Dabei sein und Dazugehören – Ein Fazit zur re:publica 2014

Was mir tierisch auf den Sack geht: Der Ausdruck “Netzgemeinde”
– Joachim Kurz, @Mietgeist, via Twitter

Ich gebe es bereitwillig zu: Einer der Gründe, warum ich auf die re:publica gefahren bin, war, dass ich gerne “offiziell” dazugehören wollte, zur Netzgemeinde. Ich wollte Leute treffen, die ich selten sehe oder noch nie persönlich gtroffen habe. Ich wollte Vorträge zu Themen hören, die mich interessieren. Und ich wollte das Gefühl haben, dabei gewesen zu sein, beim jährlichen Klassentreffen meiner Netzgemeinde.

Die Netzgemeinde, das sind in meinen Augen Menschen, in deren Leben das Internet eine wichtige Rolle spielt. Für die es mehr ist als nur reines Werkzeug, nämlich Lebensraum und Philosophie. So entsteht ein Zirkelschluss. Menschen, die freiwillig zur re:publica fahren, sind Netzgemeinde. Und wer zur Netzgemeinde gehört, fährt zur re:publica. Natürlich nicht verpflichtend. Aber es bietet sich an.

Gemeinde taugt

Gemeinde. Wer wie ich beruflich auch was mit Kirche macht, für den hat dieses Wort natürlich eine bestimmte Bedeutung. Aber ich habe es immer so wahrgenommen, dass selbst Menschen, die viele andere Dinge an Kirche ablehnen, Gemeinde gut finden. Nicht umsonst werden Gemeinden inzwischen sogar von säkulären Humanisten gepflegt.

Aber anscheinend hatte ich mir für meinen re:publica-Besuch gerade das Jahr ausgesucht, in dem es plötzlich gar nicht mehr so gut war, zur Netzgemeinde zu gehören. Zumindest nicht, wenn man nicht von Sascha Lobo beschimpft werden wollte, weil man nicht genug in die eigenen Lobbygruppen investiert. Weil man zusieht, wie unser Recht auf Freiheit vom eigenen Staat mit Füßen getreten wird. (Und irgendwas mit Vogelschutz, was ich dem Vogel gegenüber irgendwie unfair fand.)

Getting real

Auch anderswo wurde die Netzgemeinde abgestraft. “Get real”, meinte Yasmina Banaszczuk alias Frau Dingens und kritisierte in ihrem Vortrag: Als Netzgemeinde wahrgenommen würden nur weiße, bildungsbürgerliche, privilegierte Männer zwischen dreißig und vierzig, mit einer ganz bestimmten Agenda. Dabei gebe es sowohl eine digitale Spaltung in Richtung ältere Generation, als auch in andere Bildungsmilieus. Außerdem macht die jüngere Generation längst alles ganz anders; und Fashionblogger und Let’sPlayer verdienen im Netz gutes Geld, obwohl die Netzgemeinde sie ignoriere. Wir Netzgemeinder müssten uns ändern, meinte Yasmina. Weniger Ego, mehr Inklusion. Shame on us. Shame on you, Netzgemeinde!

Aber steckt darin nicht irgendwie ein Widerspruch? Kann man auf der einen Seite beklagen, dass sich bestimmte Menschen anmaßen, für eine wie auch immer geartete Netzgemeinde zu sprechen – und dann selbst für diese sprechen? Und sei es nur, um sie zu kritisieren und zu mehr Inklusion aufzufordern? Darf man an die Stelle eines falschen “Wir” einfach ein anderes axiomatisches “Wir” setzen, das aber auch nur ein verkapptes “Ich und meine Filterbubble” ist?

Not all Men

Als ich nach dem Vortrag anmerke, dass ich mich zwar als Teil der Netzgemeinde sehe, aber in meinem Umfeld durchaus nicht über Fashionblogger und schon gar nicht über Gamer gelacht wird, und dass parallel zu Yasminas Vortrag übrigens ein Panel mit Lifestylebloggern auf der re:publica abläuft, schreibt “kleinerdrei”-Bloggerin Lucie Höhler auf Twitter, ich würde ein “Not all Netzgemeinde”-Argument anbringen, analog zum “Not all Men”-Argument in feministischen Debatten.

“Not all Men” ist längst zu einem Meme geworden. Es geht dabei um den Einwand, es seien ja “nicht alle Männer so”, wenn strukturelle patriarchale Diskriminierungen in der Gesellschaft kritisiert werden – von glass ceiling bis rape culture. Meistens will sich der Widersprechende damit vor allem selbst aus der Schuld nehmen, bringt die Debatte aber damit nicht weiter – denn es geht ja sowieso nicht um die Männer, die nicht so sind.

Der Unterschied ist aber, dass ich mir nicht aussuchen kann, ein Mann zu sein. Mein “Mann sein” ist eine biologische und soziale Gegebenheit und es liegt an mir, daraus das Beste zu machen und die Fehler meiner Geschlechtsgenossen nicht fortzuführen. Teil der “Netzgemeinde” zu sein, ist aber etwas, was ich frei wählen kann. Ich sehe mich als Teil der Netzgemeinde, weil ich mit ihr bestimmte Lebenseinstellungen und strukturelle Ziele teile – siehe oben – und denoch spricht für diese Gemeinde weder Sascha Lobo (er hat das übrigens selbst letztes Jahr thematisiert) noch Yasmina Banaszczuk. Auf der re:publica waren dieses Jahr knapp 7000 Menschen. Sie alle sind Netzgemeinde. Und ihre Handlungen sind es, die zählen.

Drachenväter und Reverse Engineering

Ich will mich nicht dafür rechtfertigen müssen, zur den Menschen zu gehören, die das Internet toll finden. Genauso wie ich mich übrigens nicht dafür rechtfertigen möchte, ein Nerd zu sein und als solcher unter anderem Rollenspiele (die Fantasy-Art, nicht die soziologische oder sexuelle) toll zu finden. Das Buchprojekt “Drachenväter”, das auch mit einem Vortrag auf der re:publica vertreten war, schrammt meiner Ansicht nach haarscharf daran vorbei.

“Drachenväter”, ein Buch über die Geschichte des Rollenspiels, an dessen Crowdfunding ich mich beteiligt habe, argumentiert in einer Art Reverse Engineering, heutige Virtuelle Welten, ob in Videospielen, Social Networks oder Second Life, wären ohne klassische Tischrollenspiele wie “Dungeons & Dragons” nicht denkbar. Das mag stimmen, aber steckt hinter dieser Argumentation nicht auch der Wunsch des Außenseiters, sein Außenseiter-Hobby rückwirkend zu rechtfertigen? Es aufzuwerten, weil es Einfluss hatte auf etwas, das heute auch im Mainstream akzeptiert ist? Sich also im Endeffekt eine andere Zugehörigkeit zu geben? Als wäre Rollenspiel nicht an und für sich feierns- und untersuchungswert, weil es ein geiles, fantasievolles Hobby ist. Auch wenn Charakterbögen und Facebookprofile einander nicht gleichen würden. (Tom Hillenbrand hat auf diese Frage zähneknirschend gesagt, dass ich ein bisschen Recht haben könnte. Konrad Lischka war weniger nachgiebig.)

Auch Netzgemeinden brauchen Utopien

Dabei sein und dazugehören. Das Thema zog sich irgendwie durch viele Veranstaltungen, die ich auf der re:publica besuchen durfte. Teresa Bücker sprach in ihrem Vortrag “Burnout & Broken Comment Culture” am Mittwoch morgen davon, wie leicht es durch digitale Werkzeuge geworden ist, sich einer Sache anzuschließen und sich einer Bewegung zugehörig zu fühlen. Und wie schwierig es gleichzeitig ist, dabei zu bleiben, wenn man von den vorher dagewesenen sofort und ständig dafür kritisiert wird, dass man alles falsch macht. Quod Erat Demonstrandum. Inklusion bedeutet eben nicht nur, für die Entrechteten zu kämpfen. “Do you only care about the bleeding crowd? How about a needing friend?” hieß es schon 1969.

Ich bleibe dabei: Zugehörigkeitsgefühl zu Gruppen, Gemeinde, das ist etwas Gutes. Es stiftet gemeinsame Identität. Gemeinsame Identität kann etwas erreichen. Das ist meine Ansicht in meiner fortlaufenden, wenn auch kuscheliger gewordenen Filmblogosphären-Kampagne. Und es steckt zum Beispiel hinter der Tatsache, dass ich mich als Europäer begreife – um mal ein ganz anderes Beispiel zu bemühen. Manchmal mehr, als als Deutscher. Was uns eint, sollte immer stärker sein, als was uns trennt. Nur so lassen sich gemeinsame Utopien entwickeln. Wir brauchen Utopien. Auch die Netzgemeinde. Gerade jetzt, wo unsere heile Welt durch den Überwachungsskandal starke Risse bekommen hat.

Clanwirtschaft

Am Dienstagnachmittag der re:publica sprach Susanne Mierau über die gesellschaftliche Bedeutung von Elternblogs. Der Online-Elternclan, meinte sie, sei auch Ersatz für das nicht mehr vorhandene Clan- und Gemeinschaftsleben der vorindustriellen Menschen. Dort haben sich immer mehrere Frauen und Männer gemeinsam um Kinder und auch um Eltern gekümmert. Zur Zeit des Vortrags war ich noch voll auf dem High, endlich bei meiner Netzgemeinde angekommen zu sein. Aber den Gedanken eines Online-Clans finde ich auch jetzt noch sehr sympathisch.

Die letzte Veranstaltung, die ich auf der re:publica besucht habe, war übrigens noch einmal ein Vortrag von Yasmina am Donnerstagmorgen. Es ging um Fandoms und ihre Schlussfolgerung war im Grunde, dass man sich heute nicht mehr dafür schämen muss, Fan zu sein. Na also, dann. Ich bin Fan der Netzgemeinde. Auf geht’s!

P. S.: Wenn ich mir noch eine Sache rauspicken müsste, die ich grundsätzlich an der re:publica kritisieren möchte, dann­, dass mir viele Vorträge zu sehr an der Oberfläche blieben (vielleicht wegen des Sponsors Microsoft Surface? Ja ja), sobald es um kulturelle Themen ging, die nicht mehr nur mit Computern und Social Media zu tun hatten. Vielleicht saß ich auch nur in den falschen Veranstaltungen, aber ich finde man darf doch ein gewisses Niveau bei Publikum und Rednern voraussetzen, oder? Man darf doch ruhig auch mal Wissenschaft bemühen. Also auch Geisteswissenschaft. Zu Fandom etwa gibt es seit vielen Jahren eine blühende Forschungslandschaft. Das kann man dann in einem Vortrag zum Thema ruhig mal erwähnen. Gehört für mich auch zu Recherche dazu, dass man das wahrnimmt. Und dass man Fritz Langs urdeutschen Film Metropolis nicht “Mietwoppolis” ausspricht auch. Zumindest wenn man als Deutscher in Deutschland auf einem Podium über Science-Fiction spricht. Oder ist letzterer Gedanke zu tümelnd?

Die Geschichte von Sandra Bullock und Annie Porter

© 20th Century Fox

Es dauert 28 Minuten bis Annie Porter das erste Mal die Leinwand betritt und doch ist sofort klar, dass der Film ab sofort ihr gehören wird. Die junge Frau im trendigen Grunge-Outfit bekommt ihr Leben zwar scheinbar nicht auf die Reihe – sonst müsste sie nicht mit einem vollen Kaffeebecher dem Bus hinterher laufen – aber was ihr an Alltagstauglichkeit fehlt, macht sie mit Charme wieder wett. Nicht umsonst ist der Busfahrer ihr Kumpel und auch der Rest des vollbesetzten Busses scheint ihr die Verzögerung kaum übel zu nehmen. Der nervige L.A.-Tourist verfällt ihr sofort, und natürlich wird ihr auch Officer Jack Traven (Keanu Reeves) letztendlich verfallen. Annie Porter muss man einfach gern haben.

Speed ist ein Ur-Moment für Sandra Bullock, wie man ihn nur von wenigen anderen Schauspielerinnen kennt. Die Rolle der Annie Porter schien ihr auf den Leib geschneidert zu sein – und es ist kein Wunder, dass man sich kaum an eine Perfomance von ihr davor erinnert, obwohl sie damals, mit fast 30 Jahren, bereits einige Erlebnisse im Business hinter sich hatte.

Wildcat behind the Wheel

Obwohl Graham Yost offiziell Drehbuchautor von Speed ist, ist es kein Geheimnis, dass Joss Whedon das Drehbuch auf Charakter- und Dialogebene maßgeblich geformt hat und so ist Annie Porter auch eine typische Whedon-Frau: Sie ist eindeutig weiblich und eher zierlich, lässt Angst und andere Gefühle zu und stellt sie offen zur Schau. Doch während Jack Traven Befehle gibt und waghalsige Stuntakrobatik abliefert, fährt sie den verdammten Bus. Mit über 50 Meilen die Stunde. Eine “wildcat behind the wheel”, wie Bösewicht Dennis Hopper sie nennt. (Im dritten Akt des Films wird sie dann leider doch zur hilflosen Damsel in Distress, aber erinnert sich überhaupt noch jemand daran, dass der Film in einer U-Bahn und nicht in einem Bus endet?)

© Screenshot: 20th Century Fox
© Screenshot: 20th Century Fox

Heute ist Sandra Bullock ein Filmstar. Der bestbezahlte sogar. Und doch findet sich kaum ein Artikel, kaum ein Interview, in dem nicht erwähnt wird, dass Bullock immer noch einen “Mädchen von Nebenan”-Charme versprüht. Dass sie eine Frau ist, die andere Frauen gerne zur Freundin hätten. Man möchte fast sagen: Sandra Bullock ist Annie Porter. Ein bisschen zu apart sind ihre Gesichtszüge für klassische Hollywood-Schönheit. Ein bisschen zu frech und zu klug blitzen ihre Augen für den hohlen Glamour des roten Teppichs.

Bullock hat die Annie-Porter-Figur in ihrer Karriere endlos variiert, mal mehr mal weniger erfolgreich, in all den seichten und vergleichsweise belanglosen Filmen, in denen sie der Star war. Manchmal hat sie die gefühligere Seite der Figur nach außen gekehrt, wie in While you were Sleeping mit Bill Pullman und The Lake House, der Wiedervereinigung mit Speed-Costar Keanu Reeves. Mal mutiert die Busfahrerin zur schlagkräftigen Frau im Business-Milieu, wie in The Net und A Time to Kill. Und dann gibt es noch die Parodie der Frau, die etwas zu taff ist, um wirklich Frau zu sein, mit der sie in Miss Congeniality 1 und 2 und The Proposal zur bestbezahltesten Schauspielerin Hollywoods aufstieg.

Ironische Ausreißer

Es gibt Ausreißer in dieser Rollenbiografie. Und beide entbehren nicht einer gewissen Ironie. Denn eine davon ist ausgerechnet Bullocks zweiter Auftritt als Annie Porter in Speed 2: Cruise Control. In dem weithin als überflüssigstes Sequel der Filmgeschichte angesehenen Überflop mutiert Annie zu einer Mischung aus Chaoshyäne und ängstlichem Beach Girl, das nur darauf wartet, dass ihr neuer Freund Jason Patric mit Steven-Seagalscher Stoik den Tag rettet. Hier spielt Bullock genau das, was sie vorher nicht war: den Hollywood-Star Bullock.

© Screenshot: 20th Century Fox
© Screenshot: 20th Century Fox

Der zweite Ausreißer ist ihre Rolle in The Blind Side, wo sie plötzlich mit blondgefärbten Haaren eine Oberklasse-Mutter mimt, die sich eines unterpriviligerierten, afroamerikanischen Footballtalents annimmt. Auch eine bestimmt agierende Frau zwar, aber doch eine, die mit ihrem All-American-Image so gar nicht zu Bullock passen will. Ironisch, aber wahrscheinlich entsprechend auch völlig folgerichtig, ist dieser Ausreißer deswegen, weil Bullock dafür ihren bisher einzigen Oscar gewann.

© Warner Bros.

The Second Coming

2013 war das Jahr, in dem Sandra Bullock die Welt wissen ließ, dass man nach wie vor mit ihr (und mit Annie Porter) rechnen muss. Zuerst in The Heat (Bild am Anfang des Artikels), in dem sie der Miss Congeniality-Figur einen neue Facette verlieh. Die Polizistin Ashburn ist ein unsympathischer Kontrollfreak, der – wie sich später herausstellt – nur wegen eines Kindheitstraumas so unlocker ist und deswegen von ihrem exakten Gegenteil auf der Korrektheits-Skala (Melissa McCarthy) erst eine Runde weichgeschüttelt werden muss. Ein Buddy-Movie mit zwei Frauen, die beide auf unterschiedliche Art klassischen Frauenbildern widersprechen.

Und dann schließlich mit Gravity. Es ist wahrscheinlich dem überwältigenden, technischen Spektakel des Films zu schulden, dass nicht in mehr Kritiken und Artikeln der Rückvergleich gezogen wurde zwischen der durchs All treibenden Ryan Stone und Bullocks Durchbruchs-Rolle in Speed. Hier wie dort findet sich eine Frau plötzlich in rasanten Umständen wieder, die sie kaum kontrollieren kann, mit einer tickenden Bombe im Nacken. Und hier wie dort bringt diese Frau den Bus/die Raumkapsel am Ende erfolgreich ans Ziel. Ryan Stone ist die erwachsene Version von Annie Porter. Das Leben hat in der Zwischenzeit einige Narben bei ihr hinterlassen (obwohl der Haarschnitt ähnlich geblieben ist), doch dafür braucht sie auch keinen Mann mehr, um ihre Mission zu Ende zu bringen.

© Warner Bros.

Bullockness in Perfektion

Gravity ist der Film, für den Sandra Bullock einen Oscar verdient hätte. Ganz abgesehen davon, dass ihre Performance den Film mühelos trägt, berührend und nervenkitzelnd zugleich; dass dahinter Schauspiel in erstaunlichen Umständen steht, in dem Bullock abwechselnd alleine in einer Lichtkiste saß und von Puppenspielern an Fäden dirigiert wurde. In Gravity spielt Sandra Bullock mit fast 50 Jahren die vollendete Version ihrer Rollengeschichte. Bullockness in Perfektion.

Leider stehen die Chancen schlecht. Zu groß ist die Konkurrenz durch Cate Blanchetts erstaunliche Kernschmelze in Blue Jasmine und Amy Adams’ chamäleonhafte Reflektion über Schein und Sein in American Hustle. Aber wer weiß: Es gab schon größere Überraschungen in der Oscarnacht. Und Annie Porter kann Sandra Bullock sowieso keiner mehr wegnehmen.