Das Beste und Schlimmste an BeReal

Ich bin jetzt seit knapp drei Wochen bei BeReal angemeldet, der neuen Social-Networking-App, die ihre Nutzer einmal am Tag zu einer zufälligen Zeit auffordert, ein Bild mit beiden Kameras des Handys zu machen, und ich finde sie großartig. Internet hat schon lange nicht mehr so viel Spaß gemacht.

Ich hatte das verrückte Glück, sehr früh bei Facebook zu sein, nämlich bereits im Herbst 2005, als ich mein Erasmus-Semester in Großbritannien machte. An diese frühe Facebook-Zeit erinnert mich BeReal gelegentlich. Es gibt kein “Folgen”, sondern “Freundschaften”, die gegenseitig bestätigt werden müssen. Es ist angenehm, plötzlich wieder im kleinen Kreis zu sein. Ein Finsta-Account, der Ähnliches bewirkt hätte, war mir immer zu viel Arbeit.

Geteilt wird in der Regel banaler Alltag. Menschen, die vor Computern sitzen, vor Fernsehern, in Cafés, die Straßen herunterlaufen. Das finde ich erfrischend, nicht unbedingt aus dem meist zitierten Grund, dass viele Menschen auf sozialen Medien immer nur die hochglanzpolierten besten Seiten ihres Lebens zeigen und so bei allen anderen FOMO auslösen. Gerade bei Freunden und Bekannten kann ich mich in der Regel für sie freuen, wenn sie Urlaub machen oder andere tolle Dinge erleben. Was mich vielmehr begeistert, ist, dass ich die meisten dieser Menschen halt doch in erster Linie aus dem Internet kenne. Und ich es schön finde, ihre Wohnungen zu sehen, ihre day jobs, ihre Freizeitorte. Und nicht, wie anderswo (selbst auf dem allen Video-Pivots zum Trotz inzwischen sehr textlastigen Instagram), hauptsächlich ihre Meinungen oder die Meinungen von anderen, die sie teilen.

Der Modus der App sorgt auch dafür, dass ich mich endlich mal nicht heimlich dafür schäme, mein alltägliches Leben zu teilen. Ich werde ja sogar dazu aufgefordert. Wenn ich es nicht tue, kann ich auch nicht sehen, was die anderen machen. Anderswo, gerade auf Twitter, fährt immer die Angst mit, meine Follower entweder zu langweilen oder mir vorzukommen, wie ein unangenehmer Selbstdarsteller (was ich eventuell auch bin, aber ich versuche, es mir nicht dauerhaft anmerken zu lassen).

Interessant ist es auch, zu beobachten, wie selbst die auf größte Authentizität gedrillte App Inszenierung nicht verhindert. Frei nach Paule W.: Man kann nicht nicht inszenieren. Welchen Ausschnitt wählen die Nutzer*innen genau, wenn sie fotografieren, was vor ihnen ist? Grinsen sie, wenn die Frontkamera ausgelöst wird? Machen sie ein Peace-Zeichen? Gucken sie traurig oder geschafft? Achten sie darauf, dass sie gut zu sehen sind oder pflegen sie eine gezielte Nicht-Ästhetik? Drängen sich Freunde mit ins Bild? Mein Lieblingsmoment jeden Tag besteht darin, wie das social-media-affine Paar, von dem jeder seinen eigenen Account hat, sich regelmäßig gegenseitig fotografiert, weil es zum Zeitpunkt des Prompts gerade zusammen zu Abend isst oder Fernsehen schaut.

Es wird nicht lange dauern, bis BeReal entweder eingeht, weil es keine Einnahmequelle hat, oder von Werbung, Marken und Influencern eingenommen wird, wie jede andere App auch. Aber für den Moment genieße ich den Augenblick in der Ausprobier-Bubble.

Einen riesigen Nachteil hat der zufällig am Tag platzierte Prompt dann aber doch. Man kann den ganzen Tag unterwegs sein und spannende und schöne Dinge machen, aber BeReal meldet sich manchmal erst, wenn man abends erschöpft auf der Couch sitzt und irgendeine uncoole Serie guckt. Das ist doch gemein! Ich weiß, dass es genau darum geht, aber ich hoffe dennoch jeden Tag auf die Gnade des Zufalls. Die brauche ich doch! Ich muss doch beweisen können, dass mein Leben zwischendurch auch mal interessant ist!

Gottes Auge: Der wirklich geniale Kniff an This Is Us

This Is Them (c) NBC

Es gibt vieles, was man This Is Us vorwerfen kann (und ich denke, es ist zu Genüge geschehen). Die Serie um ein Drillingstrio, von dem eins Schwarz und adoptiert ist, ist oft genug kitschig. Sie ist melodramatisch und dreht bei allem, was mit Gefühlen zu tun hat, die Regler immer so weit nach rechts, das sie manchmal brechen. (Finde ich nicht nur verkehrt, vor allem wenn es um männliche Verwundbarkeit geht, aber sei’s drum.) Und sie hat alle Fallstricke einer Seifenoper, mit dramatischen Wendungen in einer solchen Häufigkeit, das es manchmal ins Absurde abdriftet. Insbesondere die Dichte an lange verloren geglaubten, plötzlich wieder auftauchenden Verwandten lässt an einen eher an die Klischees einer Telenovela denken, als an “Qualitätsfernsehen”.

Doch während ich gerade in der Mitte der 5. Staffel stecke (wir hatten zwischendurch fast zwei Jahre Pandemiepause gemacht, weil uns alles etwas too much war), bewundere ich aufs Neue, wie genial weniger die Handlung als der zentrale erzählerische Kniff von Dan Fogelmanns Serie ist. This Is Us spielt, das ist der erste große Reveal am Ende der Pilotfolge, parallel in verschiedenen Zeitebenen. Gleichzeitig zum Leben der Hauptfiguren als erwachsene anfangs 35-Jährige im Jahr 2016, erzählt die Serie auch die Geschichte der Eltern 35 Jahre zuvor.

In den ersten Staffeln hat das Ganze ein bisschen den Vibe von The Godfather – Part II. Die Szenen, die in den 80ern spielen, haben hauptsächlich Rückblenden-Charakter. Sie informieren Geschehnisse in der Gegenwart, bieten notwendigen Hintergrund, und dienen vor allem darum, ein sehr lange gezogenes Stück Suspense aufrecht zu erhalten. Wir wissen, dass Jack, der Vater von Kevin, Kate und Randall, gestorben ist, aber wir wissen nicht, wann und unter welchen Umständen. Bis diese Frage endlich aufgelöst wird, legt die Serie sehr viele falsche Fährten. Meisterhaft, aber irgendwann auch ein wenig ernervierend.

Von dieser Enthüllung befreit wird This Is Us ab Staffel 3 mutig. Sie multipliziert die Zeitebenen und springt nicht nur in verschiedene Zeiten zurück (inklusive der Kindheit der Eltern), sondern auch nach vorne, wenn die Kinder der Protagonist*innen bereits erwachsen sind. Gelegentlich baut sie dadurch die gleiche Fake-Spannung auf, indem sie einen schicksalhaften Moment vorwegnimmt und uns dann lange in der Schwebe hält, wie es dazu kam.

In den besten Fällen aber nutzt die Serie ihre Allwissenheit über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur eines Menschen sondern einer ganzen Gruppe, um wirklich wie mit dem Auge Gottes auf ihre Leben zu blicken. Sie tritt einen Schritt zurück und breitet das Leben ihrer Figuren wie einen geknüpften Teppich vor den Zuschauenden aus. Sie lässt uns die Fäden sehen, die sich vom Gestern ins Heute und ins Morgen ziehen, und die, die plötzlich enden, nur um vielleicht später wieder aufgenommen zu werden. Sie zeigt uns, wo Pfade auseinandergehen und wieder zusammenfinden oder neue Abzweigungen bilden. Sie lässt uns Menschenleben als Ganzes betrachten, nicht nur durch den schmalen Sehschlitz, der unser Alltag ist.

Man stelle sich vor, man besäße diese Fähigkeit für sein eigenes Leben. Möchte man das überhaupt? Psychotherapie versucht es manchmal. Alle Karten auf den Tisch legen und versuchen, die Muster zu erkennen. Aber This Is Us sieht eben nicht nur die Kausalitäten aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Es kann auch noch sehen, ob wir die Versprechen, die wir uns heute geben, halten werden, und wer noch dabei sein wird, um uns daran zu erinnern. Wer diesen Auge hat, der besitzt ein mächtiges Werkzeug. Es lässt ein ein kleines bisschen ehrfürchtiger auf uns Menschen und unsere Verstrickungen blicken. Und das ist etwas Besonderes.