Der Denkfehler, den wir bei Sternewertungen machen

Zum Anfang: zwei Anekdoten.

Erste Anekdote: Vor langer. langer Zeit, in den Anfangstagen von eBay, nutzte ich die Plattform ab und zu, um mir gebrauchte CDs zu kaufen. Die ersten paar CDs, die ich dort schoss, wurden alle von Privatpersonen angeboten, und ich, der ich gerade auch angefangen hatte, in Mailinglisten und Foren aktiv zu werden, liebte den Gedanken, wildfremden Menschen anderswo in der Republik die Dinge abzukaufen, die sie nicht mehr brauchten, und dadurch kurz eine Verbindung mit ihnen einzugehen. Ich fand diese Möglichkeit einfach großartig.

Meine dritte oder vierte CD kaufte ich dann von einem Anbieter, der eBay bereits als kommerzielle Plattform nutzte. Die CD war voll okay, aber die Magie war verschwunden. Deswegen gab ich in der Sternewertung nach Ende der Transaktion am Ende einen Stern weniger und kommentierte “unpersönliches Massengeschäft”. “Was für ein Spinner”, kommentierte die Gegenseite zurück, “Internet ist nunmal unpersönlich.”

Ein Missverständnis auf vielen Ebenen. Zum Beispiel zur Vision des Internets. Aber vor allem: Ein Missverständnis über den Zweck von Sternewertungen.

Wie lauwarm darf es sein?

Zweite Anekdote: Der Drehbuch- und Kinderbuchautor John August, im Internet vor allem bekannt als einer der zwei Hosts des Podcasts “Scriptnotes”, twitterte vor einigen Jahren, nachdem sein erstes Buch erschienen war, dass er nicht kapiere, warum Leute Büchern auf Bewertungsplattformen wie Amazon oder Goodreads (also auch Amazon) zwei Sterne geben würden. Für ihn als Autoren würde sich das wie Hohn anfühlen. Es wäre ja okay, wenn man ein Buch nicht möge, aber dann könnte man ja entweder einen Stern geben oder, noch besser, das Buch einfach nicht bewerten. Aber zwei Sterne wären so lauwarm, dass doch niemand sonst etwas damit anfangen könne.

Und erneut würde ich sagen: August sitzt einem fundamentalen Missverständnis darüber auf, was der Zweck von Sternewertungen ist. Für die, die sie verteilen, und für die, die sie empfangen.

Sternewertungen, also: das Bewerten eines Produkts oder einer Dienstleistung auf einer Skala von (meistens fünf, oft zehn (vor allem, wenn es auch halbe gibt)) Sternen, gehören inzwischen fest zum Repertoire der User Experiences im Internet. Von Podcast-Hosts bis Rideshare-Fahrern bitten alle darum, dass man ihnen fünf Sterne dalässt, und für jedes Stück Kultur, was man konsumiert, kann man anschließend eine Bewertung auf einer Plattform seiner Wahl loggen. 

★★★★★ Meisterwerk

Gerade letzteres ist nicht bei allen Menschen gleich beliebt. Ich kenne zum Beispiel mehrere Filmliebhaber, die sich weigern, auf dem Film-Netzwerk Letterboxd Sterne zu hinterlassen, weil sie ihren Kulturgenuss nicht auf diese Art einer kapitalistischen Wettkampf-Logik unterwerfen wollen. Film X hat mehr Sterne als Film Y, deswegen ist Film X besser? Das wäre ja Quatsch, denn Qualität ist viel komplexer und lässt sich nicht auf einer Punkteskala messen. Andere Nutzer:innen erklären ihre Sternewertungen gerne in ihrem Profil, weil sie doch ein sehr starkes Bedürfnis zu haben scheinen, ihre Bewertungen so präzise zu systematisieren wie möglich. Die maximale Sternezahl ist hier oft gleichbedeutend mit einem Etikett wie “Meisterwerk”. 

Was das Bewerten von Qualität angeht, neige ich der ersten Gruppe zu. Und trotzdem verteile ich gerne Sterne. Denn was ich bewerte, ist nie das Buch oder der Film selbst, sondern seine Wirkung auf mich. Ich bewerte meine persönliche Erfahrung beim Lesen oder Schauen. Hat der Film für mich funktioniert? Hat das Buch mich bewegt? Fand ich es spannend, lustig oder anders emotional berührend? Ich habe vor über 20 Jahren ebenfalls mal Labels an meine Punkteskala geschrieben, und bei mir war die maximale Punktzahl gleichbedeutend mit dem Satz “Haut mich total aus den Socken”.

Diese Bewertung ist wichtig für mich, vor allem, wenn ich mich später erinnern will, wie meine Seh- oder Leseerfahrung war. Vor allem bei Filmen ist es interessant zu sehen, ob sich meine Wahrnehmung ändert, wenn ich einen Film erneut sehe. (Oft ist sie auch über Jahre erstaunlich konstant.) Wichtig ist aber: Die Wertung gebe ich für mich selbst ab. Sie ist wie Tagebuch schreiben. Vielleicht ist sie noch relevant für andere Menschen, mit denen ich verbunden bin, die mich und meinen Geschmack kennen, und die es deswegen interessiert, wie ich etwas fand. Aber eins sind meine Sterne ganz sicher nicht: Eine Feedback-Transaktion gegenüber den Personen, die das Stück Kultur, das ich bewertet habe, verantwortet haben.

I really liked it

Goodreads hat bei seinen Sternewertungen kleine Textlabels beigefügt, die diese Lesart eigentlich unterstützen. Sie reichen von “did not like it” (ein Stern) über “it was okay” (zwei Sterne) und “liked it” (drei Sterne) bis zu “really liked it” (vier Sterne) und “it was amazing” (fünf Sterne). Im Zentrum steht also die Erfahrung der Leserin, nicht eine wie auch immer geartete objektive Qualität des Buchs. Wenn ich also einem Buch zwei Sterne gebe, sage ich damit: Ich fand es in Ordnung. Es hat mir nicht aktiv Unbehagen bereitet, aber ich würde auch nicht so weit gehen, zu sagen, dass ich es mochte. Das bedeutet auch: Wenn ich viele Bücher lese, sind die meisten vermutlich Kandidaten für drei Sterne. Man kann ja nicht alles super finden.

Komplett anders ist es bei Sternewertungen für Dienstleistungen, von Taxifahrten bis zu Käufen im Internet. Die Skala sieht identisch aus und sie bewertet sogar genauso die Erfahrung, aber sie ist komplett anders geeicht. Hier sind nicht drei Sterne der Standard, aus dem es auszubrechen gilt, sondern fünf. Fünf Sterne bedeutet: Alles war gut, es lief wie geplant, keine Beanstandungen. Man gibt also standardmäßig fünf Sterne und zieht nur etwas ab, wenn man unangenehme Erfahrungen macht. Ein direktes Feedback an die Dienstleistungserbringerin, die dieses Feedback wiederum als Währung benutzt, um bei anderen Kunden um Vertrauen zu werben: Hier werdet ihr nicht betrogen.

Der Autor Django Wexler hat mich in einem Twitter-Thread erstmals auf die unterschiedliche Eichung dieser gleich aussehenden Sterneskalen aufmerksam gemacht, und ich finde, sie ist der Schlüssel zu vielen Konflikten. Die nämlich entstehen, wenn die beiden Eichungen durcheinandergeraten.

Kunst ist keine Taxifahrt

Wenn ich zum Beispiel, wie in meinem eBay-Beispiel, der Meinung bin, dass es fünf Sterne nur für Transaktionen geben sollte, die für mich über einen erfolgreichen, reibungslosen Kauf hinausgehen, und mir auch noch einen flüchtigen, persönlichen Kontakt mit einem Fremden ermöglichen, dann lege ich an einen eBay-Kauf die gleichen Maßstäbe an, wie an eine kulturelle Erfahrung. Dort würde ich fünf Sterne eben nur an ein Werk vergeben, das mich wirklich nachhaltig beeindruckt hat. Ähnlich wie bei Trinkgeld oder anderen Service-Transaktionen gibt es sicher Menschen, deren Motto ist: Bei mir bekommt man standardmäßig vier Sterne, fünf gibt es nur für Erfahrungen, die über das gewohnte Maß hinausgehen. (Siehe auch: Lehrer:innen, die keine Einser vergeben.)

Der umgekehrte Fall birgt aber ebenfalls einen Konflikt. Denn ich habe einen Aspekt bisher ausgelassen: Es mag zwar für mich so sein, dass ich meine Sternebewertungen bei Büchern oder Filmen als nicht-transaktionell und rein tagebuchmäßig, eventuell noch als Diskussionsansatz für Peers betrachte. Für viele Kunstschaffende ist das aber nicht der Fall. Gerade bei Goodreads, wo auch viele Autor:innen selbst vertreten sind, sind positive Sternewertungen durchaus eine Währung, auf die sie verweisen können. Wenn ihr jüngstes Buch also im Durchschnitt drei Sterne bekommen hat (das heißt: viele Leute sagten “Ich mochte es”), ist das für sie eventuell nicht ausreichend, um als Pfund bei den Verhandlungen um den nächsten Vertrag zu gelten. Sie wünschen sich, ähnlich wie ein eBay-Händler, fünf Sterne als Ausdruck von: Alles perfekt, nichts ändern. Lauwarme Durchschnittsbewertungen bringen ihnen nichts, ähnlich wie John August es in meinem Beispiel oben formuliert hat.

Ich bin trotzdem nicht der Meinung, dass ich als Sterne vergebender Kritiker, egal ob professionell oder laienhaft, mich diesem transaktionellen Modell nicht beugen sollte. Der Kapitalismus und seine kompetitive Struktur sind Teil des Kulturbetriebs. Das wird sich auch nicht ändern. Aber Kunst ist keine Taxifahrt. Kultur Erfahrende sollten für ihre Bewertung dieser Erfahrung weiterhin eine Eichung anlegen, die sich auf ihr persönliches Empfinden bezieht. Nicht auf eine Abweichung von einem zufriedenstellenden Fünf-Sterne-Standard. Nicht im Hinblick auf einen aggregierten “Score”.  Diesem Denkfehler sollten wir nicht erliegen. Sonst haben wir uns tatsächlich der kapitalistischen Logik unterworfen, die viele bereits im Akt der Sternevergabe erkennen.

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Grimmes Märchen

Hans Hoff hat in der heutigen Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Grau wie Grimme über die Preisvergabe beim diesjährigen Grimme-Preis – man muss fast sagen – abgelästert (wie er es übrigens die vergangenen Jahre auch immer getan hat).

Ich schaue seit zu vielen Jahren zu wenig Fernsehen um sachlich beurteilen zu können, ob es berechtigt ist, die Preisentscheidungen zu kritisieren. Vielleicht gab es tatsächlich bessere Filme, Serien und Sendungen im letzten Jahr, die einen Preis verdient hätten. Wenn dem so ist, dann hätte Hoff vielleicht mal ein paar nennen können. Stattdessen befleißigt er sich auf einer halben Seite, vage Kritik aufeinander zu türmen.

Selten war so ein Murren wie nach der Bekanntgabe der Preisträge in der vergangenen Woche. Von Skandal war da die Rede, von Fehlentscheidungen, von Lethargie im System. Insbesondere die Arbeit der für die Fiktion zuständigen Jury wurde kritisiert, weil wichtige Filme wie etwa Mogadischu auf der Strecke geblieben sind. […] Doch es wurde erstmals öffentlich gefragt, wie es passieren konnte, dass ein Fernsehjahr so mangelhaft abgebildet wurde.

So ein Murren? Meint Hoff seinen eigenen Artikel vom 26. März? Oh, und natürlich den von FAZ-Medienredakteur Michael Hanfeld (“Mogadischu fehlt!”). Außer zwei Medienjournalisten bei zwei großen deutschen Tageszeitungen scheint sich niemand aufgeregt zu haben. Die übergangenen Nominierten nicht, die übergangenen Juroren nicht, die übergangenen Sender nicht.

Es geht Hoff anscheinend hauptsächlich darum, zu betrauern, dass sein persönlicher Lieblingsfilm, Mogadischu dieses Jahr nicht ausgezeichnet wurde. Und das, obwohl in ihm “viele” (aber vielleicht nicht genug…) die “beste Leistung des Fernsehjahres erkennen”.

Um zu beweisen, wie unfair die Jury mit Mogadischu umgesprungen ist, zitiert Hoff aus dem Jury-Bericht meines “epd medien”-Kollegen Michael Ridder (den er sich bemüht, als “Agentur-Journalist” zu deklassieren). In dem steht, dass in der Jury Fiktion Konsens darüber herrschte, dass Mogadischu politisch schwach und dafür Hollywood-mäßig heroisierend war. Heinrich Breloer hätte mit Todesspiel 1997 einen besseren Film zum gleichen Thema gedreht und dafür auch keinen Preis bekommen.

Das stößt Hoff bitter auf: Die “handwerklichen Kategorien”, in denen Breloer und Mogadischu-Regisseur Roland Suso Richter arbeiten, ließen sich nicht vergleichen:

Breloer überwand die Grenzen der Dokumentation, indem er gespielte Szenen einfügte. Suso Richter näherte sich im fiktionalen Genre der Dokumentation, in dem er sich für eine entsprechend ästhetische Optik entschied. […] Wenn man dem Spielfilm Mogadischu eines nicht vorwerfen kann, dann ist es, mit den Mitteln des Spielfilms – der Personalisierung, des Spannungsaufbaus durch Dramaturgie – zu emotionalisieren. […] Auf die politischen Recherchen zum Film haben die Produzenten sich viel gut gehalten, was ihnen von Politikern und Wissenschaftlern bestätigt wurde. Aber das ließ sich sicher anders sehen.

“Wir haben aber viel recherchiert” ist ein gerne gegebenes Argument von Filmemachern, um ihre Filme zu verteidigen. Leider bewertet man als Kritiker aber nicht die Recherche oder die Arbeit, die in einem Film steckt (auch wenn ich manchmal gerne würde), sondern den Film der am Ende dabei rauskommt. Und wenn der schwach auf der politischen Brust ist, bei einem politischen Thema, dann darf man das durchaus kritisieren. Und wenn Breloer in einer anderen Form einen ebenso spannenden und politisch besser austarierten Film geschaffen hat, darf man die Filme anhand dieses Merkmals auch ruhig vergleichen.

Doch Hoff hat noch einen Kritikpunkt. Die Jury “Unterhaltung” ist ihm zu jung.

Warum eigentlich ist die Jury Unterhaltung so verdächtig mit überwiegend jungen Juroren besetzt? Überlässt man denen das ungeliebte Feld Entertainment, das man erst seit kurzem beackert und hofft, dass kein Flurschaden entsteht, weil Unterhaltung per se nicht Grimme-Außergewöhnlich ist? Aus der Politik weiß man, dass man über die gekonnte Besetzung von Ausschüssen oft mehr bewirken kann als durch die in ihnen geführten Debatten.

Wie passt dieses Argument eigentlich damit zusammen, dass Grimme (wie Hoff seit Jahren kritisiert) das Fernsehen nur “verwaltet” und weniger “fordert”, nur “Zeugnisse vergibt”? Sollen daran ausgerechnet die jungen Leute schuld sein? “Man könnte schon viel mehr, wenn man nur wollte”, meint Hoff. Man könnte “die Stärke der Marke nutzen”.

Könnte man. Muss man aber nicht. Das treffende Zitat von Grimme-Chef Uwe Kammann, “Ich kann das Fernsehen nicht über den Preis reformieren”, lässt Hoff unkommentiert im Raum stehen. Was genau Grimme anders machen sollte, welche Sendungen (außer Mogadischu) das Institut zum Beispiel hätte auszeichnen können, sagt Hoff nicht. Stattdessen schimpft er lieber noch ein wenig auf die Juroren, die ihre eigenen Entscheidungen kommentieren.

In der Regel zeichnet ein Preis aus, was existiert. Er schafft nicht eigene Preiskandidaten, um sie hinterher auszeichnen zu können – das wäre totalitär. Nach Ansicht der Jurys und der schweigenden Mehrheit der Kritiker geht der Adolf-Grimme-Preis dieses Jahr wieder an einige herausragende Produktionen – wie immer vor allem der ARD. Mehr besseres Fernsehen wollen wir alle. Die Preise können es nicht aus dem Hut zaubern.

Ich freue mich übrigens besonders, dass die Reihe Mädchengeschichten meiner ehemaligen Kollegen von der 3sat-Filmredaktion ausgezeichnet wurde. Herzlichen Glückwunsch an Katya Mader und Inge Classen.