Unsortierte Gedanken – Juni 2025 – LitRPG, Kinder des Rock‘n‘Roll, Sams-Franchise

Seit ich entschieden habe, im September nach mehreren Jahren mal wieder auf ein LARP zu fahren, habe ich mich wieder mehr mit Rollenspielen beschäftigt und bin dabei auf ein interessantes Rabbithole gestoßen: das Literaturgenre „LitRPG/Progression Fantasy“. Es ist noch relativ jung (10-15 Jahre), lebt besonders auf Self-Publishing-Seiten wie Royal Road und scheint mir eine logische Fortsetzung von ergodischer Literatur wie den Choose-your-own-adventure und Fighting-Fantasy-Büchern zu sein, in die ich vor ein paar Jahren wieder eingetaucht war. 

LitRPG (Literary Role Playing Games) oder Progression Fantasy zu lesen, fühlt sich an, als würde man einer anderen Person beim Videospielen zusehen. Die Bücher speisen sich aus Videospiel-Logiken und haben Protagonisten, die gewollt oder ungewollt in diesen Logiken gefangen sind – also im Spiel vorankommen müssen (daher: Progression), damit es weitergeht (einer der Vorläufer-Texte ist natürlich Ready Player One). Manche Handlungen haben sogar knallhart Videospiel Stats und Skill Trees, die sich im Laufe der Handlung weiterentwickeln. Die Bücher sind in der Regel stark auf Serialität angelegt. 

Die Fanszene rund um LitRPGs ist alles andere als klein, die populäre Buchreihe Dungeon Crawler Carl wird demnächst als Fernsehserie adaptiert. Trotzdem ist das Genre noch eine ziemliche Nische. Ich habe ein paar populäre Titel angelesen und war so fasziniert wie irritiert. Die Spiele-Logik entfaltet sofort einen Sog, weil man wissen will, wie es weitergeht. Gleichzeitig empfinde ich es als enorm frustrierend Protagonisten dabei „zuzusehen“, wie sie ständig Rätsel lösen müssen, aber nicht selbst eingreifen zu können wie bei den oben erwähnten „Du bist selbst der Held“-Büchern. (Ich gebe an dieser Stelle gerne zu, dass ich auch „Actual Play“ Rollenspiel-Videos ziemlich langweilig finde.)

Nichtsdestotrotz: Es ist spannend zu sehen, wie hier auf ganz andere Art als zuvor Spiel und Literstur aufeinandertreffen, und ich glaube, dass diese Art von gamifizierten Geschichten noch viel kommerzielles Potenzial haben. Könnte eigentlich auch ganz gut als Podcast funktionieren. 

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Magda Birkmann hat vor kurzem auf BlueSky angemerkt, dass sie alt genug ist, um die Originaltitelmusik der Serie Die Kinder vom Süderhof zu kennen, die früher im Tigerentenclub lief. Was mich dazu bewegte anzumerken, dass ich sogar noch das Originallied kenne, von dem der Süderhof-Song adaptiert wurde. Es heißt „Die Kinder des Rock‘n‘Roll“ und war auf dem Album Starke Kinder von Rolf und seinen Freunden, das ich als Kind als MC besaß. 

Im Lied geht es darum, dass die Eltern der besungenen Kinder mit dem Rock‘n‘Roll der 50er und 60er aufgewachsen sind („Die Rolling Stones war‘n für die heißen langen Nächte gut“) und sie deswegen sein Vermächtnis weitertragen werden („Der Rock‘n‘Roll lebt weiter, denn wir haben ihn im Blut“). Starke Kinder erschien 1989 – die Zeit, die mir damals schon ewig weit weg vorkam, war also bei Veröffentlichung des Songs weniger weit weg, als der Song von heute aus gesehen zurückliegt. 

Ich weiß, dass „Die Millennials werden alt“ inzwischen längst ein Meme ist, aber es ist schon immer wieder schräg, dass man tatsächlich erst selbst älter werden muss, um überhaupt ein Gefühl für solche Zeiträume zu bekommen. Wenn ich meinem Kind heute also Songs aus den 90ern vorspiele und es zu „Coco Jamboo“ und „Wannabe“ durchs Wohnzimmer tanzt, ist das wirklich das gleiche, wie damals, als mein Vater mir Beatles-Platten ans Herz legte. Obwohl es sich ganz anders anfühlt. (Eventuell auch, weil ich ein deutlich größerer Musiknerd bin als mein Vater, der zur Musik seiner Eltern, soweit ich weiß, keine große Beziehung hatte.)

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Im immer noch relativ neuen Literaturpodcast „Gelesen.“ von meinem Freund und alten „Kulturindustrie“-Kollegen Lucas Barwenczik, ging es vor kurzem mit Co-Host Fynn Benkert über die eigene Lesesozialisation. Lucas erwähnt dort, dass er etwas schockiert war, als Paul Maar im vierten „Sams“-Band „Ein Sams für Martin Taschenbier“ von 1996 plötzlich die bis dahin relativ lineare zeitliche Abfolge der Bücher verlässt und etwa 10 Jahre in die Zukunft springt, zum Sohn des ursprünglichen Protagonisten, der dann ebenfalls Besuch vom Sams bekommt. 

Ich erinnere mich, dass es mir damals ähnlich ging, aber aus heutiger Sicht finde ich den Schritt nachvollziehbar. Das erste Sams-Buch erschien 1979. Die Geschichte seiner Hauptfigur, des schüchternen Buchhalters Bruno Taschenbier, war zum Ende des dritten Bandes endgültig auserzählt – er hatte sein Gleichgewicht (natürlich in einer heterosexuellen Beziehung) gefunden und das Sams hatte sich deswegen verabschiedet. Somit erreichten die Sams-Romane den Punkt jedes erfolgreichen, langlebigen Franchises, dass der Geschichte in ihrer Fortsetzung irgendwie ein neuer Drall gegeben werden musste (ganz abgesehen davon, dass das Setting an die fortgeschrittene Zeit angepasst werden musste.)

„Ein Sams für Martin Taschenbier“ war der letzte Sams-Band, den ich gelesen habe, aber mein Kind entdeckt die Sams-Geschichten gerade und ich musste mit Erstaunen feststellen, dass die Marvel-Universifizierung der Sams-Bücher in der Zwischenzeit nur noch weiter vorangeschritten ist. Seit 1996 erschienene Sams-Bände spielen unter anderem in alternativen Timelines und zuvor nicht ausgefüllten Lücken der Ursprungs-Story, genau wie wir es aus Comics und mittlerweile auch Film-Franchises inzwischen reihenweise kennen. 

Wenn fiktionale Universen über Jahrzehnte fortbestehen, ist es doch kurios, dass viele von ihnen irgendwann an diesem Punkt landen. Die einzige Alternative scheint zu sein, eine „Illusion of Change“ zu erhalten, in der die Charaktere einfach dauerhaft in der gleichen Lebenssituation gefangen sind – wie etwa bei den „Simpsons“ oder „Bibi und Tina“. 

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Ich hoffe, in Zukunft öfter solche kleineren Gedanken und Beobachtungen hier im Blog festzuhalten.

New Work, Powered by the Apocalypse

Ich spiele Rollenspiele (TTRPGs) seit ich Kind bin. Seit einigen Jahren tue ich das nicht mehr regelmäßig, aber ich versuche, mich auf dem Laufenden zu halten und neue Entwicklungen zu verfolgen. Ich finde es interessant, wie sich diese Form des gamifizierten gemeinsamen Geschichtenerzählens seit ihren Ursprüngen in den 1970er Jahren stetig weiterentwickelt.

Dabei sehe ich auch Parallelen zur Arbeitswelt. In den 90ern, als ich angefangen habe, hieß die Spielleitung noch “Game Master” oder “Meister”. Die Spieler:innen waren ihrem Spielstil und ihren Launen für die Gestaltung des Spiels ausgeliefert. Im schlimmsten Fall zogen sie in unterschiedliche Richtungen und spielten teilweise sogar gegeneinander – was im Rollenspiel eigentlich nie das Ziel sein sollte.

Ein neueres System aus den 2010er Jahren, mit dem ich mich gerade beschäftige, klingt da ganz anders. Die Spielleitung heißt jetzt “Master of Ceremonies” (MC), im Regelwerk ist immer wieder von den unterschiedlichen Verantwortungen von MC und Spieler:innen die Rede. “Be a fan of your players” steht da. Umgekehrt haben die Spieler:innen die Aufgabe, dem MC anzuzeigen, welche Dinge ihnen wichtig sind (“Flags”). Ein zentrales Spielelement sind “Directives”, die Ausgestaltungsmöglichkeiten der Story vorgeben. Erfahrungspunkte sammelt man auch dann, wenn die Mission fehlschlägt.

Das erinnert mich doch alles sehr an diverse New-Work-Ideen. Verantwortungs- und visionsgetrieben gemeinsam an einer größeren Geschichte arbeiten. Bedenklich finde ich nur, wie das System heißt, das 2010 für das Spiel “Apocalypse World” entwickelt wurde: “Powered by the Apocalypse“. Andererseits, im Spätkapitalismus vielleicht auch passend?

(zuerst auf LinkedIn veröffentlicht)

Ein Bildschirm, der uns umgibt – Internet, Raum und Virtual Reality

Tron Legacy © Walt Disney Pictures

Die Münchner Stadtbibliothek hat diese Woche eine Foto-Aktion namens #MeinOrtimNetz gestartet. Es geht darum, Orte zu finden, an denen sich Menschen “besonders digital” fühlen. Dabei geht es sowohl um physische Orte (der heimische Lesesessel) als auch um virtuelle (die Online-Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien). Als ich die Ankündigung las, habe ich natürlich darüber nachgedacht, was ich wohl fotografieren würde. Etwas wirklich Gutes fiel mir nicht ein.

Stattdessen aber begannen meine Gedanken mal wieder zu wandern. Woher kommt unser Bedürfnis, dem virtuellen Raum eine äußere Form zu geben? Seit es das Internet gibt, versuchen Menschen räumliche Bilder und Metaphern zu finden, um das zu beschreiben, was wir dort tun. Wir “surfen” auf der “Datenautobahn”. Wir gehen “ins Internet”, wie wir ins Schwimmbad gehen.

Die lange Straße des Metaverse

In der Science Fiction herrschte lange die Vorstellung, dass eine Version des Internets, die wir räumlich erfahren können, dessen nächste (oder letzte) Stufe ist. Ein Film wie Tron hat über Jahrzehnte die Vorstellung davon geprägt, dass wir eines Tages ein bestimmtes Raum- und Distanzempfinden haben werden, wenn wir mit Programmen und anderen Usern in digitalen Umgebungen interagieren. Aus dem Cyberpunk der 80er und 90er stammt die Vision des Internets als Virtual Reality, etwa in Neal Stephensons Snow Crash (1992), in dem die Weiterentwicklung des Internets, das “Metaverse”, aus einer die virtuelle Welt umspannenden Straße besteht, an deren Rändern virtuelle Orte wie Gebäude platziert sind. Um von einem Ort zum anderen zu kommen, kann man nicht, wie heute, einfach klicken, sondern muss einen Weg zurücklegen.

Was passiert, wenn diese Vorstellung vom Anfang des vernetzten Zeitalters von der Realität eingeholt wird, lässt sich sehr schön am Cyberpunk-Rollenspiel Shadowrun zeigen. 1989 erschaffen als ein gerne belächeltes Mashup aus Cyberpunk im Stil von William Gibson und klassischen Fantasy-Konzepten der Dungeons&Dragons-Prägung (Elfen, Trolle, Zauberer), hat sich Shadowrun als erstaunlich unkaputtbar erwiesen. Es existiert immer noch. Die letzte Überholung der Regeln erschien 2013 – ein ziemlicher Zeitraum in Sachen Entwicklung des Internets also.

Die Matrix von Shadowrun

Shadowrun spielt 62 Jahre in der Zukunft und es wurde Ende der 80er konzipiert, also besitzt es dem Zeitgeist entsprechend seine eigene Version des räumlichen Internets, die “Matrix”, in die sich Charaktere mit Hilfe von “Cyberdecks” (Computer, die direkt mit dem Gehirn interagieren) “einstöpseln”, um Datendiebstahl zu begehen und mit feindlichen Programmen (“Intrusion Countermeasure Equipment”, ICE) zu kämpfen. Nur Spezialisten, sogenannte “Decker”, besaßen 1989 die Fähigkeit, durch die Datenbahnen zu reisen und den Kampf ihrer Kumpanen auf der Straße im virtuellen Raum zu unterstützen.

© FASA

Nichts fängt für mich diese Vorstellung so ein, wie das Cover der zweiten Ausgabe von Shadowrun von 1992, mit der ich das Spiel kennenlernte. Ein Typ mit Handfeuerwaffen und eine Magierin im Latexbikini sichern den Terminal, an dem ein Elf sich per Kabel mit der Matrix verbindet. Dieses Bild hat sich in meine Vorstellung der Cyberpunk-Zukunft eingebrannt wie kaum ein anderes.

In der typischen Unebenheit von Science-Fiction-Visionen war es 1989 also denkbar, dass Mitte der 2050er Interfaces zwischen Körper und Computer (“Cyberware”) zur Normalität gehören, aber nicht, dass jede und jeder ständig online ist. Daher ist es faszinierend zu beobachten, wie sich das Matrix-Spielkonzept über die verschiedenen Editionen des Spiels weiterentwickelt hat, um mit der realen Entwicklung des Internets Schritt zu halten.

Schwarze Ebene unter schwarzem Himmel

2005, mit der vierten Ausgabe, schrieben die Designer einen vollständigen Crash des globalen Datennetzes in die fiktionale Historie der Spielwelt, um das Zukunfts-Internet danach neu aufzubauen. Auf die neue Matrix des Jahres 2070 lässt sich drahtlos zugreifen, von allen Figuren, und sie ist auch als “Augmented Reality” über Brillen, Kontaktlinsen, künstliche Augen und “Kommlinks”, die Smartphones der Zukunft, erfahrbar. Decker sind inzwischen so etwas wie die Vinyl-Sammler der Spielwelt, es gibt sie noch und sie fühlen sich wie eine Elite, aber sie sind Raritäten geworden.

Doch um weiterhin Cyber-Abenteuer erleben zu können und diese spannend zu gestalten, existiert nach wie vor auch eine völlig immersive Virtual-Reality-Version der Matrix, inklusive virtuellen Abbildungen von realen Orten, skeuomorphischen Icons, die realen Internet-der-Dinge-Gegenständen nachempfunden sind, und der Vorstellung einer “schwarzen Ebene unter einem schwarzen Himmel”, die “vom Leuchten … der Icons in der Umgebung erleuchtet” wird, wie die fünfte Edition der Regeln ausführt. Durch diese Ebene fliegt oder läuft man mit seiner virtuellen Persona und interagiert in schwebenden “Hosts” mit anderen Personas und Icons.

Die auf reale Entwicklungen (und Prognosen) angepasste Version der fiktionalen Matrix beruft sich also immer noch primär auf Raumvorstellungen aus einer Zeit, als wir noch nicht immer und überall von Datenströmen umgeben waren und jederzeit per Knopfdruck darauf zugreifen konnten. Vielleicht liegen die Spielentwickler damit gar nicht so falsch. Sobald es nämlich darum geht, eine Online-Erfahrung mit anderen Userinnen zu teilen, die über das reine Austauschen von Informationen wie in Chats oder sozialen Netzwerken hinausgeht, scheint man irgendeine Art von gemeinsamem, dreidimensionalem Raum teilen zu müssen, etwa in MMORPGs.

Die Zukunft von Facebook Spaces

Dafür spricht auch Facebook Spaces, die App für VR-Treffen, die Facebook vor ein paar Wochen vorgestellt hat. Auf primitive Art entspricht die im Promo-Video gezeigte Benutzeroberfläche dann doch wieder den räumlichen Verhältnissen von Tron und Shadowrun. Menschen und Objekte werden durch Avatare repräsentiert und es gibt ein neutrales Grundsetup, das mit Inhalten gefüllt wird. Der Unterschied ist, dass sich die Avatare in ihrer virtuellen Konferenz quasi nicht bewegen, so wie sich auch ihre User nicht bewegen. Stattdessen verändern sie die Welt um sich herum, tauchen in Fotos und Videos ein und wechseln diese mit einem Klick. Im Grunde machen sie das gleiche, was sie vorher auch taten, wenn sie das Internet nutzen, nur dass der Bildschirm sie jetzt komplett umgibt.

Wir sollten davon ausgehen, dass das zumindest für die nähere Zukunft, die Räumlichkeit des Internets sein wird: Kein Raum, durch den wir uns bewegen, wie eine Figur auf einem Schachbrett oder eine Person einem Holodeck, sondern ein Raum, der sich um uns bewegt, wie bei einem Green Screen Effekt. Keine Achterbahn sondern ein Simulator Ride. Wenn wir in diesem Raum von einem Ort zum anderen wollen, kann er sich also auch verändern, ohne dass wir den Weg von A nach B in der virtuellen Welt zurücklegen müssen. Wer in Google Street View zwei verschiedene Plätze anschauen will, muss ja schließlich auch nicht auf den abfotografierten Straßen vom einen zum anderen laufen.

Raum ist also etwas, das dem Internet durchaus gut zu Gesicht steht. Aber Entfernung und Bewegung wird es auf abgesehene Zeit weiterhin nicht brauchen – außer um Pokémons zu jagen.