West Side Story, Romeo & Julia und die reine Liebe

West Side Story (2021), Bild: 20th Century Studios

Romeo und Julia ist vielleicht mein Lieblingsstück von Shakespeare. Daran ist sicher die Frühprägung durch Baz Luhrman Schuld, vielleicht auch die geniale Struktur des Stücks, von der ich erfuhr, als ich für meine Anglistik-Abschlussprüfung lernte – es beginnt als freche Komödie und wendet sich dann mit Mercutios Tod in einen tragischen Thriller, der mit hoher Geschwindigkeit auf sein unaufhaltsames Ende zurast. Vor allem aber fand ich die Liebesgeschichte in seinem Zentrum als junger Mensch doch immer sehr romantisch – diese reine Liebe, die Grenzen sprengt und am Ende beide gemeinsam (Spoiler für ein 400 Jahre altes Theaterstück!) in den Tod reißt.

Da die Liebesgeschichte in West Side Story nach Romeo und Julia gemodelt ist, ging es mir da natürlich ähnlich. Meine Erinnerungen sind stärker als vom eigentlichen Bühnenstück oder Film von dessen Soundtrack geprägt, in dem die “Balcony Scene” ja ganz vorhanden ist. Eine Begegnung auf dem Tanz, ein Kuss, “The most beautiful sound I ever heard”, “Only you, you’re the only thing I see …”, dann die kurze Harmonie und schließlich der unausweichliche Tod.

Steven Spielbergs und Tony Kushners Version von West Side Story bemüht sich insgesamt um mehr Erdung. Nicht nur, weil die (CGI-)Sets weniger studiohaft, sondern straßenmäßig echt wirken und mehr sozialer Hintergrund zur Situation der Jets und Sharks eingeführt wird, sondern auch, weil Schauspiel und Schauspieler sich weniger glamourös geben. Der abgerockte und sehnige Mike Faist als Riff macht einen ganz anderen Eindruck als Russ Tamblyn im Film von 1961 – ein echter Straßenköter, kein Hollywoodstar, der sich in staubige Kleidung geworfen hat. Der ganze Konflikt zwischen den Gangs wirkt von Anfang an lächerlich und sinnlos. Junge Männer, die sich gegen ein System auflehnen, das gegen sie ist, und darauf hoffen, sich durch Gewalttaten zu glorifizieren – wobei Spielbergs Kamera ganz klar macht, dass keine Glorie wartet, sondern nur Verzweiflung.

Vor diesem Hintergrund wirkt plötzlich auch die Liebesgeschichte um ein vielfaches weniger rein und romantisch. Rachel Zeglers Maria spricht es in der “One Hand, one Heart”-Szene sogar aus: Tony scheint explizit auf der Suche zu sein nach einer Verliebtheit, die ihn über den Rest seiner Peers erhebt, wer liegt also näher als das Mädchen im weißen Kleid, das auch noch zum politischen Gegener gehört. Maria selbst hingegen will eigentlich erstmal nur ein bisschen Spaß haben, lässt sich dann aber von Tonys romantischen Fluchtfantasien mitreißen. Ansel Elgort spielt Tony mit einer Klotzigkeit und Dumpfheit, bei der es schwerfällt zu entscheiden, ob sie ein Bug oder ein Feature ist. Beide sind sehr jung. Der Zeitraum, in dem ihre Liebe aufblüht und zerfällt ist weniger als 36 Stunden.

Ich will gar nicht zynisch auf Maria und Tony gucken, wobei es sicher auch mein etwas nüchternerer Blick von heute, aus einer lange andauernden, durch viel Arbeit gefestigten und gewachsenen Beziehung ist, der aus mir spricht. Aber ich denke, dass auch Spielberg und Kushner klarmachen: diese Liebe ist ebenso unreif, ebenso töricht wie die Machtphantasien von Riff und Bernardo. Keine star-cross’d Schicksalhaftigkeit ist am Ende Schuld am tragischen Finale, sondern auch hier die falsche Vorstellung, romantische Ideale könnten etwas gegen systemische Probleme ausrichten. Es bleibt nur die Hoffnung, dass es irgendwann besser wird – aber ganz bewusst wird “Somewhere” nicht von Tony und Maria gesungen, sondern von Valentina, der einzigen neuen Rolle des Films, die gleichzeitig von der einzig zurückkehrenden Schauspielerin, Rita Moreno, gesungen wird. Wie passend für ein Alterswerk. Nicht durch jugendliches Aufbrausen, nicht durch reine Liebe werden wir besser, sondern durch stetiges Dazulernen über Generationen.

(vgl. auch Far from the Tree)

Auf der Straße tanzen

In Noah Baumbachs Film Frances Ha (2012) gibt es eine Schlüsselszene, in der Frances die New Yorker Straßen entlangläuft und dabei tanzt.

Als ich den Film vor zwei Jahren sah, musste ich eine Weile überlegen, warum mir diese Bilder so bekannt vorkamen. Erst während der Konzeption meiner Kritik fiel es mir mit ein bisschen Followerpower wieder ein. Inklusive ihrem Musikeinsatz, David Bowies “Modern Love“, handelt es sich bei der Szene um eine direkte Hommage an Leos Carax’ Mauvais Sang von 1986.

Doch der Gedanke dahinter reicht noch tiefer zurück. Die Straße und der Gehweg als Bühne. Die reine Fortbewegung, die “Ambulation”, wie man sie besonders gebildet nennen kann, wird zur Performance, zum Pulsieren eines inneren Beats, zum Ausdruck der Musik in unserem Kopf.

In Musicals ist die Straßenbühne ein Klassiker. Von Singing in the Rain (1952), in der sie zum Schauplatz für endloses Glück wird …

… über West Side Story (1961), wo sich auf ihr die gegenseitigen Drohgebärden Bahn brechen …

bis zur Eröffnung von Hairspray (2007), in der die Hauptfigur auf dem Schulweg ihre Weggefährten ansingt mit “Good Morning Baltimore”.

Und erst die unzähligen Musikvideos, in denen Menschen ihre Performance auf dem Bürgersteig ausleben. Michael Jacksons “Billie Jean“, The Verves “Bittersweet Symphony“, Björks “It’s Oh, so Quiet“. Der Film Girl Walk // All Day. Die Straße ist Bühne. Dort zu tanzen, während wir unseres Wegs gehen, liegt uns im Blut.

Warum zähle ich das alles auf?

Weil ich es selbst ständig tue.

Wenn ich unterwegs bin, habe ich fast immer Musik auf den Ohren. Und ich kann nicht Musik hören, mich dabei bewegen, und mich nicht mit der Musik bewegen. Je nachdem, wie beobachtet ich mich gerade fühle, singe ich entweder mit (unterschiedlich laut) oder ich spiele diverse Luftinstrumente (als Drummer natürlich besonders gerne Luftschlagzeug, aber auch mein Luftbass und mein Luftpiano können sich sehen lassen).

Manchmal tanze ich sogar ein bisschen. Das kann beim Akzentuieren der “Punches” in der Musik durch Gesten wie Luftfäuste oder kleine Explosionen mit den Fingern anfangen, beim Wippen vom einen Fuß auf den anderen an der Fußgängerampel weitergehen und sich an besonders guten Tagen auf tatsächliches Hin- und Herhüpfen, Umkreisen von Pfosten und Springen auf Steinformationen ausweiten. Oder ich renne einfach mal ein paar hundert Meter im Rhythmus, wenn es in meinen Ohren gerade mal besonders auf die Zwölf geht. Nicht ganz so graziös wie Frances Ha natürlich, aber mit Überzeugung.

Ich erzähle das, weil ich mir wünschen würde, dass es mehr Leute machen würden. Kopfhörer sind heute überall im Straßenverkehr, aber die meisten Menschen starren trotzdem wie Zombies aus ihnen hervor. Ich glaube, nicht, dass sie alle Podcasts hören. Sie scheinen einfach nur nicht das Bedürfnis zu spüren, die Musik, die sie hören, nach außen zu tragen.

Manchmal jedoch, sehe ich wenigstens wie jemand mit dem Kopf wippt. Wie jemand lautlos die Lippen im Text bewegt. Wie jemand auch nur das Gesicht in einer Pose verzieht, die besagt, dass dieser Mensch gerade die Musik spürt, die ihm im Kopf dröhnt. Ich lächle dann nur in mich hinein und rufe nicht: “Tanz, tanz, denk an Frances Ha!” Aber ich weiß zumindest, dass ich nicht alleine bin.