Von Richard Bachman zu Hans Fallada (Unsortierte Gedanken #6)

Vor einigen Wochen sagte meine Frau Katharina zu mir: „Stell dir vor, ich lese als nächstes ein Buch von Stephen King. Es spielt im Jahr 2025, und es geht um einen Mann, der gejagt wird.“ Wir brauchten etwas Hin und Her und ein paar Internetsuchen, um festzustellen, dass

  • a) der Roman von 1982 mit dem „deutschen“ Titel Manhunt im Original The Running Man heißt,
  • b) King den Roman unter seinem Pseudonym Richard Bachman geschrieben hat,
  • c) er tatsächlich die Vorlage für den Film mit Arnold Schwarzenegger von 1987 ist, den ich als 12-Jähriger viel zu früh gesehen habe und
  • d) diese Verfilmung aber nur wenig mit dem Roman zu tun hat und Edgar Wrights Film The Running Man, der diese Woche startet, sich enger am Buch orientiert.

Diese ganze Kombination aus Erinnerungen und aktuellen Anlässen fand ich interessant genug, dass ich The Running Man auch gelesen habe. Er spielt in einer nahen Zukunft, in der die Luft in den Städten verpestet ist und die Quasi-Regierung der Vereinigten Staaten vom Fernsehsender „Games Network“ gestellt wird. Die Armen, die außer den verpflichtenden Fernsehern in jedem Haushalt kaum etwas besitzen, melden sich dort freiwillig, um in martialischen Game Shows wie „Treadmill to Bucks“ und „Swim the Crocodiles“ gegeneinander anzutreten. Zur Unterhaltung der Massen und in der Hoffnung auf den großen Gewinn. Die Hauptfigur, ein wütender Draufgänger namens Ben Richards, dessen 18 Monate alte Tochter eine Lungenentzündung hat, meldet sich beim Network und wird für das Kronjuwel der Gameshows ausgewählt: den „Running Man“, in dem er vogelfrei durch die USA zieht, verfolgt von professionellen „Jägern“, die ihn töten wollen. Jede Stunde, die er überlebt, bringt ihm Geld ein.

No smell but the decaying reek of this brave year 2025.
(aus The Running Man)

Eigentlich nichts Neues, möchte man meinen. Ein typisches Gewächs der späten 70er und frühen 80er im Geist, den Neil Postman 1985 in Amusing Ourselves To Death final einfing. Ich musste an Network (1976) denken und an den deutschen Fernsehfilm Das Millionenspiel von 1970, der auf Robert Sheckleys Kurzgeschichte The Prize of Peril von 1958 basiert und ein fast identisches Setup hat. Ich war aber doch überrascht, wie nihilistisch der Roman ist. Er strotzt nur so vor Verachtung der gesamten Gesellschaft, hat wenig Raum für Optimismus, geschweige denn für Heldentaten und mündet in einem ziemlich düsteren Ende – ganz anders als die Schwarzenegger-Verfilmung, in deren Finale der Protagonist Ben Richards und seine Verbündeten eine Art Medienrevolution starten und das Games Network als Lügner anklagen.

Ein Teil dieses Nihilismus lässt sich sicher mit der allgemeinen „No Future“-Stimmung der Zeit nach Vietnam, Watergate und Co erklären, aber Stephen King sah sein Alter Ego Richard Bachman irgendwann ja auch ganz bewusst als seine „dunkle Seite“ an. Ursprünglich geschaffen, um einfach mehr Bücher publizieren zu können – die Verleger waren der Meinung, mit mehr als einem Buch pro Jahr würden sich Kings Verkäufe kannibalisieren – wurde Bachman schnell zu einem Ventil, in dessen Romanen King seinen eigenen pessimistischen Impulsen freie Bahn lassen konnte. Bachmans erstes Buch Rage (1977) hatte King sogar zu großen Teilen geschrieben, als er noch in der High School war –  also die Zeit, in der viele Menschen einen Hang zum Nihilismus entwickeln. (Das doppelte Spiel wurde einige Jahre später enttarnt und King schrieb einen Roman namens The Dark Half, in der ein Autor von seinem düsteren Pseudonym gefangen genommen wird.)

King hat diese innere Transformation später in Vorworten zu den Bachman-Romanen reflektiert und schlussgefolgert, dass es gut ist, einen inneren Bachman zu haben:

„There’s a place in most of us where rain is pretty much constant, the shadows are always long, and the woods are full of monsters. It is good to have a voice in which the terrors of such a place can be articulated and its geography partially described, without denying the sunshine and clarity that fill so much of our ordinary lives. For me, Bachman is that voice.“
Stephen King, „The Importance of Being Bachman“

Nun ist The Running Man nicht die einzige Bachman-Verfilmung, die dieses Jahr ins Kino kommt. Im September ist auch The Long Walk gestartet, den ich nicht gesehen habe, aber der The Running Man auch in seiner Struktur ähnelt: Ein grausames, tödliches Spiel, das einen großen Gewinn verspricht, aber  – soweit ich weiß – in einem Pyrrhussieg endet. Und natürlich frage ich mich, inwiefern die heutige Zeit die Ära der Bachman-Romane so spiegelt, dass sie wieder populär werden.

Natürlich lassen sich Zeiten nie 1:1 aufeinander übertragen, das wäre viel zu einfach, aber wie in den 70ern das Fernsehen metastasierte passt schon zur gesellschaftlichen Polarisierung, die heute Social Media zugeschrieben wird. Genauso wie die dystopische Desillusionierung mit dem Politikbetrieb. Heute – mit dem Faschismus an der Türschwelle – vielleicht sogar schlimmer als damals.

Normalität im Angesicht der Katastrophe

So weit, so einfach und küchenpsychologisch. Was mich an dem Thema aber nicht losgelassen hat, ist die Wechselwirkung mit einem andern Phänomen, über das ich schon länger nachdenke. Ich habe hier im Blog schon einmal über das paradoxe Gefühl der Normalität im Angesicht der Katastrophe geschrieben. Anfang des Jahres ist es mir erneut eindrucksvoll begegnet, als ich Hans Falladas Kleiner Mann, was nun? von 1932 gelesen habe (auf den ich – intertextuelle Serendipity – auch nur gekommen bin, weil ich Saša Stanišićs Herkunft gelesen habe und der Erzähler darin den Roman in einem Nebensatz entdeckt).

Die Kurzform: Wir können nur erahnen, ob wir in später mal historisch bedeutsamen Zeiten leben. Manchmal gibt es deutliche Indikatoren (Pandemie), meist ist es aber nur ein diffuses Hintergrundrauschen (Klimawandel, Faschismus). Wenn in einigen Jahrzehnten ein Highlight Reel unserer Zeit zusammengeschnitten würde, mag man dasitzen und denken „Was waren das für krasse Zeiten, in denen ständig unglaubliche Sachen passiert sind“, aber das entspricht nicht dem, wie es sich anfühlt, wenn man mittendrin steckt.

Das mag man als Abstumpfung sehen, aber ganz viel davon ist auch einfach die Tatsache, dass das Leben ja weitergeht. Jeden Tag schlage ich mich, genau wie die meisten anderen Menschen, mit ganz normalen Problemchen im Job, in der Familie, in der Freizeit herum. Und, wie King ja auch zurecht schreibt, gibt es gleichzeitig mit den weniger schönen Dingen, die passieren, auch nach wie vor ganz viel „sunshine and clarity“ im Alltag. Ein ständiger historischer Alarmzustand ist nicht durchhaltbar. Umso erstaunter bin ich über Social-Media-Accounts vieler Aktivist:innen, die nicht müde werden, mir jeden Tag vor Augen zu führen, welche schlimmen Sachen ich heute schon wieder größtenteils ignoriert habe.

Kleiner Mann, was nun? hat dieses Gefühl für mich perfekt verkörpert. Der Roman erzählt die Geschichte eines Paares in den Jahren, in der er auch geschrieben wurde, also kurz vor der Machtergreifung der Nazis. Die Unruhen der Zeit – SA-Aufmärsche in den Straßen, wachsende politische Instabilität – tauchen in der Geschichte immer wieder im Hintergrund auf, geben ihr sogar das eine oder andere Mal einen leichten Schubs. Im Mittelpunkt aber steht der Alltag von Johannes und Emma, die versuchen, in einer immer prekärer werdenden finanziellen Situation ein Baby in Liebe großzuziehen. Dabei erleben sie angsteinflößende, aber auch schöne Momente. Aber sie haben keine Zeit, keine Energie, um sich mit den historischen Umwälzungen ihrer Zeit zu beschäftigen, weil sie viel zu viel Alltag zu bewältigen haben. 

Ich will meine Situation nicht mit der eines 1932 in Armut lebenden Paares vergleichen. Mir geht es nur um das Bewusstsein, dass große Katastrophen und banaler Alltag gleichzeitig passieren und ich nicht weiß, ob es einen „angemessenen“ Umgang damit gibt. Stephen Kings Weg, die eigene Überforderung in wütende, nihilistische Kunst zu gießen – oder vielleicht auch diese zu konsumieren – ist eine Möglichkeit. Es kann gut tun, die Wut in sich am Leben zu erhalten, weil sie einen vielleicht früher oder später doch ins Handeln bringt.

So wie in Hans Fallada letztem Roman Jeder stirbt für sich allein, den ich gerade lese. Auch hier geht es wieder um die „kleinen Leute“, die eigentlich genug Alltag zu bewältigen haben, um sich mit der historischen Ungerechtigkeit zu beschäftigen, die rund um sie herum passiert. Aber man merkt, dass Jeder stirbt für sich allein 1940 spielt, acht Jahre nach Kleiner Mann, was nun?, und noch einmal sechs Jahre später, also nach Kriegsende, geschrieben wurde. Fallada besitzt also bereits die Fähigkeit zur Rückschau. Allerdings basiert der Roman auch recht genau auf realen Ereignissen. Erneut geht es um ein Ehepaar, das sich bisher vor allem um sich selbst gekümmert hat. Als ihr einziger Sohn aber im Krieg fällt, platzt im Kopf des Mannes etwas und gemeinsam entscheiden sich die beiden, einzelne Postkarten mit aufrüttelnden Botschaften auszulegen. Ein kleiner Akt des Widerstands, der ihnen zwar kurze Zeit später zum Verhängnis wird, aber sie weniger gebeugt schlafen lässt.

Mir ist klar, dass ich hier vage und vielleicht schwer nachvollziehbare Verbindungslinien ziehe. Zu einer klaren These oder gar Handlungsaufforderung möchte sich die ganze Gemengelage auch in meinem Kopf nicht verdichten. Ich stelle nur immer wieder fest, wie mir Kunst hilft, aus unterschiedlichen Winkeln auf die gleiche Welt zu blicken, und manchmal vielleicht sogar etwas daraus mitzunehmen. Belassen wir es für heute dabei.

Foto von sporlab auf Unsplash

Glow-Ups, Arbeitsversionen und bevorstehende Katastrophen (Unsortierte Gedanken #5)

Als ich vor kurzem den Robbie-Williams-Film Better Man gesehen habe, fiel mir ein Thema wieder ein, über das ich schon lange mal schreiben wollte: Jukebox Musicals, also Musicals, die keine Originalkompositionen verwenden, sondern auf bereits existierende Popsongs zurückgreifen. Oft aus einem bestimmten Genre (Rock of Ages) oder, meistens, von einer bestimmten Künstlerin oder einem bestimmten Künstler. Das bekannteste ist vermutlich Mamma Mia mit der Musik von Abba. Ich hoffe ja sehr, dass ich irgendwann noch die Gelegenheit bekomme, Joyride zu sehen, das Roxette-Jukebox-Musical.

Handlungsmäßig sind diese Musicals meist ziemlich an den Haaren herbeigezogen – logo, schließlich hängen die genutzten Songs ja ursprünglich überhaupt nicht zusammen – aber ich finde immer wieder interessant, was in ihnen musikalisch passiert. Denn die Lieder werden in der Regel ganz neu arrangiert und insbesondere wenn Hollywood involviert ist, sorgt das oft dafür, dass man sie noch mal ganz neu hören kann. Selten wird dabei ein wirklich kreativer Ansatz gewählt wie in Across the Universe, in dem Julie Taymor und Elliot Goldenthal die Musik der Beatles wirklich gut dekonstruieren und neu zusammensetzen. Aber auch die gehörige Schippe Bombast, die das Arbeiten mit großen Orchestern und Hollywood-Musikproduzenten, ermöglicht, sorgt bei diesen Popsongs oft für ein Glow-Up, das mir gefällt.

Der YouTuber Patrick Willems hat gerade erst herausgearbeitet, dass Musik-Biopics und Jukebox-Musicals zurzeit eine Allianz eingegangen sind, die der ganzen Form gut tun. Statt das Leben eines Musikers nur als bloßes Reenactment von Begegnungen und Konzerten anhand einer sehr standardisierten Dramaturgie zu verfilmen, werden Musical-Sequenzen mit den Songs der Hauptfigur eingefügt, die es erlauben, die Realität zu verlassen und stilisierter zu erzählen. So geschehen in Rocket Man, Elvis (selbst noch nicht gesehen) und jetzt auch in Better Man.

Die Musik bekommt dann jedes Mal auch das entsprechende Musical-Bombast-Treatment, aber meiner Meinung nach selten zum Schlechten. Einzelne Songs vom Soundtrack von Rocket Man (den Titelsong, aber auch “Saturday Night’s Alright for Fighting“) höre ich immer wieder gerne. Und die Version von “Rock DJ” aus Better Man, in der einfach alles ein bisschen fetter ist als vor 25 Jahren und zwischendurch eine Marching-Band-Sektion eingefügt ist, lohnt sich auch auf jeden Fall, zumal Robbie Williams selbst singt – am besten guckt man sich gleich dazu die Sequenz aus dem Film an, die die gesamte Karriere von Take That in einer beeindruckenden Choreografie nachbildet. (Und noch ein Tipp aus dem Glow-Up-Space: Emiliana Torrinis Version von Jefferson Airplanes “White Rabbit” aus dem ansonsten furchtbaren Sucker Punch kann ich auch immer wieder hören.)

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Der Song “Take on me” von A-Ha gehörte früh zu meinen Lieblingssongs und ist es bis heute geblieben. Im Podcast Song Exploder hat A-Ha-Mitglied Paul Waaktaar-Savoy vor kurzem die Entstehungsgeschichte des Songs erzählt, der viele verschiedene Demos und sogar veröffentlichte Versionen durchlief, bevor er zu dem Hit werden konnte, der er bis heute ist. Ich finde solche Geschichten immer spannend, weil sie zeigen, dass es manchmal eben doch Details sind, die einen Unterschied machen.

Tatsächlich finde ich auch, dass “Take on me” ein Song ist, der nur in seiner Originalversion, mit dem stampfenden aber zwischendurch auf half-time wechselnden LinnDrum Schlagzeug und den Synthiesounds der Zeit, so richtig funktioniert. Ich habe bis heute kein Cover gehört, das mir wirklich gefällt – also das genaue Gegenteil des eben beschriebenen Phänomens.

Trotzdem habe ich eine Version, die ich lieber mag als den Song, den man aus dem Radio kennt: die extralange 12″-Version gönnt sich ein fast religiöses Intro und einen erweiterten Instrumentalteil in der Mitte, die beide eigentlich nur einen Zweck haben: auf das totale Wegbrechen aller Instrumente hinzuarbeiten, damit das ikonische Anfangsriff so richtig strahlen kann.

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Kathryn Bigelows A House of Dynamite ist ein sehr spannender Thriller über einen Atomraketenangriff aus unbekannter Quelle auf die USA, der es ziemlich sicher Ende des Jahres unter meine Lieblingsfilme schaffen wird und seit vorgestern auf Netflix ist. (Am Ende dieses Abschnitts kleinere Spoiler, wenn man gar nichts über den Film weiß.)

Ein Aspekt, der mir beim Sehen (im Kino) auffiel ist, wie sehr A House of Dynamite ein Film über Menschen ist, die wirklich gut in ihrem Job sind. Er spielt eigentlich nur an Arbeitsplätzen – vor allem in Kommandozentralen und “Situation Rooms”. Die dort sitzenden Personen treffen Entscheidungen in Minuten. Immer wieder fallen Sätze wie “We have trained for this a million times”. Auf dem Bildschirm ist die geballte Expertise eines Staatsapparats zu sehen.

Besonders Hollywood-Filme erzählen ja gerne Geschichten davon, wie Expert:innen versagen, weil ihnen über ihr Expertentum die Menschlichkeit verlorengegangen ist (gerade erst wieder in Jurassic World Rebirth gesehen, in der eine eigentlich sehr überschaubare Operation durch fanatischen Leichtsinn schiefläuft, und am Ende nichts ohne romantisierte Normalos läuft). In A House of Dynamite machen die Expert:innen alles richtig und können die bevorstehende Katastrophe dennoch nicht verhindern. Nur die schwerwiegendste Entscheidung, nämlich über einen möglichen Gegenschlag liegt dann wieder bei jemandem, der eigentlich ein Laie ist: dem US-Präsidenten.

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Ich arbeite mich seit einigen Jahren stückweise, Jahr für Jahr, durch die History of Middle Earth, Christopher Tolkiens zwölfbändige Aufarbeitung der Papiere seines Vaters, in der man ähnlich wie in Song Exploder die diversen Versionen seiner Werke lesen kann, die nicht veröffentlicht wurden.

Gerade habe ich Band V, The Lost Road and Other Writings, beendet. Allerdings lese ich die Bücher in einer Reihenfolge, die ein bisschen an die Star Wars-Filme erinnert, nämlich I, II, VI, VII, VIII, IX, III, dann Tolkiens Briefe, IV, V. Mit The Lost Road habe ich nun also zu den Bänden VI bis IX aufgeschlossen, die die Geschichte des Herrn der Ringe erzählen.

Mein Plan ist, als nächstes X, XI und XII zu lesen und dann noch einmal die Unfinished Tales, die ich zuletzt vor über 20 Jahren gelesen habe – somit wäre ich 2029 fertig. Ich lese diese Bücher, weil Tolkiens Romane mich geprägt haben wie kaum ein anderes Werk, aber auch, weil ich diese einmalige Aufstellung einer Rekonstruktion des gesamten Schaffensprozesses eines Menschen nach wie vor – unabhängig vom Inhalt – schrecklich faszinierend finde. Wo sonst gibt es das, dass man einen Menschen quasi beim literarischen Nachdenken über die gleichen Geschichten durch ein ganzes Leben hindurch begleiten kann? (Unter anderem in Adam Moss’ großartigem Buch The Work of Art, das ich auch Stück für Stück lese und sehr empfehle.)

Dennoch gebe ich zu, dass ich ein bisschen Angst davor hatte, in diesem Band ein weiteres Mal alle Geschichten des Silmarillion zu lesen. Mit minimalen Abweichungen gegenüber der publizierten Ausgabe, mit Detailabweichungen in Namen und Geografie, die ich mir sowieso nicht merken kann. Tatsächlich habe ich zwischendurch überlegt, den Teil zum Quenta Silmarillion einfach zu überspringen, nachdem ich die Geschichten des ersten Zeitalters in den vorausgehenden Bänden schon mehrfach gelesen hatte.

Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Denn nicht nur ist die Version des Silmarillion, die Tolkien 1937 schrieb – kurz bevor er den Herrn der Ringe begann – eigentlich ganz angenehm zu lesen. In ihrer Lektüre erschloss sich mir auch, dass diese Art von Sagen ihre wahre Wirkung wirklich erst entfalten, wenn man ihnen immer wieder ausgesetzt ist. Gerade die vage Erinnerung an die vorhergehenden Versionen und das grobe Wissen zu jedem Zeitpunkt darüber, welche Ereignisse noch kommen werden, machte mir das Lesen und Verstehen leichter als zuvor. Zudem enthält dieser Teil des Buchs einige interessante Reflexionen von Christopher Tolkien über seine eigene kuratorische Arbeit, etwa dass er heute einige seiner Entscheidungen beim Zusammenstellen des veröffentlichten Silmarillion bedauert.

Ein noch größeres Geschenk ist aber tatsächlich das Fragment The Lost Road, von dem Christopher Tolkien mit Recht schreibt, es sei „among the most interesting and instructive of my father’s unfinished works“. Nicht nur ist es, anders als die Silmarillion-Sagen, in Romanform angelegt, die zeigt, dass J. R. R. Tolkien zwar ein altmodischer, aber wirklich kein schlechter Erzähler war. Es erhellt wirklich wie wenige andere seiner Schriften sein Denken über seine Geschichten als zeitlose Wiedergeburten von Ur-Erzählungen. In diesem Fall über die Ignoranz einer dekadenten Menschheit im Angesicht einer drohenden Katastrophe, wie im Atlantis-Mythos und seiner Mittel-Erde-Version, dem Untergang von Númenor.

In The Lost Road hatte er vor, diese Variationen über die Zeitalter hinweg zu einem großen Narrativ zu vereinen, das zeigt, wie sehr die Geschichte und die aus ihr entstehenden Mythen sich wiederholen und reimen. Quasi J. R. R. Tolkiens Everything Everywhere All At Once. Ich weiß nicht, ob das Ergebnis gut gewesen wäre, aber ich hätte es mit Sicherheit gerne gelesen. (Diesen Text habe ich zuerst in ähnlicher Form auf Goodreads veröffentlicht)

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