Glow-Ups, Arbeitsversionen und bevorstehende Katastrophen (Unsortierte Gedanken #5)

Als ich vor kurzem den Robbie-Williams-Film Better Man gesehen habe, fiel mir ein Thema wieder ein, über das ich schon lange mal schreiben wollte: Jukebox Musicals, also Musicals, die keine Originalkompositionen verwenden, sondern auf bereits existierende Popsongs zurückgreifen. Oft aus einem bestimmten Genre (Rock of Ages) oder, meistens, von einer bestimmten Künstlerin oder einem bestimmten Künstler. Das bekannteste ist vermutlich Mamma Mia mit der Musik von Abba. Ich hoffe ja sehr, dass ich irgendwann noch die Gelegenheit bekomme, Joyride zu sehen, das Roxette-Jukebox-Musical.

Handlungsmäßig sind diese Musicals meist ziemlich an den Haaren herbeigezogen – logo, schließlich hängen die genutzten Songs ja ursprünglich überhaupt nicht zusammen – aber ich finde immer wieder interessant, was in ihnen musikalisch passiert. Denn die Lieder werden in der Regel ganz neu arrangiert und insbesondere wenn Hollywood involviert ist, sorgt das oft dafür, dass man sie noch mal ganz neu hören kann. Selten wird dabei ein wirklich kreativer Ansatz gewählt wie in Across the Universe, in dem Julie Taymor und Elliot Goldenthal die Musik der Beatles wirklich gut dekonstruieren und neu zusammensetzen. Aber auch die gehörige Schippe Bombast, die das Arbeiten mit großen Orchestern und Hollywood-Musikproduzenten, ermöglicht, sorgt bei diesen Popsongs oft für ein Glow-Up, das mir gefällt.

Der YouTuber Patrick Willems hat gerade erst herausgearbeitet, dass Musik-Biopics und Jukebox-Musicals zurzeit eine Allianz eingegangen sind, die der ganzen Form gut tun. Statt das Leben eines Musikers nur als bloßes Reenactment von Begegnungen und Konzerten anhand einer sehr standardisierten Dramaturgie zu verfilmen, werden Musical-Sequenzen mit den Songs der Hauptfigur eingefügt, die es erlauben, die Realität zu verlassen und stilisierter zu erzählen. So geschehen in Rocket Man, Elvis (selbst noch nicht gesehen) und jetzt auch in Better Man.

Die Musik bekommt dann jedes Mal auch das entsprechende Musical-Bombast-Treatment, aber meiner Meinung nach selten zum Schlechten. Einzelne Songs vom Soundtrack von Rocket Man (den Titelsong, aber auch “Saturday Night’s Alright for Fighting“) höre ich immer wieder gerne. Und die Version von “Rock DJ” aus Better Man, in der einfach alles ein bisschen fetter ist als vor 25 Jahren und zwischendurch eine Marching-Band-Sektion eingefügt ist, lohnt sich auch auf jeden Fall, zumal Robbie Williams selbst singt – am besten guckt man sich gleich dazu die Sequenz aus dem Film an, die die gesamte Karriere von Take That in einer beeindruckenden Choreografie nachbildet. (Und noch ein Tipp aus dem Glow-Up-Space: Emiliana Torrinis Version von Jefferson Airplanes “White Rabbit” aus dem ansonsten furchtbaren Sucker Punch kann ich auch immer wieder hören.)

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Der Song “Take on me” von A-Ha gehörte früh zu meinen Lieblingssongs und ist es bis heute geblieben. Im Podcast Song Exploder hat A-Ha-Mitglied Paul Waaktaar-Savoy vor kurzem die Entstehungsgeschichte des Songs erzählt, der viele verschiedene Demos und sogar veröffentlichte Versionen durchlief, bevor er zu dem Hit werden konnte, der er bis heute ist. Ich finde solche Geschichten immer spannend, weil sie zeigen, dass es manchmal eben doch Details sind, die einen Unterschied machen.

Tatsächlich finde ich auch, dass “Take on me” ein Song ist, der nur in seiner Originalversion, mit dem stampfenden aber zwischendurch auf half-time wechselnden LinnDrum Schlagzeug und den Synthiesounds der Zeit, so richtig funktioniert. Ich habe bis heute kein Cover gehört, das mir wirklich gefällt – also das genaue Gegenteil des eben beschriebenen Phänomens.

Trotzdem habe ich eine Version, die ich lieber mag als den Song, den man aus dem Radio kennt: die extralange 12″-Version gönnt sich ein fast religiöses Intro und einen erweiterten Instrumentalteil in der Mitte, die beide eigentlich nur einen Zweck haben: auf das totale Wegbrechen aller Instrumente hinzuarbeiten, damit das ikonische Anfangsriff so richtig strahlen kann.

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Kathryn Bigelows A House of Dynamite ist ein sehr spannender Thriller über einen Atomraketenangriff aus unbekannter Quelle auf die USA, der es ziemlich sicher Ende des Jahres unter meine Lieblingsfilme schaffen wird und seit vorgestern auf Netflix ist. (Am Ende dieses Abschnitts kleinere Spoiler, wenn man gar nichts über den Film weiß.)

Ein Aspekt, der mir beim Sehen (im Kino) auffiel ist, wie sehr A House of Dynamite ein Film über Menschen ist, die wirklich gut in ihrem Job sind. Er spielt eigentlich nur an Arbeitsplätzen – vor allem in Kommandozentralen und “Situation Rooms”. Die dort sitzenden Personen treffen Entscheidungen in Minuten. Immer wieder fallen Sätze wie “We have trained for this a million times”. Auf dem Bildschirm ist die geballte Expertise eines Staatsapparats zu sehen.

Besonders Hollywood-Filme erzählen ja gerne Geschichten davon, wie Expert:innen versagen, weil ihnen über ihr Expertentum die Menschlichkeit verlorengegangen ist (gerade erst wieder in Jurassic World Rebirth gesehen, in der eine eigentlich sehr überschaubare Operation durch fanatischen Leichtsinn schiefläuft, und am Ende nichts ohne romantisierte Normalos läuft). In A House of Dynamite machen die Expert:innen alles richtig und können die bevorstehende Katastrophe dennoch nicht verhindern. Nur die schwerwiegendste Entscheidung, nämlich über einen möglichen Gegenschlag liegt dann wieder bei jemandem, der eigentlich ein Laie ist: dem US-Präsidenten.

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Ich arbeite mich seit einigen Jahren stückweise, Jahr für Jahr, durch die History of Middle Earth, Christopher Tolkiens zwölfbändige Aufarbeitung der Papiere seines Vaters, in der man ähnlich wie in Song Exploder die diversen Versionen seiner Werke lesen kann, die nicht veröffentlicht wurden.

Gerade habe ich Band V, The Lost Road and Other Writings, beendet. Allerdings lese ich die Bücher in einer Reihenfolge, die ein bisschen an die Star Wars-Filme erinnert, nämlich I, II, VI, VII, VIII, IX, III, dann Tolkiens Briefe, IV, V. Mit The Lost Road habe ich nun also zu den Bänden VI bis IX aufgeschlossen, die die Geschichte des Herrn der Ringe erzählen.

Mein Plan ist, als nächstes X, XI und XII zu lesen und dann noch einmal die Unfinished Tales, die ich zuletzt vor über 20 Jahren gelesen habe – somit wäre ich 2029 fertig. Ich lese diese Bücher, weil Tolkiens Romane mich geprägt haben wie kaum ein anderes Werk, aber auch, weil ich diese einmalige Aufstellung einer Rekonstruktion des gesamten Schaffensprozesses eines Menschen nach wie vor – unabhängig vom Inhalt – schrecklich faszinierend finde. Wo sonst gibt es das, dass man einen Menschen quasi beim literarischen Nachdenken über die gleichen Geschichten durch ein ganzes Leben hindurch begleiten kann? (Unter anderem in Adam Moss’ großartigem Buch The Work of Art, das ich auch Stück für Stück lese und sehr empfehle.)

Dennoch gebe ich zu, dass ich ein bisschen Angst davor hatte, in diesem Band ein weiteres Mal alle Geschichten des Silmarillion zu lesen. Mit minimalen Abweichungen gegenüber der publizierten Ausgabe, mit Detailabweichungen in Namen und Geografie, die ich mir sowieso nicht merken kann. Tatsächlich habe ich zwischendurch überlegt, den Teil zum Quenta Silmarillion einfach zu überspringen, nachdem ich die Geschichten des ersten Zeitalters in den vorausgehenden Bänden schon mehrfach gelesen hatte.

Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Denn nicht nur ist die Version des Silmarillion, die Tolkien 1937 schrieb – kurz bevor er den Herrn der Ringe begann – eigentlich ganz angenehm zu lesen. In ihrer Lektüre erschloss sich mir auch, dass diese Art von Sagen ihre wahre Wirkung wirklich erst entfalten, wenn man ihnen immer wieder ausgesetzt ist. Gerade die vage Erinnerung an die vorhergehenden Versionen und das grobe Wissen zu jedem Zeitpunkt darüber, welche Ereignisse noch kommen werden, machte mir das Lesen und Verstehen leichter als zuvor. Zudem enthält dieser Teil des Buchs einige interessante Reflexionen von Christopher Tolkien über seine eigene kuratorische Arbeit, etwa dass er heute einige seiner Entscheidungen beim Zusammenstellen des veröffentlichten Silmarillion bedauert.

Ein noch größeres Geschenk ist aber tatsächlich das Fragment The Lost Road, von dem Christopher Tolkien mit Recht schreibt, es sei „among the most interesting and instructive of my father’s unfinished works“. Nicht nur ist es, anders als die Silmarillion-Sagen, in Romanform angelegt, die zeigt, dass J. R. R. Tolkien zwar ein altmodischer, aber wirklich kein schlechter Erzähler war. Es erhellt wirklich wie wenige andere seiner Schriften sein Denken über seine Geschichten als zeitlose Wiedergeburten von Ur-Erzählungen. In diesem Fall über die Ignoranz einer dekadenten Menschheit im Angesicht einer drohenden Katastrophe, wie im Atlantis-Mythos und seiner Mittel-Erde-Version, dem Untergang von Númenor.

In The Lost Road hatte er vor, diese Variationen über die Zeitalter hinweg zu einem großen Narrativ zu vereinen, das zeigt, wie sehr die Geschichte und die aus ihr entstehenden Mythen sich wiederholen und reimen. Quasi J. R. R. Tolkiens Everything Everywhere All At Once. Ich weiß nicht, ob das Ergebnis gut gewesen wäre, aber ich hätte es mit Sicherheit gerne gelesen. (Diesen Text habe ich zuerst in ähnlicher Form auf Goodreads veröffentlicht)

Foto von h heyerlein auf Unsplash

Mit diesen fünf US-Podcasts fühle ich mich gut über Musik informiert

Redphones” by Garry Knight, CC-BY 2.0

Es gibt wohl nichts, wofür sich Podcasts besser eignen, als über Musik zu berichten – deutlich besser zumindest, als über Film und TV. Wenn dann noch das in den USA deutlich großzügigere Urheberrecht mit “fair use” hinzukommt, ergeben sich jede Menge tolle Möglichkeiten. Im Laufe der Jahre hat sich für mich als Musikfan eine kleine aber feine Auswahl an Podcasts durchgesetzt, in denen Musik von allen Seiten beleuchtet wird, und die ich gerne teilen möchte.

1. Neue Musik für die Playlist

Nachdem vor einigen Jahren der “Music Weekly” Podcast des Guardian eingestellt wurde, machte ich mich auf die Suche nach einer neuen Sendung, in der ich einfach neue Musik zum Hören entdecken konnte. Fündig wurde ich bei “All Songs Considered” von NPR. Hier spielen die Moderatoren Bob Boilen und Robin Hilton sich jede Woche eine Stunde lang aktuelle Musik vor, die ihnen gefällt. Boilen und Hilton sind beides mittelalte weiße Männer aus den USA, natürlich ist die Auswahl entsprechend angeschlagen. Scharfen Musikkritiker*innen aus Europa wäre sie vermutlich häufig zu seicht, aber für meinen Geschmack ist sie oft genau richtig. Indie, Rock, Folk und Country machen wahrscheinlich den größten Teil der Auswahl aus, aber der Musikgeschmack der beiden – und der Gäste, die sie manchmal im Studio haben – ist groß genug, dass man auch Highlights aus Feldern wie Hip-Hop, Punk, Metal und avantgardistischeren Musikrichtungen zur hören bekommt. Das besondere: “All Songs Considered” spielt seine Songs voll aus (im Streamingzeitalter scheinen die Lizenzen bezahlbar zu sein) und erlaubt daher, wirklich zu entscheiden, ob einem ein Song gefällt oder nicht. Ergänzt wird der Podcastfeed durch gelegentliche Interviews mit Musiker*innen, die oftmals weitere interessante Entdeckungen bereithalten.

2. Wie kommen die Löcher in den Käse?

Hinter “Song Exploder” steckt eine Idee, die so einfach wie genial ist. Moderator Hrishikesh Hirway interviewt Musiker*innen über die Entstehung einzelner Songs und bekommt von ihnen zusätzlich die sogenannten “Stems”, also die Originalspuren ihrer Aufnahmen. Das ermöglicht es ihm, einzelne Elemente der Songs zu isolieren und den Beschreibungen zuzuordnen. Im Ergebnis lernt man nicht nur, wie vielschichtig manche Songs sind, sondern auch wie unterschiedlich die kreativen Prozesse in der Entstehung von Musik sein können. Aus welchem Element ist der Song gewachsen? Welchen Einfluss hatten Musiker und Produzenten? Was war gewollt und was ist einfach passiert? Warum hat Rivers Cuomo von Weezer eine riesige Excel-Tabelle mit Textzeilen? Da ich selbst Musiker bin (wenn auch nur Schlagzeuger) ist “Song Exploder” für mich eine endlose Fundgrube an Inspiration. Die Musikrichtungen von “Song Exploder” reichen von Filmmusik über Hardcore bis Pop und Rock. Einfach mal reinhören! (Bonus: Das Longform-Interview mit Hrisikeh Hirway gibt wiederum Einblicke in die Entstehung von “Song Exploder” und die kleinteilige Arbeit, die Hirway investiert.)

3. Die Perlen der Charts

Eher selten in den beiden erstgenannten Sendungen vertreten sind die Songs, die nicht die Regale von Musiksnobs, sondern die Heavy Rotations junger Radiowellen dominieren. Hier hilft “Switched on Pop” aus. Songwriter Charlie Harding und Musikwissenschaftler Nate Sloan nehmen dort alle zwei Wochen aktuelle Pophits auseinander und entdecken ihre verborgenen Tiefen. Das beste an dem populär-musikwissenschaftlichen Ansatz, den die beiden verfolgen, ist, dass sie auch versuchen Trends zu identifizieren, ihnen Namen zu geben und zu beobachten, wo sie herkommen und hingehen. Im letzten Jahr ist etwa der “Pop Drop” zum definierenden Merkmal aktueller Popmusik geworden, in dem der Refrain durch eine gepitchte und zerstückelte Stimme auf fetten Beats ersetzt wird, die Assimilation eines Stilmittels aus der elektronischen Tanzmusik. “Switched on Pop” hilft mir dabei, auch bei Musik “in the know” zu bleiben, die ich selbst wenig höre, die aber Rückschlüsse auf unsere Popkultur als Ganzes zulässt. Und manchmal entdecke sogar ich in den aktuellen Chartpoppern etwas, was mir gefällt, zum Beispiel Julia Michaels.

4. Auf zu neuen Ufern

So nah “Switched on Pop” an populärer Musik ist, so weit ist “Meet the Composer” davon entfernt. Die preisgekrönte Sendung der Musikerin und Moderatorin Nadia Sirota beschäftigt sich mit moderner Klassik oder “New Music”, wie sie es nennt. Auch wenn ich selbst nur wenig dieser Musik selbst höre (Atonalität ist wirklich nicht mein Ding), ist die Sendung allein schon wegen ihrer Produktion hörenswert und weil man so viel dabei lernt. Wurden in Staffel 1 und 2 noch pro Folge individuelle Komponist*innen vorgestelllt, widmet sich Staffel 3 oft auch abstrakteren und faszinierenden Konzepte. Wie ist eigentlich das Verhältnis zwischen Komponist*in und den Ensembles, die die Musik spielen – und welche Rolle spielt Sadomasochismus dabei? Welche Rolle spielen Komponist*innen, die Musik nicht notieren, sondern aus Samples zusammenbauen? “Meet the Composer” hat meinen Horizont in Sachen Musik so erweitert wie schon lange nichts mehr.

5. Der kulturindustrielle Komplex

Chris Molanphy ist Autor der Slate-Kolumne “Why is this Song Number One?” und hat das pophistorische Wissen des 20. Jahrhunderts in seinem Kopf gespeichert. In seinem Podcast “Hit Parade”, der monatlich im Feed des “Slate Culture Gabfest” auftaucht untersucht er Phänomene, die weniger mit Komposition und Musikgeschmack, als mit den Karrieren von Musiker*innen im Spiegel von Promotion und Airplay zu tun haben. Bisher gibt es drei Episoden von “Hit Parade” und alle waren spannend: Warum wurde UB40’s “Red Red Wine” in den 80ern ein Hit in den USA und welche Rolle spielten abweichlerische Radio-DJs dabei? Wie gelang es den Beatles 1964, die gesamte Top 5 der Billboard-Charts zu besetzen und was hatte die schlechte Plattenlabel-Politik der USA damit zu tun? Und eine Historie der Zusammenarbeit und Rivalität von Elton John und George Michael über vier Dekaden hinweg. Musik ist eben auch eine Industrie, die aber ihre eigenen beeindruckenden Geschichten bereithält.

Außerdem Über “Pitch” und “Our Debut Album” habe ich im Blog schon geschrieben. Beide Projekte scheinen für’s erste beendet zu sein.

Was fehlt? Über die deutsche Musikszene weiß ich weiterhin sehr wenig, aber mir ist auch noch kein guter Podcast dazu in die Hände gefallen. Vorschläge und weitere Tipps zu guten Musikpodcasts gerne in die Kommentare.

“Our Debut Album” erlaubt einen einmaligen Einblick in kreative Prozesse

Wir sind davon besessen, wie Kreativität funktioniert. Wer sich einmal in eine bestimmte Filterblase im Netz verirrt, zum Beispiel auf “Medium”, kann sich plötzlich gar nicht mehr retten vor Selbsthilfe-Tipps für Autoren – gegen Schreibblockaden, für Ideenfindung, zur Effizienzsteigerung und Prozessverbesserung. Erfolgreiche Kreative und findige Wissenschaftler_innen teilen in TED-Talks und anschließenden Büchern inzwischen regelmäßig ihre Kreativitäts-Geheimnisse und -Beobachtungen. In Fernsehsendungen wird Kreativität als Problemlösung endlos zur Schau gestellt.

Aber selten bekommen wir die Gelegenheit, Ideen tatsächlich beim Entstehen zu beobachten. Denn Kreativität ist nach wie vor ein enorm privater Prozess. Er findet im Kopf statt oder alleine im stillen Kämmerlein (einer der Tipps für Ideenfindung) und wenn er, wie im Reality-TV der Superstars und Umdekorierungen, öffentlich inszeniert ist, wird die wirkliche Arbeit in der Regel nicht gezeigt, weil sie zu langweilig scheint. Podcasts wie der fantastische Song Exploder, “where musicians take apart their songs, and piece by piece, tell the story of how they were made” kommen einer echten Kreativ-Analyse einzelner Werke ohne Selbsthilfe-Charakter sehr nah (Rivers Cuomo hat einen der faszinierendsten Arbeitsprozesse aller Zeiten). Aber auch sie können Kreativität nur im Nachhinein erzählen. Live dabei sind sie nicht.

Eine Stunde Zeit

Auftritt Our Debut Album. Der Podcast von Dave Shumka und Graham Clark hat ein simples Konzept: Viele große Hits der Musikgeschichte wurden angeblich in unter einer Stunde geschrieben. Also braucht man auch nur eine Stunde, um gute Hits zu schreiben. Also kann man sich dabei auch aufnehmen. Shumka und Clark, beide eigentlich Comedians und weit davon entfernt, geübte Musiker zu sein, geben sich ein paar Minuten zum Brainstormen, dann starten sie den Countdown und schreiben einen Song.

Die Ergebnisse, die auf Bandcamp gestreamt und gekauft werden können, haben meiner Ansicht nach bisher nicht das Kaliber echter Hits. Einigen von ihnen merkt man ihren nicht sehr durchdachten Entstehungsprozess auch deutlich an. Aber darum geht es nicht. Viel interessanter ist, dass man Shumka und Clark dabei zuhören kann, wie sie unter (mäßigem) Zeitdruck Ideen entwickeln und ausarbeiten. Dass sie hauptberuflich Comedians sind, hilft, weil sie ihren eigenen Prozess ständig verbalisieren, kommentieren und auseinandernehmen – was schließlich auch das Geheimnis vieler guter Witze ist.

Meine persönliche Kreativitäts-Theorie

Ich habe eine persönliche Lieblingstheorie zum Thema Kreativität, die darin besteht, dass es im Grunde zwei kreative Persönlichkeitstypen gibt (und, natürlich, wie immer, ein Spektrum dazwischen). Bei den einen ist Kreativität von einer Vision getrieben. In ihrem Kopf entsteht sehr schnell ein voll ausgeformtes Endprodukt und der kreative Prozess besteht darin, sich diesem Endprodukt anzunähern. Eine der schönsten Visualisierungen dieses Typs habe ich im Film Begin Again entdeckt. Mark Ruffalo hört Keira Knightley in einer Bar zur Gitarre singen und für ihn stimmen sofort die herumstehenden Instrumente mit ein, zeigen das Arrangement, dass er sich vorstellt. Ich selbst bin auch so ein Typ – ich kann erst anfangen zu schreiben, wenn der Text in meinem Kopf erst existiert. Der Vorteil ist, dass der eigentliche Schreibprozess oft sehr schnell geht. Aber wenn auf dem Weg zur Vision etwas Unvorhergesehenes passiert oder die Vision sich nicht einstellen will, gerät der ganze Prozess schnell in eine existenzielle Krise.

Am anderen Ende des Spektrums steht Kreativität, die von einem Prozess getrieben ist. Zumindest habe ich das beobachtet. Ich kenne viele kreative Menschen, die eben nicht sofort wissen, wo sie hinwollen, sondern einfach so lange arbeiten, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden (genug) sind. Das bedeutet oft, erstmal übers Ziel hinauszuschießen und dann den Kurs zu korrigieren sowie sich bestimmte Ideen gar nicht vorstellen zu können, bevor der vorhergehende Schritt nicht abgeschlossen ist. Prozessorientierte Kreative sind, glaube ich, bessere Zusammenarbeiter und sie sind offener für spontane Entwicklungen im Laufe des Prozesses. Dafür brauchen sie meist länger, neigen stärker zur Prokrastination und man muss ihnen ihr Werk manchmal mit den Worten “Das ist jetzt gut so” aus den Händen reißen.

Die Theorie in Aktion

Bei der Live-Kreativität von Our Debut Album kann man als Hörer Zeuge von beidem werden. Shumka und Clark sind beide eher prozessorientierte Kreative, wie oben beschrieben. Sie fangen mit einer Ursprungs-Idee an und hangeln sich davon ausgehend so lange durch das Songwriting bis die Zeit um ist. Natürlich greifen sie auf typische Muster des Liedschreibens zurück, um ein Gerüst zur Orientierung zu haben, aber nicht selten kommen die entscheidenden Heureka-Momente erst nach der Hälfte der Zeit.

Ein paar Mal hatten die beiden allerdings auch Gäste mit in der Sendung, und fast jedes Mal konnte man beobachten, wie zwei verschiedene Kreativitätswelten aufeinander trafen. Emmett Hall, der in Episode 2, “Glam Boyz” mit im Studio sitzt, ist schon nach gut 15 Minuten von den ersten Ideen so angefixt, dass er den Rest des Songs bereits spielen könnte und von den anderen gestoppt werden muss (Ungefähr bei 18 Minuten im Podcast). Und mit Jessica Delisle wurschteln Shumka und Clark in Episode 6, “Party Lyin'” eine Stunde lang herum und sind am Ende überzeugt, zum ersten Mal gescheitert zu sein. Aber Delisle versichert ihnen: “In my mind, I’m hearing a song” – und produziert kurze Zeit drauf eine Demo aus den Versatzstücken (Bei ca. 33 Minuten). “I’m very much ‘what’s on the page'”, gibt Graham Clark als Antwort darauf zu und beschreibt damit das andere Ende des Spektrums. Es ist faszinierend!

Wieviel bleibt übrig?

Im letzten Schritt des Podcasts beschreiben die Gastgeber zusätzlich, wie aus ihrem in der Sendung entstandenen Gerüst mit Hilfe des Produzenten Jay Arner ein fertiger Song wird. Und obwohl dieser Schritt immer sehr verkürzt dargestellt wird, lässt sich auch darin noch viel über die Mutabilität von Ideen lernen. Weil die Zuhörer_innen zuvor alle Sackgassen miterleben durften, die das Songwriting auf seinem Weg passiert hat, bringen sie jetzt ein viel besseres Gefühl dafür mit, welche Anfangs-Ideen es bis zum Ende schaffen und wieviel Saat des finalen Songs in diesen Anfangs-Ideen überhaupt vorhanden ist.

Wer sich für Kreativität, Musik und Komik interessiert, dem lege ich Our Debut Album hiermit wärmstens ans Herz. Neue Episoden erscheinen immer am ersten Mittwoch jedes Monats. Neun Songs sind schon fertig, zwölf sollen es mal werden.

Und wer Ideen, Erfahrungen und Meinungen zu meinen Gedanken über kreative Prozesse hat, darf sie gerne in die Kommentare schreiben.