“Können Sie die Musik aus einem Marvel-Film summen”, fragt Tony Zhou, der oft kluge und immer streitbare Video-Essayist des YouTube-Kanals “Every Frame a Painting” am Anfang seines neuesten Streichs. Natürlich kann es keiner, so wie Sie, die Sie jetzt diesen Piq lesen, es sicher auch nicht können.
In den darauf folgenden 12 Minuten blättert Zhou die ganze Misere moderner Blockbuster-Musik auf: das Mantra, dass Musik am besten gar nicht bemerkt werden soll; die fehlende Intelligenz in der emotionalen Taktung und das ewige Drama der “Temp-Music”, in der sich Komponistinnen an im Schnitt verwendeter Beispielmusik orientieren sollen und sich so immer weiter selbst replizieren.
Man muss nicht in allen Punkten mit Zhous Thesen übereinstimmen – braucht jeder Film überhaupt ein Thema, dass man nachsummen kann? – aber das reine Nachdenken darüber dürfte den nächsten Kinobesuch in der eigenen Wahrnehmung schon verändern.
Die Musical-Verfilmung Les Misérables hatte meiner Ansicht nach so einige Probleme. Unter anderem litt sie unter schlecht inszenierter Action und einem furchtbar langweiligen dritten Akt, dessen essenzielle Konflikte ständig in einer Ariensoße zu ertrinken drohten. Was mich allerdings nicht gestört hat, obwohl es (exemplarisch) anderswo originell beschimpft wurde, war der am Set aufgenommene Live-Gesang, der an die Stelle des traditionellen Vollplaybacks zu einer im Studio aufgenommenen Version trat.
Tom Hooper und sein Team wurden nicht müde, das Alleinstellungsmerkmal dieses Verfahrens zu betonen (obwohl Julie Taymor es vor fünf Jahren in Across the Universe auch schon gemacht hat, was sogar Improvisation am Set zuließ) – und ich fand es funktionierte. Die velorene Gesangsqualität wurde durch rohe Emotion ausgeglichen.
Zur wahren Emotionalität fehlt Les Misérables aber dennoch der entscheidende Schritt. Denn all das endlose Gesinge in Paris findet ja nach wie vor außerhalb der Diegese der Handlung statt. Es ist eine Konvention des Genres, dass alle Charaktere singen, statt zu sprechen. Behandelt werden ihre stimmlichen Äußerungen aber so – egal ob live oder nicht – als würden sie sprechen; was man daran erkennt, dass die Musik aus dem Nichts kommt und niemand zugibt, dass er gerade singt.
Echtes Singen aber ist ein zutiefst emotionaler Akt, bei dem ein Mensch ein Stück seiner Seele offenbart. Und außerhalb von (technisch unterstützten) Performance-Situationen steigt diese Seelenoffenbarung, diese Zurschaustellung von Verletzlichkeit, die dadurch aber eine umso intensivere emotionale Bindung zulässt, noch um ein Vielfaches.
Daher liebe ich es, wenn Menschen in Filmen “echt” singen, das heißt der Akt des Singens findet innerhalb der Handlungswelt statt. Keiner der Singenden steht dabei auf einer Bühne, in einer anderen Sphäre, sondern der Gesang ist Teil der unmittelbaren Lebenswelt aller beteiligten Figuren. Eine schwammige Definition, ich weiß, aber vielleicht kann die folgendes Sammlung meiner Lieblingsbeispiele demonstrieren, was ich meine. Ich freue mich auf die weitere Sammlung in den Kommentaren – vor allem, um das 40-jährige Loch in der Mitte zu stopfen. [Auf Facebook sind schon ein paar gute Ergänzungen eingegangen]
1. It Happened One Night (1934)
Das Video zeigt den ganzen Film, die relevante Stelle ist hier.
Das waren noch Zeiten, als man Songs noch ungestraft mitten in einen Film einbauen konnte. Hier haben sich Clark Gable und Claudette Colbert lange angekabbelt und nun endlich eine gemeinsame Linie gefunden, als sie zusammen im Bus sitzen. Dem Publikum und derm Film selbst wird daher eine Atempause zugestanden, indem der ganze Bus anfängt vom “Daring Young Man on a Flying Trapeze” zu singen. Das wärmt das Herz, sorgt für Gemeinschaftsgefühl und beschwingt den Busfahrer so sehr, dass er in den Graben lenkt – wo die Screwball-Handlung wieder weitergehen kann. Ein echter Coup!
2. Casablanca (1942)
Die wahrscheinlich berühmteste Szene in meiner Aufzählung. In einem Krieg der Lieder gewinnt das Lied der Unterdrückten (dessen textlichen Inhalt man an dieser Stelle besser ausblendet).
3. Paths of Glory (1957)
Genau genommen steht die junge Christiane Kubrick hier natürlich schon auf einer Bühne, doch es gibt keine trennende Linie zwischen Performer und Zuhörer. Im Gegenteil: Die ganze Szene zielt darauf ab, die Demarkationslinie zwischen Soldaten und Zivilisten, Besatzern und Besetzten, “Guten” und “Bösen” einzureißen. Das Motiv des traurigen Lieds von der Heimat, das die Soldaten in ihrer Menschlichkeit vereint, taucht hier weder zum ersten, noch zum letzten Mal auf.
4. Almost Famous (2001)
Cameron Crowe schummelt ein bisschen, weil er die Original-Aufnahme des Songs unter die Szene legt, das nimmt dieser entfernten Kusine von Szene Nummer 1 aber nichts von ihrer Wirkung. An einem absoluten Tiefpunkt angekommen, groovt sich eine zerstrittene Band hier mit einem Song, den sie liebt, wieder zurück in die positive Zone. Wer sich jemals wirklich mit einer Band im Auto/Bus die Fahrt mit Musik vertrieben hat, weiß, dass solche Momente magisch sind.
5. Moneyball (2011)
“I’m just a little girl lost in the moment.” Hier wird ein Song zum Bindeglied zwischen einer Tochter und dem Vater, der sie vernachlässigt hat, weil er von Baseball-Statisken besessen ist und der sich eben nicht zurücklehnen kann “and just enjoy the show”. Und der Song verbindet sie bis zum Ende des Films, wenn die Baseball-Mission des Vaters gescheitert ist, Tochter und Song aber zum Glück noch da sind.