Paratext, grob gesprochen, ist alles, was um einen Text herum passiert und mit ihm veröffentlicht wird, aber nicht der Kerntext selbst ist. Der Begriff stammt aus der Literaturwissenschaft, aber wenn man einen Film als Text definiert, wären Paratexte zum Beispiel Marketing-Materialien wie Poster, Trailer und Pressetexte. Auch DVD-Menüs sind Paratexte, Schnittfassungen (zum Beispiel Director’s Cuts) und je nach Definition auch transmediale Erweiterungen wie Videospiele oder Merchandising-Artikel.
Audiokommentare sind jedenfalls mit Sicherheit Paratexte und ich finde, sie gehören zu den interessantesten überhaupt. Allerdings fühle ich mich oft ziemlich allein mit dieser Meinung, denn selbst viele Filmliebhaber, die ich kenne, haben kaum je einen Audiokommentar gehört. Vielleicht ist der Grund, dass die Rezeption eines Audiokommentars recht zeitaufwendig ist, immerhin dauert diese genauso lang wie der Film selbst und manch einer denkt sich vielleicht: da gucke ich lieber den Film noch einmal.
Commentary Commentaries
Audiokommentare sind so sehr die Stiefkinder der paratextuellen Familie, dass die “Film School Rejects” eine Kategorie namens Commentary Commentary haben, in der sie anderen Filmfans das Anschauen von Audiokommentaren abnehmen und in praktische “X Things we learned from the Y Commentary”-Listicle ummünzen. Audiokommentare sind nicht mehr als eine weitere Quelle, aus der man Trivia destillieren kann.
Dabei gilt bei Audiokommentaren mehr als sonstwo “The Medium is the Message”. Es geht auch um Informationen, natürlich, aber vor allem geht es um die Möglichkeit, einen Film gemeinsam mit den Menschen zu gucken, die ihn gemacht haben. Besonders wenn man Audiokommentare mit Kopfhörern hört, kann das eine sehr intime Erfahrung sein.
Filmerzähler
Audiokommentare in ihrer jetzigen Form sind eine Erfindung des digitalen Zeitalters. Ihr Debüt feierten sie, laut Wikipedia, auf der Criterion Laserdisc-Edition von King Kong (1933), die einen erklärenden Kommentar von Filmhistoriker Ronald Haver enthielt. Doch wenn man es nicht so genau nimmt, liegen die Ursprünge deutlich weiter zurück. In den Anfangstagen des Kinos waren so genannte Filmerzähler, die erklärten und kommentierten, was auf der Leinwand passierte, Teil des Kinoerlebnisses. (Mein Filmwissenschaftsprofessor Thomas Koebner, der auch die Aura eines großen Conferenciers hat, schlüpfte in Vorlesungen beim Zeigen von Ausschnitten oft unbewusst in diese Rolle. Es war großartig.)
Die Marketingkampagnen rund um Filme sind heutzutage stark kodifiziert. Im Zeitalter der Press Junkets kann man sich darauf einstellt, dass man in seinem 5-Minuten-Interview mit dem Filmemacher die gleichen Antworten bekommt, wie die zwanzig Journalisten vor und nach einem – nicht zuletzt, weil auch alle die gleichen Fragen stellen (interessante Dekonstruktionen dieses Prozesses gibt es immer wieder, zum Beispiel von Peter Jackson (nur noch über Torrent) oder von Mila Kunis). Es gibt wenige Situationen, in denen diese Marketing-Maschinerie aufbricht. Eine davon sind lange Interviews, besonders in Podcast-Form, wie man sie zum Beispiel bei “The Q&A” oder dem “Nerdist Podcast” findet. Eine andere sind Audiokommentare, wie man sie inzwischen fast auf jeder DVD oder Blu-ray findet (falls sie die vollständige Ausstattung enthält).
Der Zeitpunkt zählt
Dafür gibt es mehrere Gründe. Einer davon ist der Zeitpunkt, zu dem Audiokommentare aufgenommen werden. Häufig sind sie der Abschluss des Postproduktionsprozesses, bevor der Film der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Das heißt: zu diesem Zeitpunkt haben die Filmemacher sich noch nicht dabei zugehört, wie sie hunderte Male die gleichen Marketing-Blasen von sich geben, sie sind frisch fertig und stolz auf ihren Film. Das kann manchmal sogar herzzereißend sein, wie im Audiokommentar des Millionenflops John Carter, wo Regisseur Andrew Stanton lange über mögliche Sequels philosophiert. Die Alternative, gerade bei älteren Filmen, sind Audiokommentare, die lange Zeit nach dem Kinostart entstehen. Hier haben die Filmemacher wie bei jeder Retrospektive zwar den Nachteil der Nostalgie und verschwommenden Erinnerung, aber auch den Vorteil der Reflexion, der einen freier sprechen lässt.
Die bestmögliche Form des Audiokommentars entsteht, wenn die wichtigsten kreativen Köpfe des Films, am besten nicht mehr als vier, gemeinsam in einem Raum sitzen, den Film gucken und sich vorher ein paar Notizen gemacht haben. Für Filmfans unbezahlbar ist dabei nicht nur die Kommentierung des eigenen Werks, sondern auch die Möglichkeit, Filmemacher akustisch dabei zu beobachten, wie sie in einer nicht knallhart als Publicity erkennbaren Situation miteinander interagieren, scherzen und diskutieren. Diese psychologische Komponente mag nicht für Jeden interessant sein, ich finde sie faszinierend. Zu meinen persönlichen Lieblingsmomenten gehört der Audiokommentar von Jurassic Park III, bei dem VFX- und SFX-Supervisor streckenweise selbst nicht mehr sagen können, welche Einstellungen computergenerierte Dinos enthalten und welche animatronische. Oder der Audiokommentar von X2, in dem Bryan Singer und sein Kameramann Tom Sigel während des Abspanns todernst beginnen, Teil 3 als Musical zu planen – inklusive Gesang.
Nicht grundsätzlich gut
Das soll nicht heißen, dass Audiokommentare grundsätzlich gut sind. Filmemacher fallen sehr gerne in die Falle, über weite Strecken nur die Arbeit ihrer Kollegen (oder auch ihre eigene) zu loben. Schauspieler sind fast immer recht langweilige Kommentatoren – außer sie sind Arnold Schwarzenegger. Falls sie nicht in einer übergeordneten Funktion auch anderweitig am Film beteiligt waren, haben sie wenig über den Prozess des Filmemachens zu erzählen und sitzen gerne stumm da, um einfach nur mal in Ruhe den Film zu gucken. Schließlich spürt man auch im Audiokommentar oft die eiserne Klaue der Publicists, die ihre Klienten ermahnen, nicht vom Marketing-Skript abzuweichen. Da kann man sich stattdessen auch eine jener unsäglichen “Featurettes” anschauen, die häufig bei DVDs dabei sind. Die sind kürzer.
Aber die besten Audiokommentare sind wundervoll. Der Wikipedia-Artikel enthält eine eindrucksvolle Liste an Highlights, Variationen und auch Parodien, an denen man sehen kann, dass die Form längst ihre eigenen Konventionen und Stile entwickelt hat. Doch selbst abseits dieser Highlightliste eröffenen Audiokommentare einem einen neuen Blick auf einen Film während man diesen sieht. Sie sind Filmanalyse am offenen Herzen und Filmemacher Meet-and-Greet in einem. Und dafür sollte es sich immer lohnen, einem Film noch einmal seine Zeit zu schenken.