Die Lieblingsfilme der Filmblogosphäre 2014

Wie schon vor einem Jahr habe ich die letzten Tage damit verbracht, so ziemlich alle deutschsprachigen Filmblogs, die ich finden konnte, nach Bestenlisten zu durchforsten, diese in Daten zu übersetzen und in eine Tabelle einzutragen. Daraus konnte ich am Schluss diese Liste destillieren.

Der Film, der auf Platz eins steht, zeigt eine interessante Tendenz dieser Aggregatsliste auf: Die wenigsten Filmblogger_innen sind Profi-Filmkritiker_innen, das heißt sie gehen nicht unbedingt auf viele Festivals oder bekommen die Möglichkeit, jeden mit kleiner Kopienzahl startenden Film (kostenlos) zu sehen. Auf den Lieblingslisten landet am Ende des Jahres also nicht nur, was bei allen Geschmäckern irgendwie ankommt, sondern vor allem auch, was einfach zu sehen war.

Boyhood kam im Sommer relativ breit ins Kino. Wer ihn damals verpasst hat, hatte spätestens im Dezember davon gehört und konnte ihn im Heimkino nachholen. Das gleiche Prinzip hat sicher auch Under the Skin geholfen, der einen erstaunlichen geteilten zweiten Platz erringen konnte, obwohl er nicht breit im Kino lief. Ansonsten sind mit Ausnahme von Interstellar und Nightcrawler auch alle anderen Filme der Top 10 inzwischen mindestens auf VOD erhältlich. Sicher kein Zufall.

Obwohl ich Boyhood auch auf meiner persönlichen Lieblingsliste habe, bin ich dennoch ein bisschen erstaunt, wie viel Liebe der Film abbekommen hat. Ich bin ja für große sentimentale Gesten sowieso immer zu haben, aber Richard Linklater scheint selbst die Herzen der Zyniker erweicht zu haben. Auch die hohe Platzierung von Under the Skin überrascht mich ein kleines bisschen – der Film ist wirklich kein Crowd Pleaser, aber er scheint bei Filmliebhabern einfach einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Qualität setzt sich eben doch durch.

Wie breit das geschmackliche Feld trotz solcher Konsensfavoriten ist, zeigt die Tatsache, dass auf den 54 ausgewerteten Listen insgesamt 163 Filme Erwähnung fanden – alles von obskuren Festivalperlen bis großen Action-Blockbustern. Um eine Gleichschaltung der Lügenpresse müssen wir uns in der Internet-Filmkritik also so schnell keine Gedanken machen.

1. Boyhood

2. Guardians of the Galaxy / Under the Skin

4. Grand Budapest Hotel

5. Snowpiercer

6. The Wolf of Wall Street

7. Her

8. Nymphomaniac

9. Interstellar

10. Nightcrawler

11. The Lego Movie
12. Die Wolken von Sils Maria
13. Gone Girl
14. Captain America: The Winter Soldier
15. X-Men: Days of Future Past
16. All is Lost
17. Maps to the Stars
18. 12 Years a Slave / Dallas Buyers Club
20. Locke

Zur Methode: Datengrundlage sind insgesamt 54 Listen oder Lieblingsfilm-Nennungen aus deutschsprachigen Filmblogs. Grundlage waren das Filmblogverzeichnis auf “SchönerDenken” und einige Ergänzungen, die dort noch fehlten. Bei mehreren Listen pro Blog von verschiedenen Autor_innen wurde jede Liste einzeln gezählt.

Die Filme wurden nach einem Punktesystem geordnet. Bei nummerierten Top-10-Listen bekam der erste Platz 10 Punkte und so weiter bis zum 10. Platz, der 1 Punkt bekam (gesamt: 55 Punkte). Bei nicht nummerierten Listen bekam jeder Film 5,5 Punkte (gesamt: 55 Punkte). Bei weniger als 10 genannten Filmen bekam der erste Platz 10 Punkte und so weiter absteigend, fehlende Plätze wurden ignoriert. Bei mehr als 10 genannten Filmen wurden nur die ersten 10 gewertet.

Punkteverteilung: Boyhood (185), Guardians of the Galaxy / Under the Skin (jeweils 88,5), Grand Budapest Hotel (82), Snowpiercer (81), Wolf of Wall Street (70), Her (68), Nymphomaniac (65,5), Interstellar (63,5), Nightcrawler (49,5), The Lego Movie (45), Sils Maria (41), Gone Girl (38,5), Captain America (38), X-Men (35,5), All is Lost (32), Maps to the Stars (29), 12 Years a Slave / Dallas Buyers Club (jeweils 28), Locke (27,5).

Real Virtualitys Lieblingsfilme des Jahres 2014

© Senator

Under the Skin

Ich hatte ein gutes Filmjahr, obwohl ich es, wie immer, natürlich nicht geschafft habe, alles zu sehen, was potenziell Bestenlisten-Material gewesen wäre. Aber ich wurde auch mit den Filmen, die ich gesehen habe, gut unterhalten und zum Nachdenken gebracht, ästhetisch überwältigt und narrativ herausgefordert. Es folgt der übliche Countdown.

Nicht gesehen

Obwohl ich oft und gerne ins Kino gehe, sind auch 2014 wieder einige Filme an mir vorbeigegangen, die sicherlich in den Listen anderer Filmgucker_innen auftauchen werden. Dazu gehört der Cannes-Gewinner Winterschlaf von Nuri Bilge Ceylan (ein besonderer Schandfleck, da ich diese Liste gerade in Istanbul verfasse) und der europäische Filmpreis-Gewinner Ida. Jim Jarmuschs Only Lovers left Alive habe ich ebenso verpasst wie Locke und die beiden Doppelgängerfilme Enemy und The Double. Dazu kommen natürlich jede Menge Festival-Filme, die in Deutschland keinen regulären Kinostart hatten, etwa Blue Ruin, Adieu au Langage und Jodorowsky’s Dune, die ich alle gerne noch sehen möchte.

Das Feld

Es gab wiederum genug Filme, die mir gefielen, aber nicht in die Top 10 vordringen konnten. Dazu gehörte der gelungene Franchise-Verbinder X-Men: Days of Future Past und das Affen-Prequel Dawn of the Planet of the Apes, die beide gezeigt haben, dass es selbst innerhalb der Hollywood-Maschine Raum für interessante erzählerische Konstruktionen gibt. Ich mochte das schwindelerregende 70er-Schaulaufen American Hustle, die Mediensatire (?) Nightcrawler, das Sozialdrama Deux Jours, Une Nuit und den Zeitgeist-Film Mockingjay – Part 1 und selbst Captain America: The Winter Soldier und The Lego Movie hatten ihre Stärken. Weniger Liebe konnte ich The Babadook entgegenbringen, der mir seine Metapher doch etwas überstrapazierte. Aber das ist halt Geschmack.

10. Under the Skin

Der Film, der in Deutschland wahrscheinlich vor allem für die Diskussion um seinen Kinostart in Erinnerung bleiben wird, ist mir im Hirn kleben geblieben, obwohl ich aus dem Kino kam und zunächst mehrere Tage behauptete, dass er “sehr hart an der Prätention vorbeischrammt”. Und in der Tat ist Jonathan Glazers Film vor allem ein Experiment in Zuschauergeduld mit seinen wortkargen, kaum erklärten Szenen, die zwischen krisseligem Dokustil und abstrakten schwarzen Räumen wechseln. Alles Vorhergegangene wird aber schließlich durch eine Schlussszene von atemberaubender Schönheit und kosmischer Traurigkeit rehabilitiert, in der sich dann auch der Filmtitel wiederfindet.

9. L’Arte Della Felicita

Ein Film ohne normalen deutschen Kinostart, den ich auf dem Trickfilmfestival in Stuttgart sehen konnte. Wie ich damals für “kino-zeit.de” schrieb: “Auf halbem Weg zwischen Jim Jarmuschs Night on Earth und Richard Linklaters Waking Life erzählt er die Geschichte von Sergio, einem Taxifahrer in Neapel, der seinen Bruder und musikalischen Partner zum zweiten Mal verliert. Zum ersten Mal hat er ihn vor zehn Jahren verloren, als sich Alfredo entschied, das musikalische Duo zu verlassen, um buddhistischer Mönch zu werden. Unfähig, dem Tod des Bruders ins Auge zu sehen, driftet Sergio durch das im Dauerregen ertrinkende Neapel und bekommt von verschiedenen Passagieren deren Glücksrezepte erzählt. Umgesetzt ist das Ganze in einem an Rotoskopie erinnernden, träumerischen 2D/3D-Look mit sorgsam ausgewählter Farbpalette und einem gelungenen Soundtrack.” Ich hoffe auf eine DVD-Auswertung.

© Cinecittà Luce

L’Arte Della Felicita

8. Gone Girl

Wie fast immer bei David Finchers Filmen, kann ich mich mit Gone Girls Menschenbild nicht identifizieren. Ich glaube weder, dass Ehen konstruierte Lügenmärchen sind, noch dass wir alle insgeheim Psychopathen sind, die nur darauf warten, entfesselt zu werden. Aber Heidewitzka! hat mich dieser Film über zwei Stunden plus in seinen Bann gezogen und mich erneut in perfekt kadrierten Bildern und präzise herausgearbeiteten Perfomances schwelgen lassen. Dafür allein lohnt sich Fincher einfach jedes Mal.

7. Boyhood

Nach Feierabend am letzten Arbeitstag vor der Sommerpause saß ich alleine im Stuttgarter Delphi-Kino und ließ Richard Linklaters Vision eines jungen Menschenlebens über mich hinwegrauschen. Dass der Film allein für seine Machart und seinen langen Atem jedermenschs Achtung verdient, muss man kaum noch erwähnen. Doch diesmal trafen mich auch Linklaters übliche Glückskeks-Philosophie-Momente über Sinn und Sinnlosigkeit unserer Existenz auf diesem Planeten ziemlich direkt ins Herz. Und sollte ich jemals einen Toyota besitzen, werde ich auch das “To” und das “Ta” übermalen, bis nur noch “Yo” übrigbleibt.

6. Guardians of the Galaxy

Kino darf auch mal Spaß machen. Und Guardians of the Galaxy macht endlos Spaß, wurschtegal, ob der Film in seinen Handlungsbögen nur ein weiteres Mal den üblichen beliebigen-Bösewicht-irgendwie-besiegen Beats folgt. Da sind ja immer noch die sympathischen Charaktere, das knallbunte Design, die clevere Musikauswahl und die pure Gaudi, die einem von der Leinwand entgegenspringt. Zweieinhalb Stunden Eskapismus ohne Reue.

© Disney

Guardians of the Galaxy

5. Her

Bei all der krachigen Science-Fiction, die in den letzten Jahren in den Kinos um unsere Aufmerksamkeit buhlt, ob Interstellar oder Elysium, Edge of Tomorrow oder Oblivion – kein Film hat die wahren Alltags-Technik-Themen unserer Zeit so gut eingefangen wie Her. Das besondere an Spike Jonzes kleinem Meisterwerk ist aber, dass es sowohl als echte SciFi-Geschichte funktioniert – die ihre Prämisse konsequent zuende denkt, wie es die großen Kurzgeschichten der alten SciFi-Meister taten – als auch als Metapher für menschliche Beziehungen unabhängig von jeder Technik. Scarlett Johanssons Samantha könnte genauso eine Fernbeziehungs-Freundin oder eine “out of your league” Geliebte sein. Emotional erleben hunderte Menschen auf der Erde jeden Tag das gleiche wie Theodor Twombly.

4. Nymphomaniac

Lars von Trier und die Frauen – das ist so eine Sache, zu der ich mir lieber kein Urteil erlauben würde. Wie immer ist Nymphomaniac wohl eher eine Projektion seiner eigenen Neurosen auf einen weiblichen Charakter und ich denke, so will der Film auch begriffen werden. Wofür ich Trier aber am meisten bewundere, ist seine Bereitschaft, in seinen Filmen formell “all in” zu gehen. Nymphomaniac (Teil 1 noch mehr als Teil 2) ist eine ausufernde Erzählung voller Abschweifungen, Inkonsistenzen und gestalterischer Ideen, der aber dadurch das seltene Kunststück gelingt, intellektuelle und emotionale Prozesse tatsächlich auf der Leinwand konkret zu machen und sie nicht nur unter einem Haufen Interpretationsmasse zu vergraben. Und für diese abgefuckte Direktheit verehre ich den Mann einfach.

3. Mommy

Xavier Dolans Film hat mich an einem kalten Dezemberabend mit voller Breitseite erwischt und ich kann bis heute nicht sagen, ob es meine eigene winterliche Melancholie oder die emotionale Kraft des Films waren, die mich sofort nach Verlassen des Kinos dazu brachten, Mommy sehr weit oben auf meiner Jahresliste zu platzieren. Auch hier wieder diente mir die formale Experimentierungsfreude – Bildformat als Ausdruck von emotionaler Freiheit – als Anfixpunkt und zog mich mittenhinein in eine komplexe Gefühls- und Bilderwelt voll einprägsamer Charaktere. Wie erwähnt, ich mag es halt direkt. Und ich hätte mir beinahe einen Céline-Dion-Song heruntergeladen.

© Universal Pictures Home Entertainment

12 Years a Slave

2. 12 Years a Slave

Der zeitverzögerte deutsche Verleihplan führt manchmal dazu, dass man am Anfang des Jahres einige sehr gute Filme sieht, mitansehen muss, wie sie so lange gefeiert werden, bis man sie fast wieder leid ist und dann bis Ende des Jahres Gefahr läuft, zu vergessen, dass man sie im gleichen Jahr gesehen hat wie alles, was in Cannes und danach startete. 12 Years a Slave ist so ein sehr guter Film, der gelungen zwischen Hollywood und Arthouse balanciert, eine berührende persönliche Geschichte und gleichzeitig das erschütternde Schicksal einer ganzen Bevölkerungsgruppe erzählt. Ein “wichtiger” Film, aber zum Glück darüberhinaus auch ein beeindruckendes Stück Filmkunst.

1. The Grand Budapest Hotel

Er mag nicht den jugendlichen Verve von Rushmore oder das perfekte Ensemble von The Royal Tenenbaums haben, aber ich finde, The Grand Budapest Hotel ist der beste Film, den Wes Anderson bisher gemacht hat. Gerade weil der Film sehr wenig Konkretes über Menschen, Beziehungen und unsere Welt sagen will (nicht gar nichts, aber eben auch nicht viel) und stattdessen den formellen Schrullen und spleenigen Details, auf die Anderson so steht, in vollen Zügen und ohne Reue frönen kann, mag er dem ein oder anderen flüchtig erscheinen – ich finde, es macht ihn erst so richtig grandios.

© 20th Century Fox

The Grand Budapest Hotel