Kassel, Herbst 2001. Mein Chef hat mich freundlicherweise mitgenommen auf die Tradeshow der Filmverleiher, auf der den Kinobesitzern die möglichen Hits der nächsten Monate vorgestellt werden. Highlight Film stellt dort den Film Serendipity mit John Cusack und Kate Beckinsale vor, eine romantische Komödie, die ihren Titel im Trailer erklärt.
When Love Feels Like Magic, It’s called Destiny. When Destiny Has A Sense of Humor, It’s Called Serendipity.
“Wir suchen übrigens noch einen deutschen Titel”, heißt es nach dem Trailer aus der Richtung der Verleiher. Klar, “Serendipity” ist für Deutsche nicht nur ein Zugenbrecher, es lässt sich auch nicht direkt übersetzen. “Glücklicher Zufall”, vielleicht, aber dem fehlt dieser besondere, fröhlich klimpernde Klang des Wortes. Ich schlage “Ironie des Zufalls” vor, auch eine eher schwache Idee. Am Ende kommt der Film ein halbes Jahr später als Weil es dich gibt in die Kinos. Love, Magic, Destiny, Humor – und ein fröhlich klimperndes Wort ausgemerzt zugunsten einer hohlen Grußkartenformel. Man kann deutsche Filmtitel nur hassen.
Mainz, Jahresanfang 2013. Im März zeigt 3sat eine ambitionierte Filmreihe über die unterschiedlichen Lebenssituationen von Frauen in islamischen Ländern. Die Filmredaktion hat zwei Spielfilme beigesteuert, für die ich als Redakteur fungiere. Für Leila Kilanis faszinierenden Genremix Sur la Planche suchen wir in der Redaktionskonferenz einen deutschen Titel. “Sur La Planche” bedeutet “auf der Planke”, “auf dem Sprungbrett”, vor der Entscheidung in ein neues Leben zu springen oder in den Abgrund zu fallen – so sieht Badia, die Hauptfigur des Films, sich selbst. Der englische Festivaltitel lautet “On the Edge”. Eine deutsche Entsprechung wäre vielleicht “Auf Messsers Schneide” oder “Auf dem Sprung”. Wir diskutieren angeregt und immer wieder fällt das Argument, dass der Film herausstechen, dass der Titel etwas aussagen muss. Am Ende entscheiden wir uns, auch mit meiner Stimme, für den Titel Nachts in Tanger. Die spannungsgeladene Lebensentscheidung einer jungen Frau, geopfert zugunsten eines Titels, der Mysterien und einen exotischen Schauplatz verheißt (beides bietet der Film übrigens auch tatsächlich). Deutsche Filmtitel, das Geschmeiß der internationalen Filmlandschaft.
Ich bin Mittäter. Ich bin mit dafür verantwortlich, dass bei der Übertragung von Originaltiteln für die deutsche Vermarktung hässliche Kompromisse eingegangen werden. Und das obwohl ich jahrelang nichts anderes gemacht habe, als auf deutsche Titel zu schimpfen. Ich hatte sogar mal mit einem Kollegen überlegt, ein Buch mit den “100 bescheuertsten deutschen Filmtiteln” herauszugeben – von den Schauspieler/Figur-vertauschenden Entgleisungen der sechziger Jahre (Frankie und seine Spießgesellen), über die (häufig mehrfachen) Sinnentstellungen des B-Movie und Direct-To-Video-Marktes, bis hin zum nouveau-anglais der 2000er, in denen englischsprachige Filme einen anderen englischen Titel bekommen und so aus Rabbit-Proof Fence in Deutschland Long Walk Home wird.
Kein Wunder, dass Woody Allen sich in seine Verträge schreiben lässt, dass die Titel seiner Filme im Ausland nicht geändert werden dürfen. Und ebenso kein Wunder, dass im Sinne internationalen Markenerhalts immer mehr große Filme einfach ihren Originaltitel behalten. Das Ergebnis: Zuschauer, die auch nicht so richtig wissen, was der Filmtitel eigentlich bedeutet (sogar ich mit meinem Magister in Anglistik musste mir Zero Dark Thirty erklären lassen) und sich an der Kinokasse die Zunge verrenken.
Aber ist das nicht immer noch besser, als der sonst übliche Krampf, bei dem oberstes Gesetz ist, dass schon der Titel des Films nur eine mögliche Assoziation zulässt, die dem Zuschauer jedes eigenständige Denken abnimmt. Bridesmaids mit “Brautjungfern” zu übersetzen kommt nicht in die Tüte, nur Brautalarm schreit laut genug KOMÖDIE!!!! – auch noch, wenn der Film aus den Kinos ist und beim Blättern in der Videothek oder der Fernsehzeitschrift gefunden werden soll. Am meisten lache ich mir immer ins Fäustchen, wenn sich Titelentscheidungen im Nachhinein als dumm herausstellen, und Dan Browns Buch in Deutschland als “Sakrileg” erscheint (denn Bahnhofsbuchhandlungs-Thriller dürfen immer nur reißerische Ein-Wort-Titel haben – oder brauchen, wie Terry Pratchett schon festgestellt hat, mindestens einen griechischen Buchstaben im Titel), dann aber als “Da Vinci Code” ein globales Phänomen wird und der Film quasi mit zwei Titeln ins Kino kommen muss.
Dabei wird uns Deutschen doch mit unseren eigenen Filmtiteln viel mehr eigenes Denkvermögen zugetraut. Selbst bei Keinohrhasen würde doch nicht sofort jeder an eine romantische Komödie denken, es ist einfach ein clever klingendes Wort, das Interesse weckt (soviel muss man dem Film schon zugestehen). Schutzengel (um mal im Schweigerversum zu bleiben) könnte genau so gut ein Liebesdrama im Rettungssanitäter-Milieu sein wie ein Thriller über einen Ex-Cop und seine Tochter. Wäre der Film ein englischer und hieße “Guardian Angel”, hieße er in Deutschland sicher “Der Guardian” (weil das härter klingt) oder er würde einen markigen Untertitel wie “- er lässt dich nicht allein” bekommen (man denke an The Rock – Fels der Entscheidung). Bestimmte Phrasen stehen für alle Genres ja auch schon readymade zur Verfügung, “… zum Verlieben” für Romantik und “… zum Knutschen” für Komödien, zum Beispiel.
Und doch: ich kann die Denke dahinter verstehen, weil ich inzwischen in der gleichen Situation war. Nachts in Tanger erweckt einfach mehr Aufmerksamkeit als “Auf dem Sprung”, ein Filmtitel, hinter dem alles und nichts stecken kann. Und ich möchte ja, dass diese Perle von einem Film, in dessen Akquise und Bearbeitung viel Mühe geflossen ist, gefunden und geschaut wird. Denn Wörtlichkeit in der Übersetzung ist auch gar nicht das, worauf es ankommt – jeder der mal übersetzt hat, wird mir da hoffentlich zustimmen. Vielleicht gibt es ja einen Mittelweg, in dem man sich Freiheiten erlaubt, aber sein Publikum trotzdem nicht restlos für dumm verkauft. Ich hoffe, dass mir das mit Nachts in Tanger gelungen ist.
Die 3sat-Filmreihe “Frauen im Islam” startet am 3. März. Nachts in Tanger läuft am 7. März um 22.25 Uhr, im arabischen Original mit deutschen Untertiteln.
Danke für die Anregung an Jack.
“Wörtlichkeit in der Übersetzung ist auch gar nicht das, worauf es ankommt”. Mag sein. Vermarktbarkeit (“einfach mehr Aufmerksamkeit”) aber auch nicht; vielleicht für “Mittäter”, aber wohl nicht aus Cineasten-Sicht.
Zumal das Absatz-Argument (“es verkauft sich dann halt einfach besser”) neuerlich die Frage aufwirft, was dem Publikum zuzumuten und zuzutrauen ist, bzw. ob man als Entscheider – ja, auch wenn’s ‘nur’ um deutsche Verleihtitel geht – dem kleinsten gemeinsamen Nenner nachgeben muss.
“ein Filmtitel, hinter dem alles und nichts stecken kann”
Vielleicht haben wir/die Übersetzer/Marketingleute nur Angst, dass wir mit der Überstzung eben nicht alles treffen. Dass wir irgendwie doch haarscharf daneben liegen. Man legt sich ja irgenwie fest. Oder der Titel klingt im Original (es bleibt bei aller Kenntnis eben doch eine FREMDSprache) noch irgendwie geheiminisvoll, übersetzt aber plötzlich so banal, dass wir gar nicht glauben wollen, dass es das schon ist. Also noch ein schmissiger Untertitel, damit es auch der Letzte kapiert. Oder doch neu erfinden.
Ich wage mal zu behaupten, dass auch dem native speaker sich nicht jeder Titel sofort in seiner Vielschichtigkeit erschließt.Und auch nicht muss. Und dass diese Vielschichtigkeit auch gar nicht immer da ist. Manchmal soll ein Filmtitel wohl eben genauso einfach “klingen”, wie er ist.
Aber ich gebe zu, wenn man dann so eine Redaktionsentscheidung treffen muss, ist alles nicht mehr so klar und einfach. Die “Zwänge”… schade eigentlich. “Auf dem Sprung” klingt spannend.
Katharina, du hast gut auf den Punkt gebracht, was ich nicht formulieren konnte. Lieber frei etwas neues schaffen als eng dran danebenhauen.
Mit dem Trend einfach die Originaltitel zu verwenden, kann ich gut leben, auch weil manche Titel kaum knackig zu übersetzen sind oder wörtlich übersetzt sehr merkwürdig klingen – siehe Dein Beispiel “Rabbit Proof Fence”. Noch besser wäre es ab und an, einfach auf die Kraft eines einfaches deutschen Wortes zu setzen: “Der Mechaniker” statt “The Mechanic” oder ein älteres Beispiel “Nordnordwest” statt “Der unsichtbare Dritte”. “Beasts of the southern wild” hätte ich mir unter dem Titel “Die Bestien der südlichen Wildnis” auch auf jeden Fall angesehen. Deutsche Übersetzungen klingen manchmal auch einfach altmodischer, weil wir viele treffende Ausdrücke nicht mehr verwenden: “True Grit” lässt sich zum Beispiel gut mit “Echter Schneid” übersetzen, aber würdest Du als Verleiher Dich für diesen Titel entscheiden? Wie dem auch sei: Nachdem ich einmal gesehen habe, wie eine Dame Buchkaufentscheidungen in Sekundenschnelle anhand von Coverfarbe und Titel traf, nehme ich es keinem Verleih mehr übel, bei Mainstreamprodukten auf Klischees zu setzen.
“Beast” heißt aber auch nicht nur “Bestie”. Es heißt auch einfach “Wildes Tier”. Die Buchkaufsentscheidungsanekdote ist großartig, danke!
96 Hours – Taken 2!
Großartiger Artikel!
In Großkinos erlebe ich die Bestellung des Kinotickets zunehmend häufiger wie im Imbiss: Zweimal Kino sechs, bitte. Und dazu ‘ne große Cola.
Wenn du Mittäter bist, dann hole bitte die gute alte Zeit zurück, wo die 90er gerade in die Videotheken spülten und es zwischen prickelnder Expolitation, grausamen Horror und knallharter Action Klangvolles für jeden Geschmack etwas in der Auslage gab. Es muß kitzeln, man muß kichern aber es muß so diese Gesamtqualität haben, daß man sich den letzten Mist dafür ansehen würde, weil genauso gut auch der totale Hit dahinter verborgen liegen könnte – ein ernsthaftes Drama im Gewand eines Rape’n’Revenge Films etwa. Es muß wieder Abenteuer geben, die stinklangweilig gewordene Plakatmeilen ohne Aussagekraft zu einem neuen, kunterbunten Jahrmarkt gestalten. Oft fühlt man sich wie in einem sozialistischen Supermarkt, wo alle Produkte eine gelbe Packung haben, auf der in Schwarz der Inhalt beschrieben wird. Saft. Bier. Wurst. Marmelade. Kino ist kein Schützenverein. Meinetwegen kann Nachts in Tanger auch Schleuderkurs Marokko heißen.
Hätte Woody Allen diese Klausel schon immer in seinen Verträgen gehabt, dann gäbe es den Stadtneurotiker nicht. Und das fände ich persönlich doch schade.
Es war wohl nachdem in Frankreich “The Sleeper” als “Woody et les robots” ins Kino kam. Ich mag das Wort “Stadtneurotiker” auch, aber andererseits ist es auch schade, dass der Fokus des Films damit auf ihn gezogen wird, während es ja eigentlich doch um Annie Hall geht, oder?
Hmm, ich kann mit diesen ganzen Überlegungen zum behaupteten Übersetzungsproblem wenig anfangen. Ich würde als Grundregel eine wortwörtliche Übersetzung allem anderen jederzeit vorziehen. Die deutsche Sprache hat so viel zu bieten. “Echter Schneid” – das hätte ich mir angesehen. Ich habe inzwischen leider das Gefühl die Filmverleiher würden sich der deutschen Sprachgewalt fast schon schämen.
“Wörtliche” Übersetzungen gibt es aber nicht immer. Denk mal dran, dass es zum Beispiel im Deutschen kein Gerundium gibt, es im englischen aber sehr beliebt bei Filmtiteln ist (“Finding Nemo”, “Educating Rita”). Und was ist mit Wortwitzen – siehe den Post über “Cloudy”. Mit solchen kategorischen “Regeln” kommt man beim Übersetzen nicht weiter, das ist immer ein Abwägungsprozess.
Naja, deshalb schrieb ich ja Grundregel, also nicht im absoluten Sinn. Ausnahmen gibt es immer, aber ich finde man sollte nur auf sie zurückgreifen, wenn sie durch eben diese von dir aufgeführte Unübersetzbarkeit notwendig sind. Ansonsten kommt man nämlich mit der wörtlichen Übersetzung in 90% der Fälle ganz gut zurecht.
Ich finde zum Beispiel dein vorgestelltes Beispiel mit Sur la planche bezeichnend. Nachts in Tanger ist sicherlich kein schlechter Titel und die beschriebenen Überlegungen absolut nachvollziehbar. Aber es gibt eben wie du schön anführst auch zahlreiche Varianten die weit näher am Original sind. Natürlich ist Übersetzung wie es ja an sich schon heißt eine Übertragungsarbeit von einer Sprache in die Andere, von einer Kultur in die Andere. Aber darum sollte es gehen. Übersetzung, Übertragung. Dazu gibt es den Sprachschatz dazu gibt es Synonyme. Die Qual der Wahl bleibt also selbst bei der wörtlichen Übersetzung die ich favorisiere gegeben.
Nichtsdestotrotz finde ich es gut, dass Schuld und Sühne eben nicht (mehr) Raskolnikov heißt, nun aber alternativ auch als Verbrechen und Strafe vorliegt. Ein FIlm wird im laufe seines Lebens immer viele fremdsprachige Titel haben. Wenn einem aber etwas am Original liegt, sehe ich keinen Grund, warum man auf gänzlich originäre Neuschöpfungen zurückgreifen sollte.