Digitales Kino: Schluss mit dem Materialfetischismus

Dies ist ein Beitrag zur Blog-Parade anlässlich des fünften Geburtstags von “DigitaleLeinwand”. Dort hat Gerold die Frage gestellt: Was hat das Digitale Kino für euch in den letzten fünf Jahren verändert?

Als ich meinen ersten Job antrat, im Januar 2009, konnte ich mein Glück kaum fassen. Mein erstes Gehalt erschien mir unfassbar viel Geld! Ich war Single, wohnte in einer Studentenbude und hatte noch ein Semesterticket, also konnte ich von meinem Gehalt so viel ausgeben, wie ich wollte, für all die Sachen, die ich liebte. Ich musste an keiner CD, keiner DVD, keinem Buch mehr vorbeigehen und mir sagen “Denk lieber noch mal nach, ob du es wirklich brauchst.” Und bald schon füllten sich meine Regale deutlich schneller, als sie das in den Jahren zuvor getan hatten. Ich durfte ja endlich.

Doch mein Job währte nicht ewig. Er war auf ein Jahr begrenzt. Und der nächste dann wieder auf anderthalb Jahre. Und dann zog ich mit meiner Freundin zusammen. Und dann zogen wir nochmal in eine schönere Wohnung. Wir haben irgendwann mal gezählt und kamen gemeinsam auf über 15 Umzüge in weniger als zehn Jahren. Und dabei verfluchte ich (und alle meine Freunde, die mir tapfer jedes Mal halfen) jedes verdammte wunderschöne Coffeetable Book, jede hübsche DVD-Sonderedition, jedes CD-Boxset, was ich mir über die Jahre geleistet hatte. All diese Dinge, die im Regal standen, und die ich nach der ersten Lektüre oder Sichtung ja doch erst zum Umzug wieder bewegte.

Danke, Bruce Sterling

Es war kurz vor meinem letzten Umzug und nachdem ich einen Vortrag von Bruce Sterling gehört hatte, dass ich entschied, Friedrich Schiller zu folgen und mit dem Anhäufen von Kram aufzuhören. Meine Musik kaufe ich (fast nur noch) digital, meine Bücher lese ich (wann immer es sich lohnt) auf dem Kindle. Noch kaufe ich DVDs, weil es im VoD-Dschungel Deutschland meistens immer noch einfacher ist – aber ich sortiere jetzt schon aus, welche Filme ich verschenken werde, sobald ich wieder umziehen muss (wahrscheinlich im Sommer 2015).

Ich habe diese Entscheidung bis heute nicht bereut. All das Gerede von Haptik und “es gibt sie noch, die schönen Dinge” zündet bei mir nicht mehr. Das mag bei Tischen und Küchenmessern relevant sein. Bei Kulturgütern zählt, was drin ist. Und was praktisch ist. Zitate aus Büchern muss ich nicht mehr abtippen, ich kann sie direkt aus der Kindle-App ins Dokument ziehen. Mixtapes muss ich nicht mehr zusammenspulen, ich kann sie per Drag and Drop so lange hin und herschieben, bis sie passen. Ich lese dadurch nicht weniger. Und höre auch immer noch oft genug ganze Alben von Anfang bis Schluss.

Nicht mehr Film, nur noch Kino

Im Kino ist in den letzten fünf Jahren genau das gleiche passiert. Das Kino hat sich entschieden, mit dem Anhäufen von Kram aufzuhören. Ausgerechnet in einer Zeit, in der Fantasy-Epen die Leinwände regieren, hat es sich gegen Fantasy und für Science Fiction entschieden. Es hat sich entschieden, nicht mehr Film, sondern nur noch Kino zu sein.

Mir ist bewusst, dass die Beweggründe dahinter nicht so idealistisch waren, wie ich das gerade formuliert habe. Mir ist auch bewusst, dass dort, wo das Anhäufen von Kram Sinn der Sache ist – in Archiven – das digitale Kino ein riesiges Problem hat. Mir ist bewusst, dass selbst die beste 4K-Kamera nicht die exakte und doch zufällige Besonderheit reproduzieren kann, die Filmmaterial immer zur großen Party Kino mitgebracht hat wie einen selbstgemachten Salat. Und mir ist auch bewusst, dass wir mit dem Umstieg ins Digitale eine Symbolwelt verlieren – Rollen, Filmstreifen, und so weiter – die Kino über Jahrzehnte repräsentiert hat und noch immer benutzt wird (eine Tatsache, auf die Gerold immer wieder gerne hinweist).

Aber ich halte diese Befreiung vom Kram doch für richtig. Wir befinden uns noch in einer merkwürdigen Zwischenphase derzeit und außerdem wirken die Kräfte des Kapitalismus natürlich so stark wie immer und sorgen dafür, dass vieles bleibt, wie die großen Player es gerne haben. Aber die Utopie existiert und sie existiert nur im Digitalen: Kino, losgelöst von ihrem Medium, losgelöst von Faktoren wie “Kopienanzahl” und “Anfahrtsweg” – jederzeit auf jeder Leinwand, wo immer man es haben will.

Begrenzt nicht die Utopie

Wer dem Rattern des Projektors, der puren Existenz des Filmmaterials, dem Krisseln des Korns hinterherweint, betreibt Fetischismus. Er oder sie ersetzt das Erlebnis Kino durch eine physische Manifestation, die auf einer Ansammlung historischer Zufälle basiert, egal wie bewährt sie sein mag. Er oder sie begrenzt die Utopie dessen, was Kino sein kann. Was Kino werden muss.

In den letzten fünf Jahren hat das Digitale Kino für mich wenig direkt verändert. Aber seine Veränderung ist dieselbe, nach der ich strebe. Noch kaufe ich mir ein Buch wie “The Wes Anderson Collection” als dicken, analogen Schinken. Aber nur, weil es noch kein digitales Gerät gibt, das mir Bilder und Layout in dieser Größe angenehm anzeigen kann. Auf der digitalen Leinwand aber wirkt die Idee Kino für mich genauso beeindruckend wie auf der analogen. Ganz ohne Kram dahinter.

Bild: Flickr Commons