Abschließende und Mehrwollende – Wer bist du?

© HBO

Will abschließen (links), will mehr (rechts)

Ich habe das Zitat zuerst in einem Scriptnotes-Podcast gehört. Einer Google-Suche zufolge wird es der amerikanischen Publizistin Dorothy Parker zugeschrieben und es drückt eigentlich schon vieles von dem aus, womit ich mich im folgenden Text beschäftigen will: “I hate writing, but I love having written.”

Dabei kann ich nicht einmal sagen, ob ich der ersten Hälfte des Zitates zustimmen würde. Ich hasse es nicht, zu schreiben. Aber die zweite Hälfte stimmt dafür umso mehr: Ich liebe es, etwas getan zu haben. Das geht mir nicht nur in der Produktion so, sondern auch in der Rezeption. Ein Buch durchlesen, einen Film fertigsehen, eine Serienstaffel beenden – das alles sind Momente, die mich mit Freude erfüllen. Sie geben mir das Gefühl, etwas geleistet, etwas geschafft zu haben. Eine Sache weniger vor Augen zu haben, die auf Vollendung wartet.

Das erste Feld eines neuen Weges

Doch wie so häufig stelle ich fest, dass mein Empfinden keinesfalls dem der gesamten Menschheit entspricht. Wie diametral entgegengesetzt die Wahrnehmung von Abschlüssen sein kann, erlebe ich jedes Mal wieder, wenn ich gemeinsam mit einer mir sehr nahen Person (insbesondere) Fernsehen gucke. In der letzten Folge der vierten Staffel von Game of Thrones passiert Einiges, auch Überraschendes, aber es gelingt der Serie, alle Hauptfiguren am Ende der Folge – und der Staffel – auf das erste Feld eines neuen Weges zu setzen und wunderbare offene Enden zu konstruieren. “Prima”, denke ich mir, während der Abspann läuft, “brillant beendet. Ich freue mich auf nächstes Jahr und bin froh, jetzt erstmal wieder andere Dinge zu machen.” Doch neben mir auf der Couch quietscht es entrüstet: “WAAAS? UND JETZT MUSS ICH WIEDER EIN JAHR WARTEN, BIS ES WEITERGEHT?”

Ich habe das Gefühl, dass die in Nerdkreisen so übliche Listenkultur eigentlich meine Sichtweise der Dinge unterstützt. Erst wenn ich einen Film gesehen, ein Buch gelesen habe, kann ich es in die “Erledigt”-Ecke meines virtuellen Regals stellen, egal ob auf Goodreads oder auf Letterboxd. Ein Buch, das auf ewig in meiner “Currently Reading”-Liste vor sich hinrottet, “bringt” mir nichts. Ich kann nicht behaupten, dass ich es gelesen habe. Und eine Serie, die nie endet, etwa eine Daily Soap, erlaubt nicht nur ihren Charakteren, sondern auch mir nicht, Frieden zu finden, abzuschließen, weiterzugehen.

Eine Art Limbus

Ich staune, wenn ich lese, dass meine Blogger_innen-Kollegen Björn und Yolanda Bücher nach der Hälfte oder zwei Dritteln zur Seite legen und nie wieder angucken. Sicher, so leben die Charaktere ewig fort, aber doch nur in einer Art Limbus – ohne Ziel und Zweck. Mein innerer Aspie würde da auf Dauer durchdrehen.

Die unterschiedlichen Bedürfnisse an große Erzählungen scheinen eine breitere Diskussion in der Popkultur, insbesondere in der Fan-Kultur zu sein. Nicht nur in der Serie Community ist eine Figur erst dann vollständig zufrieden, als sie mit dem Doctor Who-inspirierten “Inspector Spacetime” eine Obsession gefunden hat, die selbst in ihrem bisherigen Umfang quasi endlos ist und damit auch endlose Obsession zulässt. In einem lesenswerten Artikel auf “The Daily Dot” blickt Dominic Mayer kritisch auf die erste kanonische Veröffentlichung aus dem Harry-Potter-Universum seit mehreren Jahren und die bevorstehenden Filme, die J. K. Rowling derzeit schreibt, und zieht vergleiche zu George Lucas’ Herumdoktern an der ursprünglichen Star Wars-Trilogie, George R. R. Martins “Fuck You” an Fans, die verlangen, er möge schneller schreiben – und sogar Community selbst, die Serie, die sich auf immer absurdere Weise weigert zu sterben, um ihr selbst-gesetztes “six seasons and a movie”-Schicksal erfüllen zu können.

“Part of Art is Finality”

“[I]t’s hard to argue that part of art is finality”, schreibt Mayer. “The debate and continual reinterpretation is what keeps it alive, not a continuous stream of canon that ensures nobody ever has to feel sad about a thing they enjoyed coming to a close.” Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben – und das als jemand, der sich bevorzugt mit nicht-endendem Franchising beschäftigt. Wie enttäuschend sind doch häufig nachgeschobene Sequels wie Indiana Jones and the Crystal Skull oder Live Free and Die Hard? Wie belanglos und leichenfleddernd neue Pink Floyd Alben 20 Jahre nach einem würdigen letzten Aufbäumen, das auf dem bittersüßen Gitarrensolo von “High Hopes” (allein der Titel!) geendet hatte?

Ich kann Anderen ihre Lust am Mehr nicht absprechen, finde es sogar bewundernswert, wenn sie so gut mit der Nichtabgeschlossenheit einer Geschichte leben können und gar nicht das Bedürfnis haben, eine Art “innere Ablage” zu betreiben. In unserer Kultur der “Hyper-Stasis” oder Atemporalität befeuert es aber natürlich auch das immerwährende Bedienen am Alten und die Weigerung, zu neuen Grenzen aufzubrechen, bis nur noch ein Weltuntergang helfen kann – wobei uns Comics, Alien-Filme und Posthume Auftritte natürlich daran erinnern, dass niemand tot bleiben muss.

Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende? Zu welcher Fraktion gehört ihr, liebe Leserinnen und Leser?

Ist schon wieder eine neue Version verfügbar?

Norther Winslow: I’ve been working on this poem for 12 years.
Young Ed Bloom: Really?
Norther Winslow: There’s a lot of expectation. I don’t wanna disappoint my fans.
Young Ed Bloom: May I? [Edward reads the poem on the notebook] The grass so green. Skies so blue. Spectre is really great!
Young Ed Bloom: It’s only three lines long.
Norther Winslow: This is why you should never show a work in progress.
Big Fish

Ich halte Dirk von Gehlen, ohne ihn jemals persönlich getroffen zu haben, für einen klugen und sympathischen Menschen. Sein erstes Buch Mashup mochte ich, weil es die gleichen Qualitäten aufweist wie der Rest seiner Texte. Sie sind streitbar, aber nicht polemisch um der Agitation willen; sie haben relativ wenig Ego und stützen sich auf die breiten Schultern der Menschen die vorher über das Thema geforscht haben; und sie finden eine gute Balance im Ton, so dass man sie ernst nehmen kann, ohne dabei auszutrocknen.

Deswegen habe ich sofort zwölf zukünftige Euros auf den Tisch gelegt, als Dirk ein neues Buchprojekt ankündigte. Zufällig war ich sogar der erste, der das getan hat, weshalb mein Foto jetzt in der gedruckten Version des Buchs zu sehen ist, obwohl ich diese nicht einmal besitze (ich habe nur ein eBook). Ich stehe also hinter und in dem Projekt, das den Titel Eine neue Version ist verfügbar trägt. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass sich meine Begeisterung über Mashup wiederholt hat.

Thesen und Metaphern

Dirks These ist relativ einfach, weshalb auch das Buch nicht sehr umfangreich geworden ist, und um sie darzustellen, wendet er die bereits in Mashup bewährte Mischung aus essayistischen Kapiteln und Kurzinterviews an. Sie lautet: Kultur verflüssigt sich durch die Digitalisierung, daher sollte man anfangen sie in Versionen zu denken, wie Software. Das Buch verwendet zurecht einige Zeit darauf, die Metaphern nebeneinander aufzustellen und zu vergleichen, und argumentiert schließlich recht schlüssig, dass Wassermetaphern besser taugen, um das digitale Zeitalter zu beschreiben, als die gerne genutzten von Räumen und Straßen. Daten umgeben uns überall, und je stärker die Digitalisierung in den Alltag eindringt, umso mehr “schmelzt” sie zuvor feste Strukturen – und es bedarf gehörigen Aufwands, um sie gegen den Kraft der Schmelze zusammenzuhalten.

Die Konsequenz daraus: “Everything that can be Software, will be Software”. Wenn sich Kultur verflüssigt, wird sie zwangsläufig in Versionen existieren, im günstigsten Fall exakt archiviert und datiert, wie das in der History einer Wikipedia-Seite der Fall ist. Praktische Beispiele, in denen sich diese Tatsache manifestiert, sind Bewegungen wie “Liquid Democracy” und “Github”, in denen flüssige politische Prozesse sichtbar gemacht und gemanagt werden, sowie eine Bewegung weg von der Präsentation eines “fertigen” Kulturerzeugnisses hin zu Kultur als niemals abgeschlossenem Prozess.

Dirk von Gehlen hat seine These zum Programm gemacht und sein Buch bereits während der Entstehung mit seinen Crowdfundern geteilt. Unlektorierte Kapitel gab es ebenso per Mail wie eine Einladung zu einer Konferenz und zu einer Session, in der man dem Autor beim Schreiben live über die Schulter gucken konnte.

Können und Wollen

Meinem größten Problem mit Dirks Logik nimmt er in seinem Nachwort vorweg, das er Hinblick auf die Reaktionen geschrieben hat, die ihm schon während des Schreibens begegneten. Auf den Einwand: Jedem das seine, ich will das aber nicht, antwortet er: “Mir geht es im ersten Schritt gar nicht um das Wollen. Mir geht es um das Können.” Mit anderen Worten: Dirk von Gehlen will niemandem vorschreiben, sich der Verflüssigung zu unterwerfen. Und auch andere Einwände wie “Das interessiert doch keinen” und “Das Endprodukt wird entwertet” kontert er recht gelungen.

Dennoch: In einem Satz wie “Everything that can be software, will be software” steckt ein gewisser Imperativ. Und es wird deutlich, das Dirk die verflüssigte, versionierte Form von Kultur gegenüber der starren, scheinbar abgeschlossenen für überlegen hält. Also steht das Können zwar am Anfang, das Wollen müssen scheint sich aber automatisch daraus zu ergeben. Und das ist der Punkt, gegen den ich mich sträube. Wahrscheinlich ist es ein sehr persönliches Sträuben, aber ich will es dennoch versuchen, zu erklären.

Man könnte argumentieren, dass hier evtl. der gleiche Zirkelschluss entsteht wie bei der leidigen Debatte “Muss ich auf Facebook sein?”, die ich immer wieder führen muss. Niemand muss auf Facebook sein, und wer das Gegenteil behauptet, ist intolerant. Dennoch kann es durch gewisse Gruppendynamiken natürlich praktischer sein, auf Facebook zu sein, wenn alle anderen dort sind, weil man sonst Gefahr läuft, Ereignisse in seinen sozialen Kreisen zu verpassen. Im Endeffekt ist es eine Entscheidung des Einzelnen, ob man die Risiken eingehen will, die mit einer Facebook-Anmeldung verbunden sind, um die soziale Belohnung zu kassieren. Man sollte aber nicht Facebook die Schuld daran geben, dass man plötzlich nicht mehr alles mitbekommt, was in seinen sozialen Kreisen passiert.

Ich glaube aber, dass hier nicht der gleiche Fall vorliegt. Die Verflüssigung von Kultur durch Digitalisierung ist ein Fakt, den man nicht bestreiten kann, die Erkenntnis ist also an und für sich noch nichts Bahnbrechendes. Ein digitales Dokument oder Musikstück ist viel leichter verformbar und veränderbar als sein analoges Gegenstück. Anders als bei Facebook kann ich mir also nicht so leicht aussuchen, in welcher Form mein Kulturerzeugnis vorliegt, außer ich weigere mich völlig, digitale Hilfsmittel zu nutzen. Ich kann mir aber aussuchen, ob ich den Prozess öffentlich mache oder nicht bzw. inwieweit. Und das Produkt verschwindet dadurch (anders als die soziale Interaktion bei Facebook) nicht.

Nicht den Kopf verlieren

Die Gleichung ignoriert aber, dass große Teile eines kreativen Prozesses nach wie vor undokumentiert im Kopf des Kreativen stattfinden. Ich habe einmal selbst versucht, einen kreativen Prozess hier im Blog zu dokumentieren und bin kläglich gescheitert, weil die meiste Arbeit eben nicht aus Versionierung sondern einfach aus Denken bestand. Ich hätte diese Denkprozesse natürlich dokumentieren können, hatte aber nicht den Eindruck, dass sich der Aufwand gelohnt hätte – Gedanken sind nun einmal so viel schneller, als Finger auf einer Tastatur. Außerdem – ich bin ganz ehrlich – hatte ich Angst davor, in meinem Gedankenweg gestört und abgelenkt zu werden, wenn ich ihn öffentlich mache. Vielleicht also hätte ich nicht nur hilfreiche Hinweise bekommen, sondern auch Stimmen, die mich so aus der Balance geworfen hätten, dass der Artikel nicht zustande gekommen wäre. Vielleicht ist diese Angst irrational, aber sie existierte.

Worauf ich im Endeffekt hinaus will, ist, dass ein nicht-öffentlicher Prozess und ein scheinbar vom Himmel gefallenes Endprodukt, seine Vorteile haben kann. Im Mai habe ich darüber geschrieben wie effektiv es war, dass zwei Filme zentrale Informationen über ihre Bösewichter als Überraschung nicht vorab bekannt gegeben haben. Überhaupt können Überraschungen etwas ganz tolles sein. Ich mag die Methode der Wissenschaft, die eigentlich schon immer davon ausgeht, dass der Weg immer weiter geht, dass aber auf diesem Weg immer wieder Erkenntnisse stehen, die zu diesem Zeitpunkt fertig sind und als abgeschlossenes Produkt begutachtet werden können. Vielleicht würde Dirk von Gehlen diese Erkenntnisse auch als Versionen eines größeren Prozesses beschreiben. Doch damit wäre das Versionierungskonzept im Grunde auch nur ein neuer Name für große Teile des menschlichen Daseins seit Anbeginn der Zeit. Dass wir im Laufe der Jahre Erkenntnisse hinzugewinnen und dadurch alte Erkenntnisse ersetzen ist nicht Versionierung, es ist einfach Leben.

Abschlussbedürfnis

Ich halte vielmehr den mit “Abschluss” nur unzureichend zu übersetzenden englischen Begriff “closure” für sehr wichtig in diesem Zusammenhang. Ich, und ich denke, viele andere Menschen mit mir, streben nach “Closure”. Ich will, das Dinge abgeschlossen sind, weil Abschluss Orientierung bietet. Ich hatte weder Zeit noch Interesse, die unredigierten Kapitel von Eine neue Version ist verfügbar zu lesen, weil ich mich gerne mit Dirks fertigen Argumenten auseinandersetzen wollte, nicht mit unausgereiften Versionen, die sich noch ändern können.

Wie wichtig Kanonizität sein kann, das feste Ziehen von Grenzen, zeigt sich nicht nur zum Beispiel bei transmedialem Storytelling, sondern auch bei Archivierungsfragen. Denn obwohl unsere Vorstellungskraft unendlich ist, unsere irdischen Ressourcen sind, auch wenn es manchmal anders scheint, endlich. Und deswegen muss all die Flüssigkeit irgendwo enden.

Vielleicht kann man mein undefiniertes Unbehagen auf folgende Sätze herunterbrechen: 1. Aus der Verflüssigung von Kultur sollte nicht zwangsläufig eine Offenlegung aller Prozesse folgen. 2. Abschluss und Kanonizität bilden wichtige Orientierungspunkte im Navigieren der kulturellen Landschaft, man sollte sich gut überlegen, inwieweit man sie aufgeben will. Und dabei geht es nicht nur darum, sich zu wünschen, die Welt wäre weniger kompliziert.

Habe ich Dirk von Gehlen falsch verstanden? Übertreibe ich seinen Imperativ (DAS FÜHRT UNS ALLES IN DEN RELATIVISMUS!), um mich in meiner persönlichen Meinung besser zu fühlen? Finde ich die Zwischenstand-Mails von Crowdfunding-Projekten nur deswegen so nervig, weil sie von den Kulturschaffenden nicht richtig genutzt werden? Wie gut, dass ein Blog eine Kommentarfunktion hat.