Gute und böse Computerbilder: Der Realismus-Mythos von Mad Max: Fury Road

© Warner Bros.

Stuttgart, FMX 2012, eine typische Session. Jeff White, Visual Effects Supervisor bei Industrial Light and Magic (ILM) beschreibt das Arbeiten an The Avengers. Für eine Szene, in der Captain America aus einem Flugzeug springt, zeigt das gefilmte Material ein Flugzeug vor Green Screen. Captain America Chris Evans nimmt Anlauf, springt einen Meter tief und rollt sich ab. Die Kamera folgt ihm und beendet ihre Bewegung auf einer grünen Matte. Im Film fällt Captain America weiter und die Kamera bleibt auf ihm, während er in die endlose Tiefe segelt.

Der Plan war, erklärt Jeff White, Chris Evans an jenem Punkt, wo gefilmte Realität und geplantes Filmbild sich nicht mehr decken, durch ein digitales Double zu ersetzen, eine gescannte Version des Schauspielers, die im Computer animiert werden kann. Doch der Prozess, einen Übergang zwischen Realität und Modell zu schaffen, entpuppte sich als viel zu arbeitsintensiv. “So it was easier to just replace the whole thing”, sagt White. Im fertigen Film agiert nur das Double, anfangs über die Bewegungen Evans’ drüberanimiert und irgendwann autonom gestaltet. Aber Evans selbst ist in der Einstellung nicht mehr zu sehen.

Es ist einfacher, den Rechner anzuwerfen

Ähnliche Geschichten bekommt man in Visual-Effects-Berichten immer wieder erzählt. Bei hanebüchenen Stunts, insbesondere wenn sie im Film von übermenschlichen Wesen wie Superhelden ausgeführt werden, ist es oft einfacher, direkt den Rechner anzuwerfen. Dort werden die Szenen dann entweder aus dutzenden isoliert gedrehten Elementen zusammenkomponiert — Schauspieler, Himmel, Explosionen, Fahrzeuge, Set-Aufnahmen — oder sie werden von null im Computer gebaut und irgendwann herausgerendert.

Das Ergebnis sind Szenen mit ernormem Wow-Faktor und oft sehr wenig Realismus, über die sich Filmfans derzeit mit Vorliebe beschweren. Der Backlash gegen Computer-Generated-Images (CGI) ist in vollem Lauf. Ein unterhaltsamer Artikel auf “Cracked” nennt 6 Reasons Modern Movie CGI Looks Surprisingly Crappy. Gleich der erste Grund lautet sinngemäß “Weil Filmemacher sich visuell nicht zurückhalten können, wird die Schwerkraft regelmäßig ausgehebelt”. Grund 3 nennt das gleiche Argument für Kamerabewegungen. Glaubwürdigkeit und Physik werden auf dem Altar der Awesomeness geopfert. CGI wird zum Standard statt zur Ausnahme. Das Publikum wird für dumm verkauft.

Gegenbeispiel Mad Max

Als Gegenbeispiel feiern Kritiker_innen dieser Tage Mad Max: Fury Road. George Millers Film hat ähnlich viel gekostet wie andere Blockbuster, aber die zweistündige Verfolgungsjagd wirkt anders als das ähnlich intensive Hauen und Stechen bei Avengers: Age of Ultron einen Monat zuvor. “Weil dort alles echt ist”, sagen die Fans, “ein alter Hase wie George Miller weiß eben noch wie es geht – ohne die verdammten Computer.”

Kulturpessimistisch mag das einleuchten, es ist aber leider falsch. Von den 2.400 Einstellungen, aus denen Mad Max: Fury Road besteht, sind fast alle im Computer angefasst worden. Im Fachmagazin “fxguide” erklärt Visual-Effects-Supervisor Andrew Jackson:

“I’ve been joking recently about how the film has been promoted as being a live action stunt driven film – which it is, […] [b]ut also how there’s so little CGI in the film. The reality is that there’s 2000 VFX shots in the film. A very large number of those shots are very simple clean-ups and fixes and wire removals and painting out tire tracks from previous shots, but there are a big number of big VFX shots as well.”

Wenig in Fury Road ist echt. Dieses “Wired”-Video gibt einen guten, schnellen Überblick über die vielen Techniken, die eingesetzt wurden. Ganze Umgebungen wie die Zitadelle am Anfang des Films wurden im Computer gebaut. In einer großen Anzahl der Einstellungen wurde der Himmel ausgetauscht. Charlize Theron wurde digital ein Arm amputiert. Im Sandsturm sind es CGI-Autos, die zerfetzt werden. Und der “Grade”, die Farbgestaltung des Films, ist ebenfalls ein höchst digitales Produkt.

Der entscheidende Unterschied

Die Stunts sind aber echt, und anscheinend ist das der entscheidende Unterschied. War Boys und Pole Cats, Tom Hardy und der Doof Warrior mit seiner feuerspeienden Gitarre waren zwar mit Drahtseilkonstruktionen abgesichert, die hinterher im Computer “rausgemalt” wurden, aber sie haben sich tatsächlich bei hoher Geschwindigkeit in der Wüste bekämpft. Der Kamerawagen fuhr mit bis zu 160 Stundenkilometern mitten zwischen den aufgemotzten Autos hindurch, auf denen Stunt-Chef Guy Norris und sein Team aus Akrobat_innen und Stuntpersonen ihr makabres Ballett aufführten.

Mad Max, obwohl fantastisch und grotesk in seiner Gestaltung, bleibt diesseits des Uncanny Valley, in dem beinahe-echte Sachen irgendwie fake wirken. Die Zuschauer_innen scheinen zu spüren, dass sich hier echte Menschen in Gefahr begeben, auch wenn um sie herum fast nichts so aussieht, wie in der Realität. Sie scheinen unbewusst zu unterscheiden zwischen “bösen” Computerbildern, die Realismus ersetzen, und “guten” Computerbildern, die Realismus erweitern.

Digital erschaffene Bilder im Kino sind nichts Besonderes mehr. Sie sind Teil des Werkzeugkastens aller Filmemacher, egal in welchem Genre. Obwohl über drei Jahre alt, dürfte etwa dieses Virtual Backlot-Video vielen Menschen, die sich nicht regelmäßig mit digitalem Filmemachen beschäftigen, die Tränen in die Augen treiben. Ja, auch in ganz einfachen Fernsehserien ist fast nichts mehr echt.

Nicht jeder ist George Miller

Doch dieses zweite Zeitalter der Computerbilder wird es Regisseur_innen, Kameramenschen und VFX-Supervisors daher auch abverlangen, ein Gespür dafür zu entwickeln, wo die Linie zwischen Akzeptanz und Ablehnung beim Publikum verläuft. Wieviel CGI ist zu viel CGI und wo lohnt es sich, Effekte “in camera” zu drehen (was nicht unbedingt teurer sein muss), um diesseits der Linie zu bleiben?

Gleichzeitig müssen aber auch weiterhin Filme einen Platz finden, die dem Realismus ganz bewusst den Stinkefinger zeigen und den Computer und seine Möglichkeiten nutzen, um die Grenze zwischen Echt und Falsch, zwischen Animation und Realfilm verschwimmen zu lassen. Das Problem vieler aktueller Blockbuster ist – besonders in Superheldenfilmen – dass ihre Plots und Geschichtenwelten so fantastisch sind, dass sie wohl manchmal selbst nicht wissen, ob sie realistisch und awesome oder comichaft und awesome sein wollen. Schließlich ist nicht jeder ein Christopher Nolan oder George Miller, der trotz allen Feuerwerks mit beiden Beinen auf der Erde stehen will. Techniken wie die Splash Pages in Age of Ultron zeigen, dass manche Regisseur_innen mit Absicht eine Annäherung an nicht-realistische Bild-Traditionen suchen. Es scheint nur, als müsste man sich für eine der beiden Optionen entscheiden.

Danke an Sascha für den Hinweis auf den Zach-Braff-Tweet.

Die Eliminierung des Zufalls: Ein Gespräch über Gravity

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Manchmal kann man Filme nach dem Kinogang nicht alleine verarbeiten. Wie gut, dass das Internet einem oft die besten Gesprächspartner zur Verfügung stellt. Nach dem Ansehen von Alfonso Cuarons Gravity habe ich mich mit Filmemacher und “Real Virtuality”-Gastblogger Sebastian Mattukat zusammen hinter den Instant Messenger geklemmt und Gedanken über das Weltraumdrama ausgetauscht. Logischerweise ist das Gespräch voll mit Spoilern.

Alex: Sebastian, du hast gesagt, du hast erhöhten Redebedarf bei “Gravity”. Warum?

Sebastian: Weil ich es furchtbar finde, dass die ersten 30 Minuten mehr oder weniger aus dem Rechner sind und real aussehen. Für mich ist Gravity sowas wie Final Fantasy 2, die komplette Eliminierung des Zufalls und damit dessen, was für mich Film zum großen Teil mit ausmacht. Es ist keine Kunst, einen 15-Minuten-One-Take aus dem Rechner zu erzeugen. Aber eine Plansequenz wie in Joe Wrights Abbitte schon. Und das ist für mich ein großer Punkt, warum der Film so fürchterlich unemotional ist. Man vergleiche ihn nur mit Soderberghs Solaris. Der Film verbreitet eine tiefe Melancholie. Ob man ihn jetzt mag oder nicht, Remake hin oder her, aber er vermittelt wunderbar das Gefühl von Einsamkeit im All.

Alex: Ich habe schon einen interessanten Artikel gelesen, der die Frage stellt, ob Gravity nicht streng genommen sowieso ein animierter Film ist. Und selbst Kameramann Lubezki hat zugegeben, dass es einige Passagen gibt, wo der Film nah dran ist am Uncanny Valley, nämlich dort, wo Bullock durch die Raumstation von Modul zu Modul fliegt – und das war der Punkt, wo ich auch an Final Fantasy denken musste. Aber ich habe das Gefühl, es geht Cuaron gar nicht um das Angeben mit tollen Kameramoves sondern um das Erleben in Echtzeit. Hat das bei dir nicht funktioniert?

Sebastian: Jein. Also ich hatte das Gefühl, dass gerade die Anfangssequenz schon sehr gewollt war. Die hätte auch mit Schnitt funktioniert. Ich hatte letztens ein interessantes Gespräch mit meinem Kameramann, der meinte, bei einem Film, den zum Beispiel Roger Deakins fotografiert, stellt sich dem Betrachter nie die Frage, ob die Kamera auch woanders hätte stehen können. Das fand ich extrem interessant. Es gibt, wenn man drüber nachdenkt, immer wieder Filme, da steht die Kamera perfekt. Gravitys Anfang gehört auf jeden Fall nicht dazu. Der hat mehr den Anschein von einem Videospiel in seiner Ungeschnittenheit. Wie CinemaScope auf Twitter schon meinte: “GRAVITY is like watching someone playing a video game who has mastered all of the levels.” Die Eliminierung des Zufalls ist das, was vielen Blockbustern durch ihre Effektorgien so viel an Sympathie raubt.

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Alex: Ich weiß aber nicht, ob es die rein formale Komponente ist, die den Film auch für mich irgendwie unemotional hat erscheinen lassen. Im Grunde besteht der Film ja aus der “Open the Pod Bay Doors, Hal”-Sequenz aus 2001, nur auf 90 Minuten gedehnt. Aber während Dave bei 2001 am Ende seiner Mission in die endlose, spirituelle Weite des Alls entführt wird, “Beyond the infinite”, will Ryan hier nur zur Erde zurück. Dieser ganze Sense of Wonder, von dem George Clooneys Charakter die ganze Zeit redet, kam für mich nicht so recht auf. Wie war das bei dir?

Sebastian: Überhaupt nicht. Dafür hat man aber auch viel zu wenig von der Erde und dem All gesehen. Ständig ist etwas explodiert oder ging schief. Man hat nie in die Tiefe schauen können, hat nie traurig werden können aufgrund der Einsamkeit, hat dadurch nie die Schönheit der Erde gesehen.

Alex: Naja, doch so ein bisschen. Die Momente der Ruhe gab es schon.

Sebastian: Aber die waren alle drinnen. Außer einmal, wenn er sie in Richtung ISS zieht und dann die Musik anschaltet.

Alex: Als Sandra Bullock zum ersten Mal aus dem Raumanzug klettert und da wie ein Fötus in der Luftschleuse hängt, das fand ich schon bewegend. Und auch diese schreckliche Isolation, der einzige Mensch weit und breit in einem riesigen Vakuum zu sein. Das konnte man auch spüren. Aber sonst wurde alles von einer ständigen Anspannung überdeckt. Mir fehlten diese großen Atmer, in denen die Ehrfurcht vor dem All spürbar wird.

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Sebastian: Das war mir ein bisschen zu viel 2001. Und dann mit dem Ende und dem Aufstehen als Mensch … Was bei Alien, 2001 und Solaris zum Beispiel anders ist, ist, dass sie das Ruhige nicht totquatschen. Da ist es bei Alien halt gruselig, bei 2001 strange und bei Solaris tieftraurig.

Alex: Und hier?

Sebastian: Der Moment, wo sie da lang fliegen am Anfang, wird über-redet mit dem, was man fühlen soll. Und innen, bei dieser Fötusnummer, sind die Bilder zu symbolisch. Man kann nicht durchatmen, was ja Teil des Konzeptes ist. Aber dann ist man halt auch mehr bei einem normalen Actionfilm, nur eben im Weltraum. Selbst die ruhigen Momente sind mega-aufgeladen. Was zum Beispiel supergut hätte werden können ist, wenn die Szene mit Clooney in der Kapsel länger gewesen wäre. Wenn sie sphärischer gewesen wäre. Das fand ich kurzzeitig richtig stark, aber dann war sie schon wieder wach und zurück in der Realitität. Wie geil wäre es gewesen, wenn am Ende ein Hinweise gegeben worden wäre, dass sie noch da oben ist.

Alex: Stimmt. Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Aber ich glaube das entspricht nicht Cuarons Weltbild, so etwas Gemeines.

Sebastian: Das wäre aber so richtig toll gewesen, dann ginge der Pathos auch auf.

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Alex: Wie bei jedem 3D-Film hätte ich mir übrigens mehr Close-ups gewünscht. Ich finde, dabei entsteht eine Intimität, die man so im Kino sonst nicht erlebt.

Sebastian: Ja, wobei Gravity ja auch von der Story her nicht wirklich nah dran an den Figuren war. Sie hatte halt ein totes Kind und kann ohne probleme kyrillische Anleitungen lesen. Aber ich weiß, was du meinst. Drinnen fehlte denen einfach die Weite des Raumes und im All gabs oft ja nur die unendlichen Weiten des Films.

Alex: Dieses übermäßige Aufladen der Figuren mit Klischees hat mich auch gestört. Sie ist ganz die emotionale Heldin mit totem Kind, und er ist ein so routinierter Astronaut, dass er sogar beim Sterben nur daran denkt, den Rekord von jemand anderem zu brechen. Ich frage mich, ob man solche Figuren braucht, wenn die Action oder das All die Hauptrolle spielen soll, oder ob man mit Charakteren, die etwas mehr wie echte Menschen gewirkt hätten, vielleicht mehr Emotionalität hätte erreichen können. Hier wirkte die Emotionalität auf mich nur so per Ansage erzeugt. “Sie hat ein totes Kind, fühlt gefälligst mit ihr”.

Sebastian: Ja, er hätte deutlich mehr Profil haben können, gerade wenn er stirbt. Wie wäre es gewesen, wenn sie gelogen hätte vor ihm. Wenn sie irgendwie an dem toten Kind Schuld gehabt hätte, es aber niemanden verraten hat. Aber dann, ganz alleine, erzählt sie es den Chinesen, dass sie es damals verzockt hat.

Alex: Ändert alles übrigens nicht daran, dass ich trotzdem finde, dass “Gravity” ein erstaunlicher Film ist. Bei allem, was ich jetzt hier bekrittelt habe, dieser Stilwille und dieser Mut zum extremen Experiment mitten innerhalb des Mainstreamkinos, davor muss man schon den Hut ziehen. Und langweilig war mir auch nicht im Kino.

Sebastian: Nee, langweilig war es nicht, aber auch nicht besonders doll. Passte in das Kinojahr und war einer der besseren Vertreter. Jetzt muss es Lars mit Nymphomaniac richten.

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Alex: Ich interessiere mich ja schon länger für Filme, die an der Grenze zwischen Animation und Realfilm liegen. Mein vorheriges Lieblingsbeispiel war immer 300. Insofern ist Gravity da auf jeden Fall auch ein interessanter neuer Eintrag in die Annalen der VFX-Geschichte. Ich hoffe, dass noch mehr Bildmaterial von den Dreharbeiten auftaucht und ich werde mir das auf der BluRay auf jeden Fall auch noch einmal sehr genau anschauen. Ich finde ja, dass Filme die auf sehr hohem Niveau manchmal in letzter Instanz scheitern (obwohl die Kritiker sich ja größtenteils doch vor Lob überschlagen) häufig historisch gesehen interessanter sein können, als filmische Triumphe, die dadurch entstehen, dass man die letzte Meile sicherheitshalber nicht geht. Für mich ist Gravity ersteres und damit insgesamt dennoch einer der besten Filme des Jahres. Ich überlege die ganze Zeit, ob es sich lohnen könnte, ihn ein zweites Mal zu sehen.

Sebastian: Bei Children of Men gibt es am Ende diese Einstellung wo Clive Owen durch die Straßen rennt, in das Hochhaus, um das Kind zu retten. Die konnten die Einstellung nur drei- oder viermal machen. Dann spritzt Blut an die Optik und Cuaron ruft “Schnitt!”, doch aufgrund einer Explosion hört ihn niemand und der Take läuft weiter. Die ganze Szenerie ist unfassbar real. So etwas fehlt mir bei Gravitiy. Der Film ist zu perfekt.