Die neue Nationalgalerie von außen, die "The Clock" zeigt

The Clock

Vor kurzem habe ich mir einen vierzehn Jahre alten Wunsch erfüllt.

Im Februar 2011 habe ich auf David Bordwells Blog erstmals von Christian Marclays Filminstallation The Clock gehört. Marclays Werk passte in die Zeit. Denn mit der allgemeinen Verfügbarkeit von Videostreams über YouTube war auch die Zeit der “Supercuts” angebrochen, in denen Enthusiast:innen im Internet Filmszenen aneinanderreihten, die miteinander zu interagieren schienen, oft unterlegt mit Musik.

The Clock ist, so wird er auch immer wieder genannt, der ultimative Supercut. Marclay und sein Team haben aus über 3000 Filmen Szenen herausgesucht, in denen Uhren im Bild zu sehen sind oder in denen es um Zeit geht. Diese Szenen haben sie zu einem 24-Stündigen “Film” montiert, in dem, wenn man ihn korrekt synchronisiert, die im Bild gezeigten Uhren immer der Uhrzeit außerhalb des Films entsprechen. Um 12 Uhr mittags sieht man Szenen, die mittags spielen. Um 18 Uhr abends sieht man Filme, die um 18 Uhr abends spielen. The Clock ist also nicht nur ein Supercut von Uhren-Szenen, er ist auch selbst eine Uhr. Ein erstaunliches Werk, das ich unbedingt sehen wollte, seit ich zum ersten Mal darüber gelesen habe.

Aus Rechtegründen ist The Clock nirgendwo einfach so zu sehen, weder im Internet noch im Kino. Seit 29. November aber läuft er in der Neuen Nationalgalerie in Berlin und somit hatte ich vor kurzem die Gelegenheit, mich in seinen Bann zu begeben.

Meine erste Erkenntnis: The Clock ist doch etwas anders, als ich erwartet hatte. Die Uhrenszenen folgen nicht “neutral” aufeinander, sie sind, wie in einem Supercut, miteinander verwoben. Manche Szenen sind parallel montiert, als würden sie im Dialog stehen. Auf der Tonebene werden Übergänge geschaffen, die im Bild nicht zu sehen sind. So erzeugt The Clock wirklich einen fortlaufenden Flow, der nie endet, auch wenn die gezeigten Bilder oft wenig miteinander zu tun haben. Und somit entsteht auch ein Sog, dem man sich schwer entziehen kann. (All das steht schon in Bordwells Artikel, an den ich mich aber nicht im Detail erinnern konnte.)

Die zweite Beobachtung: The Clock erlaubt einem (wie alle Supercuts), seine eigene Filmbiografie gameshow-mäßig auf die Probe zu stellen. Obwohl Marclay Filme aus der ganzen Welt in seinem Werk verarbeitet hat, liegt der Schwerpunkt doch auf Hollywood-Produktionen, viele davon bekannt. Ich konnte nicht anders, als mich bei jedem neuen Ausschnitt zu fragen, ob ich den Film kenne. Die Abstufungen waren: 1) Ja, kenne ich und kann ich benennen. 2) Habe ich vielleicht irgendwann mal gesehen, aber ich kann ihn nicht benennen. 3) Ich kann Schauspieler:innen und grobe Epoche identifizieren, aber ich kenne den Film nicht. 4) Noch nie gesehen. Gefühlt über alle Ausschnitte am meisten zu sehen, übrigens: Big Ben. (Es gibt tatsächlich ein komplettes, crowdgesourcetes Wiki des Films, in dem man nachschauen kann, was man gesehen hat.)

Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir aber die Rezeptionssituation. The Clock läuft in einem eigens gebauten Kino auf großer Leinwand, das allerdings nicht mit Kinosesseln, sondern mit Reihen von Sofas bestuhlt ist. Das ermöglicht den Besucher:innen, das Kino frei zu betreten und zu verlassen, aufrecht zu sitzen oder sich hemmungslos zu fläzen. Trotzdem herrscht andächtiges Schweigen wie in einem Museum. Lachen oder andere Gefühlsregungen habe ich selten gehört – außer bei einem älteren Paar, das sich immer wieder flüsternd austauschte, wie sehr es bestimmte Schauspieler:innen mag. Einmal setzte sich eine Frau mit einem Baby neben mich und stillte es. Das war wahrscheinlich der schönste Moment. Mit Kino kann man gar nicht früh genug anfangen.

The Clock lebt in einem merkwürdigen Raum zwischen Kino und Installation. Ich habe insgesamt rund dreieinhalb Stunden in zwei Blöcken – einmal 75, einmal 135 Minuten – gesehen, also knapp die Hälfte der Öffnungszeit der Neuen Nationalgalerie zwischen 10 und 18 Uhr. Natürlich würde ich ihn am liebsten ganz sehen (auf Letterboxd entspann sich sofort eine Diskussion, ob man ihn überhaupt als “gesehen” markieren darf, wenn das nicht der Fall ist), aber auf gar keinen Fall in einem 24-Stunden-Marathon, wie ihn das Museum insgesamt zweimal anbietet.

Denn so schön es ist, sich in den endlosen Fluss der Bilder fallenzulassen – nach zwei Stunden am Stück merkte ich, wie mir auch langsam der Kopf schwirrte. Am besten für The Clock wäre es meiner Meinung nach, wenn er wirklich irgendwo als Uhr laufen würde. An einem (realen oder virtuellen) Ort, an dem man zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeischauen könnte und “die Uhr” betrachten könnte, manchmal für wenige Minuten, manchmal für mehrere Stunden, je nach Gefühl.

Wäre man frei, sich The Clock zu beliebigen Stimmungen und Zeiten zu widmen, könnte er seine Wirkung ganz anders entfalten. Ich stelle mir vor, dass ich nachts aufwache und mir zum Wieder-einschlafen eine Weile die Szenen zwischen 2 und 3 Uhr anschaue, mich um 20 Uhr für einen Filmabend einmummele, oder mich bei meiner Morgenroutine begleiten lasse. Man sollte The Clock auch im Hintergrund auf Partys laufen lassen können, gemeinsam davorsitzen und schauen, welche Szenen man erkennt. In der sterilen Umgebung eines Museumskinos, für das man im Übrigen 20 Euro Eintritt gezahlt hat, ist Marclays Werk in seiner Gesamtheit eigentlich verschenkt.

Ich empfehle trotzdem jedem, der die Gelegenheit hat, The Clock zu sehen. Mein Tipp wäre, sich einen Tag Zeit zu nehmen, direkt morgens zu kommen und zwischendurch kurze oder lange Pausen zu machen: Spazieren gehen, essen, mit Freund:innen über das Gesehene sprechen und dann immer wieder eintauchen, bis das Kino schließt. Was es aber eigentlich nicht sollte. Die Zeit hört ja auch nicht auf, weiterzulaufen.

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