen Leuten sonst klar machen, was es bedeutet, Kinder zu haben?“.

Ganz anders die Reichsbedenkenträger, egal ob sie von SPD, FDP, den Grünen (Pressemitteilung nicht online) oder allen Parteien gemeinsam (dito) kommen (oder auch von KStA-Kommentator Stefan Sauer, der anders als seine Kollegin anscheinend nicht nachgedacht hat vor dem Schreiben). Obwohl sie alle die Sendung (und ihr englischsprachiges Vorbild vermutlich auch) nicht kennen, werfen sie ihr die wüstesten Dinge vor.

Sie ist “ungeeignet und unmoralisch” meint Schleswig-Holsteins Familienministerin Gitta Trauernicht; Kinder würden “unverantwortlich” instrumentalisiert, sagt der Kinderschutzbund. Am besten ist FDP-Familienpolitikerin Ina Lenke. Sie nennt die Sendung in der Überschrift zu ihrer Pressemitteilung “Kinder verleihen” und sagt: “Säuglinge, die nicht über sich bestimmen können, werden zur Sensationsware erniedrigt.” – Ehrlich gesagt, kenne ich keinen einzigen Säugling, der über sich bestimmen darf. Wenn er oder sie das dürfte, fände ich das ehrlich gesagt viel bedenklicher. KStA-Kommentator Frank Sauer vergleicht die Sendung mit einer Art Kaspar-Hauser-Experiment von Friedrich II. und bescheinigt den Eltern eine “erbärmliche Bindung (…) zu ihren Kindern”.

Harter Tobak. Man muss “Erwachsen auf Probe” nicht gut finden, aber ob es das alles verdient hat? Wer kann das schon wissen. Bestimmt nicht die Schreihälse aus der Politik, die die Sendung ja auch noch nicht kennen. Ich auch nicht, übrigens, denn ich habe die Sendung natürlich auch noch nicht gesehen (außer diesem YouTube-Clip und ein paar anderen).

Ich bin nur mal wieder erstaunt, wie leicht man zu Aufmerksamkeit kommt, wenn man sich nur laut genug aufregt. Und wie dann alle drauf einsteigen, die noch weniger wissen, als man selbst. Und damit natürlich RTL vermutlich astreine Quoten am 3. Juni bescheren.

P.S.: Die nun folgende Meinung ist natürlich auch völlig unqualifiziert. Wäre ich eine Frau, würde sie vielleicht auch anders aussehen, aber: Gehen nicht viele Eltern schon drei Monate nach der Geburt wieder arbeiten und lassen das Baby dafür tagelang in fremden Händen? Und nicht nur die, die keine andere Wahl haben, sondern auch solche, die einfach gerne arbeiten und Karriere machen wollen?

[Nachtrag: Petra Schellen von der taz ist ähnlicher Meinung.]