Interview: Dirk von Gehlen über Das Pragmatismus-Prinzip

Foto: Hauke Bendt

In “Kulturindustrie” geht es ja sonst eigentlich immer darum, was wir vier so von verschiedenen Dingen halten, ich fand es aber spannend, diese Idee gelegentlich auch durch Gespräche mit Menschen, die selbst Kultur schaffen, zu erweitern. Deswegen gibt es jetzt eine neue Folge, die aus einem Interview mit Dirk von Gehlen besteht.

Dirk von Gehlen arbeitet als Leiter Social Media/Innovation bei der Süddeutschen Zeitung. Er bloggt und er betreibt die Seite Phänomeme.de, eine Art gelegentliches deutschsprachiges Know Your Meme, und er schreibt auch schon seit mehreren Jahren Bücher. Mashup war sein erstes 2011, sein letztes vor dem aktuellen hieß Meta.

Das Pragmatismus-Prinzip, so heißt das neueste Buch, ist ein Plädoyer für den offenen Umgang mit dem Neuen und verquirlt dafür verschiedene Denkschulen und Ideen miteinander zu einer, wie ich finde, ganz gelungenen Mischung und einer Art über die heutige Zeit nachzudenken, die mir persönlich sehr sympathisch ist. Ich würde das Buch also auf jeden Fall empfehlen – das nur vorweg – und habe mit Dirk eher noch über Fragen gesprochen, die sein Buch in mir angestoßen hat. Wir kennen uns auch seit einer Weile über Twitter und duzen uns entsprechend. Also bitte nicht enttäuscht sein, wenn jetzt kein knallhartes Investigativ-Interview folgt. Es ist eher ein offenes Gespräch.

Auf dem Cover von Das Pragmatismus-Prinzip ist ein Emoticon abgebildet, das Dirk von Gehlen den “Shruggie” nennt, und das ihr sicher auch kennt. Es sieht aus wie ein Mensch, der lächelnd mit den Schultern zuckt. ¯\_(ツ)_/¯ Der Shruggie spielt im Buch eine gewisse Rolle, er ist der “Autor” des Vorworts und er fasst auch immer die Kapitel zusammen. Mit dem Journalisten Yannik Hannebohm hat Dirk vor ein paar Wochen einen Podcast namens “Was würde der Shruggie tun” gestartet, in dem er in der Rolle des Shruggie Lebensfragen beantwortet.

Angefangen habe ich das Gespräch aber mit einem Rückgriff. Mashup, sein erstes Buch, habe ich nämlich damals auch in meinem Blog besprochen und dem Post dazu den Titel “Das vernünftige Manifest” gegeben. Ich fand nämlich schon damals gut, dass das Buch sehr unaufgeregt ist und sich eher bemüht, das Phänomen Remixkultur und Dinge wie Creative Commons zu verstehen, als irgendwas darüber zu behaupten. Deswegen habe ich Dirk als erstes gefragt, ob Das Pragmatismus-Prinzip einen Gärungsprozesses beendet, der schon viel länger andauert.

Ganz kurz noch was zur technischen Entstehung des Interviews. Dirk und ich haben ganz normal so aufgenommen, wie wir auch bei Kulturindustrie immer aufnehmen – verbunden per Skype und jeder nimmt seine Spur auf. Am Ende des Gesprächs stellte sich dann aber raus, dass es bei Dirk einen technischen Fehler gab. Seine Spur war also verloren. Anstatt aber das ganze Gespräch neu zu führen, haben wir pragmatisch (höhö) etwas neues probiert; Ich habe Dirk meine Seite der Aufnahme geschickt und er hat meine Fragen einfach noch einmal neu beantwortet. Das Ergebnis ist jetzt also eine Art Frankenstein-Interview. Meine Fragen, im gleichen Fluss wie sie im Originalgespräch gestellt wurden und Dirks zeitversetzte Antworten dazu.

“Arschbombe” außer Kontext: Wenn Blogs zu Büchern werden

Ich habe “Sehr gerne Mama, du Arschbombe” von Patricia “Das Nuf” Cammarata gelesen. Ich mochte es und habe ihm auf Goodreads vier Sterne gegeben. Ich hab beim Lesen gelacht, gekichert, geschmunzelt und manchmal sogar nachgedacht. Ich würde “Arschbombe” weiterempfehlen und werde es vermutlich in Zukunft noch öfter verschenken, wenn in meinem Freundeskreis Nachwuchs ansteht.

Ich fand es trotzdem nicht perfekt und ich glaube, dieses Empfinden kommt vor allem daher, dass ich auch seit ein paar Jahren schon Patricias Blog und ihren Twitter-Account verfolge. (Ich habe Patricia auch schon dreimal persönlich getroffen, aber das ist hier gar nicht so wichtig.) “Arschbombe” ist eine Zusammenstellung der besten Geschichten aus Patricias Blog, in dem es vor allem um das Leben mit Kindern geht. Diese zerfallen grob in zwei Kategorien. Manche sind wirklich beinahe direkte Wiedergaben von Erlebtem, pointiert aufgeschrieben, zum Beispiel “U8” über einen Besuch beim Kinderarzt. Andere, zum Beispiel die Geschichte vom vom Furby (die nicht im Buch ist), nehmen ein Erlebnis nur als Ausgangssituation, um es dann zu übertreiben und eine Art Kishonsche Satire draus zu machen.

Keine Chronologie, keine Übergänge

Im Blog, klar, tauchen diese Geschichten in chronologischer Reihenfolge auf, zwischen anderen Posts zu Themen, die Patricia interessieren, zum Beispiel geschlechtergetrennte Produkte, Ausflugsziele für Kinder und Bloggen. Im Buch sind sie grob nach Kategorien sortiert wie “Familienalltag”, “Peinlichkeiten” oder “Andere Eltern”. Es gibt keine Chronologie, keine Übergänge, eine Geschichte folgt einfach nach der anderen. Im ersten Moment gibt es das dritte Kind noch gar nicht, im nächsten ist es im Kindergarten. Aber noch viel merkwürdiger: Auch Patricia, die Ich-Erzählerin und sozusagen die halbfiktionale Hauptfigur des Buchs, ändert sich von Geschichte zu Geschichte. Manchmal ist sie mit Situationen überfordert, mit denen sie beim nächsten Mal schon klarkommt.

Mich hat das verwirrt und ich halte es für einen der größten Fehler bei “Büchern mit Texten aus dem Internet”, die anscheinend recht erfolgreich sind, die Texte ohne Bearbeitung aus ihrem Kontext zu entfernen. Dirk von Gehlen interessiert sich gerade auch sehr für das Thema und natürlich ist es wegen Blendle gerade in aller Medienmenschen-Munde. Die “Arschbombe” hat mir gezeigt warum. Im Buch fehlen die Hyperlinks, es fehlen die anderen Aspekte von Patricias Persönlichkeit, die man im Blog in der Regel mitkonsumiert. Es fehlt das Gesamtbild, das die einzelnen Texte besser wirken lässt.

Geschichten aus 1001 Arschbombe

Damit will ich nicht sagen, dass man aus Blogtexten keine sehr guten Bücher machen kann. Aber ich glaube, gerade in diesem Fall hätte ein bisschen zusätzliche Arbeit sich gelohnt. Die lustigen Episoden hätten nach meinem Dafürhalten eingebettet werden sollen in eine Rahmen-Erzählung, einfach aus der Ich-Perspektive eines Sachbuchs, in der man die Autorin bzw. ihre Erzähler-Persona Stück für Stück besser kennenlernt, während sie immer wieder ins Geschichtenerzählen abschweift. So hätte man dem Buch eine Spannungslinie verpassen können, eine Dramaturgie, die auch dem Durchlesen von vorne nach hinten einen Mehrwert verpasst, unabhängig von den einzelnen Geschichten. Beispiele für diese Art Bücher gibt es genug, von “1001 Nacht” über “Gullivers Reisen” bis “What would Google do”. Klar, ist natürlich auch Arbeit, aber es lohnt sich.

Ich habe Patricia jedenfalls gebeten, im nächsten Buch mehr und unterschiedlichere Seiten von sich selbst zu verarbeiten, unabhängig von lustigen Mini-Episoden. Ich will diesen Teil ihres Blogs einfach nicht missen, wenn ich ihr Buch lese. Mal gucken, ob das klappt.

Ist schon wieder eine neue Version verfügbar?

Norther Winslow: I’ve been working on this poem for 12 years.
Young Ed Bloom: Really?
Norther Winslow: There’s a lot of expectation. I don’t wanna disappoint my fans.
Young Ed Bloom: May I? [Edward reads the poem on the notebook] The grass so green. Skies so blue. Spectre is really great!
Young Ed Bloom: It’s only three lines long.
Norther Winslow: This is why you should never show a work in progress.
Big Fish

Ich halte Dirk von Gehlen, ohne ihn jemals persönlich getroffen zu haben, für einen klugen und sympathischen Menschen. Sein erstes Buch Mashup mochte ich, weil es die gleichen Qualitäten aufweist wie der Rest seiner Texte. Sie sind streitbar, aber nicht polemisch um der Agitation willen; sie haben relativ wenig Ego und stützen sich auf die breiten Schultern der Menschen die vorher über das Thema geforscht haben; und sie finden eine gute Balance im Ton, so dass man sie ernst nehmen kann, ohne dabei auszutrocknen.

Deswegen habe ich sofort zwölf zukünftige Euros auf den Tisch gelegt, als Dirk ein neues Buchprojekt ankündigte. Zufällig war ich sogar der erste, der das getan hat, weshalb mein Foto jetzt in der gedruckten Version des Buchs zu sehen ist, obwohl ich diese nicht einmal besitze (ich habe nur ein eBook). Ich stehe also hinter und in dem Projekt, das den Titel Eine neue Version ist verfügbar trägt. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass sich meine Begeisterung über Mashup wiederholt hat.

Thesen und Metaphern

Dirks These ist relativ einfach, weshalb auch das Buch nicht sehr umfangreich geworden ist, und um sie darzustellen, wendet er die bereits in Mashup bewährte Mischung aus essayistischen Kapiteln und Kurzinterviews an. Sie lautet: Kultur verflüssigt sich durch die Digitalisierung, daher sollte man anfangen sie in Versionen zu denken, wie Software. Das Buch verwendet zurecht einige Zeit darauf, die Metaphern nebeneinander aufzustellen und zu vergleichen, und argumentiert schließlich recht schlüssig, dass Wassermetaphern besser taugen, um das digitale Zeitalter zu beschreiben, als die gerne genutzten von Räumen und Straßen. Daten umgeben uns überall, und je stärker die Digitalisierung in den Alltag eindringt, umso mehr “schmelzt” sie zuvor feste Strukturen – und es bedarf gehörigen Aufwands, um sie gegen den Kraft der Schmelze zusammenzuhalten.

Die Konsequenz daraus: “Everything that can be Software, will be Software”. Wenn sich Kultur verflüssigt, wird sie zwangsläufig in Versionen existieren, im günstigsten Fall exakt archiviert und datiert, wie das in der History einer Wikipedia-Seite der Fall ist. Praktische Beispiele, in denen sich diese Tatsache manifestiert, sind Bewegungen wie “Liquid Democracy” und “Github”, in denen flüssige politische Prozesse sichtbar gemacht und gemanagt werden, sowie eine Bewegung weg von der Präsentation eines “fertigen” Kulturerzeugnisses hin zu Kultur als niemals abgeschlossenem Prozess.

Dirk von Gehlen hat seine These zum Programm gemacht und sein Buch bereits während der Entstehung mit seinen Crowdfundern geteilt. Unlektorierte Kapitel gab es ebenso per Mail wie eine Einladung zu einer Konferenz und zu einer Session, in der man dem Autor beim Schreiben live über die Schulter gucken konnte.

Können und Wollen

Meinem größten Problem mit Dirks Logik nimmt er in seinem Nachwort vorweg, das er Hinblick auf die Reaktionen geschrieben hat, die ihm schon während des Schreibens begegneten. Auf den Einwand: Jedem das seine, ich will das aber nicht, antwortet er: “Mir geht es im ersten Schritt gar nicht um das Wollen. Mir geht es um das Können.” Mit anderen Worten: Dirk von Gehlen will niemandem vorschreiben, sich der Verflüssigung zu unterwerfen. Und auch andere Einwände wie “Das interessiert doch keinen” und “Das Endprodukt wird entwertet” kontert er recht gelungen.

Dennoch: In einem Satz wie “Everything that can be software, will be software” steckt ein gewisser Imperativ. Und es wird deutlich, das Dirk die verflüssigte, versionierte Form von Kultur gegenüber der starren, scheinbar abgeschlossenen für überlegen hält. Also steht das Können zwar am Anfang, das Wollen müssen scheint sich aber automatisch daraus zu ergeben. Und das ist der Punkt, gegen den ich mich sträube. Wahrscheinlich ist es ein sehr persönliches Sträuben, aber ich will es dennoch versuchen, zu erklären.

Man könnte argumentieren, dass hier evtl. der gleiche Zirkelschluss entsteht wie bei der leidigen Debatte “Muss ich auf Facebook sein?”, die ich immer wieder führen muss. Niemand muss auf Facebook sein, und wer das Gegenteil behauptet, ist intolerant. Dennoch kann es durch gewisse Gruppendynamiken natürlich praktischer sein, auf Facebook zu sein, wenn alle anderen dort sind, weil man sonst Gefahr läuft, Ereignisse in seinen sozialen Kreisen zu verpassen. Im Endeffekt ist es eine Entscheidung des Einzelnen, ob man die Risiken eingehen will, die mit einer Facebook-Anmeldung verbunden sind, um die soziale Belohnung zu kassieren. Man sollte aber nicht Facebook die Schuld daran geben, dass man plötzlich nicht mehr alles mitbekommt, was in seinen sozialen Kreisen passiert.

Ich glaube aber, dass hier nicht der gleiche Fall vorliegt. Die Verflüssigung von Kultur durch Digitalisierung ist ein Fakt, den man nicht bestreiten kann, die Erkenntnis ist also an und für sich noch nichts Bahnbrechendes. Ein digitales Dokument oder Musikstück ist viel leichter verformbar und veränderbar als sein analoges Gegenstück. Anders als bei Facebook kann ich mir also nicht so leicht aussuchen, in welcher Form mein Kulturerzeugnis vorliegt, außer ich weigere mich völlig, digitale Hilfsmittel zu nutzen. Ich kann mir aber aussuchen, ob ich den Prozess öffentlich mache oder nicht bzw. inwieweit. Und das Produkt verschwindet dadurch (anders als die soziale Interaktion bei Facebook) nicht.

Nicht den Kopf verlieren

Die Gleichung ignoriert aber, dass große Teile eines kreativen Prozesses nach wie vor undokumentiert im Kopf des Kreativen stattfinden. Ich habe einmal selbst versucht, einen kreativen Prozess hier im Blog zu dokumentieren und bin kläglich gescheitert, weil die meiste Arbeit eben nicht aus Versionierung sondern einfach aus Denken bestand. Ich hätte diese Denkprozesse natürlich dokumentieren können, hatte aber nicht den Eindruck, dass sich der Aufwand gelohnt hätte – Gedanken sind nun einmal so viel schneller, als Finger auf einer Tastatur. Außerdem – ich bin ganz ehrlich – hatte ich Angst davor, in meinem Gedankenweg gestört und abgelenkt zu werden, wenn ich ihn öffentlich mache. Vielleicht also hätte ich nicht nur hilfreiche Hinweise bekommen, sondern auch Stimmen, die mich so aus der Balance geworfen hätten, dass der Artikel nicht zustande gekommen wäre. Vielleicht ist diese Angst irrational, aber sie existierte.

Worauf ich im Endeffekt hinaus will, ist, dass ein nicht-öffentlicher Prozess und ein scheinbar vom Himmel gefallenes Endprodukt, seine Vorteile haben kann. Im Mai habe ich darüber geschrieben wie effektiv es war, dass zwei Filme zentrale Informationen über ihre Bösewichter als Überraschung nicht vorab bekannt gegeben haben. Überhaupt können Überraschungen etwas ganz tolles sein. Ich mag die Methode der Wissenschaft, die eigentlich schon immer davon ausgeht, dass der Weg immer weiter geht, dass aber auf diesem Weg immer wieder Erkenntnisse stehen, die zu diesem Zeitpunkt fertig sind und als abgeschlossenes Produkt begutachtet werden können. Vielleicht würde Dirk von Gehlen diese Erkenntnisse auch als Versionen eines größeren Prozesses beschreiben. Doch damit wäre das Versionierungskonzept im Grunde auch nur ein neuer Name für große Teile des menschlichen Daseins seit Anbeginn der Zeit. Dass wir im Laufe der Jahre Erkenntnisse hinzugewinnen und dadurch alte Erkenntnisse ersetzen ist nicht Versionierung, es ist einfach Leben.

Abschlussbedürfnis

Ich halte vielmehr den mit “Abschluss” nur unzureichend zu übersetzenden englischen Begriff “closure” für sehr wichtig in diesem Zusammenhang. Ich, und ich denke, viele andere Menschen mit mir, streben nach “Closure”. Ich will, das Dinge abgeschlossen sind, weil Abschluss Orientierung bietet. Ich hatte weder Zeit noch Interesse, die unredigierten Kapitel von Eine neue Version ist verfügbar zu lesen, weil ich mich gerne mit Dirks fertigen Argumenten auseinandersetzen wollte, nicht mit unausgereiften Versionen, die sich noch ändern können.

Wie wichtig Kanonizität sein kann, das feste Ziehen von Grenzen, zeigt sich nicht nur zum Beispiel bei transmedialem Storytelling, sondern auch bei Archivierungsfragen. Denn obwohl unsere Vorstellungskraft unendlich ist, unsere irdischen Ressourcen sind, auch wenn es manchmal anders scheint, endlich. Und deswegen muss all die Flüssigkeit irgendwo enden.

Vielleicht kann man mein undefiniertes Unbehagen auf folgende Sätze herunterbrechen: 1. Aus der Verflüssigung von Kultur sollte nicht zwangsläufig eine Offenlegung aller Prozesse folgen. 2. Abschluss und Kanonizität bilden wichtige Orientierungspunkte im Navigieren der kulturellen Landschaft, man sollte sich gut überlegen, inwieweit man sie aufgeben will. Und dabei geht es nicht nur darum, sich zu wünschen, die Welt wäre weniger kompliziert.

Habe ich Dirk von Gehlen falsch verstanden? Übertreibe ich seinen Imperativ (DAS FÜHRT UNS ALLES IN DEN RELATIVISMUS!), um mich in meiner persönlichen Meinung besser zu fühlen? Finde ich die Zwischenstand-Mails von Crowdfunding-Projekten nur deswegen so nervig, weil sie von den Kulturschaffenden nicht richtig genutzt werden? Wie gut, dass ein Blog eine Kommentarfunktion hat.

In eigener Sache: Alex bei “ENVIV”

ENVIV – ein sonderbares Akronym. Würde man das ganze “Enviv” schreiben und noch ein e dranhängen, “Envive”, würde ich dahinter wahlweise ein neues trendiges Mineralwasser, eine leicht esoterisch angehauchte Frauenzeitschrift oder ein vergessenes Goldstück des Nouveau Roman vermuten. Tatsächlich handelt es sich aber um Dirk von Gehlens neues Buchprojekt mit dem herausfordernden, wenn auch etwas sperrigen, Titel “Eine neue Version ist verfügbar”, in dem es um Antworten auf die Frage “Wie verändert die Digitalisierung Kunst und Kultur?” gehen soll.

Ich gehöre zu jenen Netizens, die nach wie vor Fan von “Thesen erst ausformulieren, dann drüber reden” sind, vielleicht weil sich mir wissenschaftliche Prozesse an der Uni so ins Hirn gebrannt haben. Die ganze Idee davon, dass ein Text oder ein Kunstwerk noch im Entstehen verändert wird, behagt mir nach wie vor nicht so ganz. Deswegen habe ich ENVIV auch nur “fertig” bei Startnext unterstützt und mich nicht in den Entstehungsprozess eingeschaltet. Aber ich fand Dirks Vorgängerwerk “Mashup” ziemlich großartig (warum, und was das ganze mit dem Lobo/Passig “Internet”-Buch zu tun hat, dazu muss ich auch dringend etwas schreiben) und deswegen war ich zufälligerweise klickgenau der erste Supporter von ENVIV. Herr von Gehlen hat mein Vertrauen, dass er wieder etwas Interessantes schafft.

Als Dankeschön und wohl auch, um seine Unterstützer doch noch weiter in den Prozess mit hineinzuziehen, hat Dirk von Gehlen einen (zeitverschobenen) Adventskalender mit ausgefüllten Fragebogen im Projektblog von ENVIV gestartet. Ich wurde auch befragt und heute hat sich sozusagen mein Türchen geöffnet. Wen es interessiert, der kann dahinter unter anderem lesen, was ich Deutschland als Weihnachtsgeschenk empfehle.

Rezension: Mashup – Das vernünftige Manifest

Bild: Suhrkamp/InselIm Internet hilft es häufig, laut zu schreien. Wer gehört werden will im Wust von Status Updates, Tweets, Blogposts und suchmaschinenoptimierten Artikeln, dem kann es selten schaden, seine Position vielleicht noch ein bisschen mehr zuzuspitzen, sich selbst ein paar Zentimeter mehr in Richtung Boulevard zu schieben. Kein Artikel ohne Bild, keine Überschrift, die nicht nach Skandal riechen könnte, kein Meinungsartikel ohne durchnummerierte Bullet Points.

Mashup: Lob der Kopie von jetzt.de-Redaktionsleiter Dirk von Gehlen passt in diese Aufzählung nicht hinein. Suhrkamp, der Verlag, in dem von Gehlens Buch erschienen ist, gestaltet seine Buchdeckel so minimalistisch wie möglich und scheint mit seinem anspruchsvollen Selbstverständnis keinen Platz mehr zu haben in der hyperventilierenden Echtzeit-Welt des Netzes. Was also macht ein Buch über Medienwandel, ein Plädoyer für ein nachhaltiges Umdenken im Umgang mit geistigen Gütern im digitalen Zeitalter genau dort?

Es wirkt. Die Konzeption und Veröffentlichtung von Mashup in genau diesem Kontext erscheint fast wie ein Infiltrationsversuch. Die Netzgemeinde selbst jubelt sich ohnehin schon oft genug zu, wenn es um die immer neue und doch immer gleiche Beschreibung ihrer Werte und Visionen geht. Überzeugt werden muss nicht die digitale Bohême, sondern die Frank Schirrmachers und die Suhrkamp-Leser dieser Welt. Und genau dort sollte Mashup vorzüglich wirken.

Dirk von Gehlens Argumente für einen entspannteren und freieren Umgang mit kreativ verwendeten Kopien sind nicht neu. Sie sind zusammengetragen – man möchte sagen: zusammenkopiert. Das Lob der Kopie beschreibt in seinem Titel seine eigene Arbeitsweise, die gleichzeitig seit Jahrhunderten die Arbeitsweise der Wissenschaft ist. Von Gehlen zitiert ausführlich aus Goethe-Memoiren, Standardwerken, Gesetzestexten und wissenschaftlichen Kommentaren. Er beschreibt methodisch und unaufgeregt die Entwicklung des Urheberrechts und wählt die in seinen Augen besten Vorschläge zu dessen Anpassung aus. Er führt Experteninterviews, die eigentlich nur weitere Zitate einzelner Denker sind, seinen eigenen Worten aber zusätzliches Gewicht verleihen. Mashup beginnt bewusst mit einem Beispiel aus der archaischen, ganz und gar nicht hypertextuellen Welt des Fußballs. Und es schließt mit Forderungen, die auch einem Vermittlungsausschuss entspringen könnten: moderat, fundiert und vernünftig. Forderungen nach der Anerkennung der kreativen Kopie als Partizipation an Originalen, die nur wir selbst zu solchen gemacht haben.

Der Clou an Mashup ist, dass es sich für eine Reductio ad Absurdum so gar nicht eignet – ganz anders als die Visionen mancher Netzevangelisten von Cluetrain bis Jarvis, die man je nach Weltsicht vortrefflich lieben oder hassen kann. Stattdessen hat von Gehlen hat eine der elementaren Ideen des digitalen Zeitalters auf genau der Ebene zusammengefasst, die sie auch für Skeptiker überzeugend machen sollte. Die Kategorie “junger Heißsporn”, welche die Altvorderen dazu bringen könnte, das Buch mit einem gnädigen Schmunzeln abzutun, bedient er – mit einer “Playlist zum Buch” etwa – nur gerade soweit, dass sie noch sympathisch und nicht umstürzlerisch wirkt.

Bleibt nur zu hoffen, dass der Infiltrationsversuch gelingt.


Mashup bei Suhrkamp. Titelabbildung von dort.