Handbuch für Zeitreisende – Ein Buch wie ein trojanisches Pferd

Manchmal sind meine Podcast-Skripte nur Stichwortsammlungen, manchmal sind sie fast echte Texte. Im letzteren Fall habe ich mich entschieden, sie auch hier zu veröffentlichen für Leute, die keine Podcasts hören. Sie sind aber natürlich trotzdem darauf ausgelegt, gesprochen (und während des Sprechens verknüpft) zu werden und enthalten evtl. Fehler.

Kathrin Passig, Aleks Scholz
Handbuch für Zeitreisende
Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer
Berlin: Rowohlt, 2020, 336 Seiten

  • Am besten fand ich die Teile des Buchs, in denen es eigentlich nicht um Zeitreisen ging
  • Kathrin Passig und Aleks Scholz schreiben das Buch aus einer fiktiven Situation heraus, in der Zeitreisen bereits möglich ist
  • Es gibt Zeitreise-Anbieter, die wie Reisebüros funktionieren und einen in verschiedenen Komfort-Levels in der Zeit verschicken
  • Gleichzeitig wird ein Zeitreisen-Modell als wahr angenommen, das auf der Viele-Welten-Theorie basiert, also jedes Mal wenn man in der Vergangenheit ankommt, macht man ein Paralleluniversum auf bzw. existiert in einem Paralleluniversum, das schon da war. Wenn man zurückreist, kommt man aber in sein Ursprungsuniversum zurück
  • Dieses Konstrukt wird aufgebaut und angenommen, aber es wird nie erklärt, da diejenigen, die das Buch schreiben, ja so tun, als lebten Schreibende und Lesende in der gleichen Zeit, in der das bereits bekannt ist
  • (Daraus ließe sich ein interessanter Exkurs zu Worldbuilding-Exposition machen, ob sie notwendig ist oder nicht)
  • Jedenfalls irritierte mich das immer ein bisschen. Aus diesen Grundannahmen werden Regeln für die Zeitreisenbeschreibungen abgeleitet (z. B. was man verändern sollte und was nicht), die aber ein bisschen beliebig wirken, weil ja auch die Annahmen ein bisschen beliebig sind – hier beißen sich Fiktion und Realität ein bisschen
  • Obwohl also alles auf bestem Wissen und Gewissen basiert, Aleks Scholz ist ja auch Astrophysiker, begeben sich die beiden für meinen Geschmack immer ein wenig auf wackeliges Terrain, wenn sie wirkliche Reiseführer-ähnliche Regeln aufstellen, oder zumindest wird an diesen Stellen immer die spekulative Ebene des Buchs etwas sichtbar und reißt einen raus
  • Das sage ich, obwohl sie an anderen Stellen sehr unterhaltsam ist und ich es auf jeden Fall viel besser finde, ein Buch aus einer fiktiven Zukunft heraus zu schreiben, in der Zeitreisen schon existieren, als alles ständig im Konjunktiv zu formulieren
  • Fairerweise muss man auch sagen, dass in einem Nachwort alles erklärt und aufgelöst wird und sich die Autor*innen auch ein bisschen entschuldigen
  • Großartig fand ich hingegen, wie das Buch als trojanisches Pferd fungiert
  • Es ist nämlich eigentlich ein Buch über alle möglichen Aspekte von Erd- und Menschheitsgeschichte (und ein bisschen Physik), vermittelt durch dieses “High Concept” von Zeitreisen
  • “Interessante Aspekte von Erd- und Menschheitsgeschichte (und ein bisschen Physik)” wäre halt auf keinen Fall ein so spannender Teaser gewesen wie “Alles, was sie für eine Zeitreise wissen müssen”
  • Die Zeitreise ist also das trojanische Pferd und die ganzen geschichtlichen Fakten und Theorien sind die griechischen Krieger, die einem heimlich Wissen vermitteln
  • Zu den Ideen, die im Buch gestreift werden, gehören:
    • Welche falschen Ideen und Mythen über die Vergangenheit sich in unserem kollektiven Unterbewusstsein festgesetzt haben (z. B. “finsteres Mittelalter”, “Dinosaurier lebten alle zusammen”, “Kriege sind heroische Schlachten, in denen man sich beweisen kann” usw.) – hier räumt das Buch mit Vorurteilen auf, aber versucht, wie häufig in Kathrin Passigs Texten, differenziert verschiedene Blickwinkel darzustellen, die man darauf haben kann
    • Das gleiche mit Geschichte als Entwicklung, z. B. Great Man Theory, Dinge, die erst im Rückblick überhaupt eine Entwicklung sind, Autorenschaft von Geschichte durch die Sigenden etc.
    • Welche bemerkenswerten Aspekte der Weltgeschichte wir gerne vergessen, z. B. dass es in Granada im 14. und 15. Jahrhundert eine blühende islamische Zivilisation gab oder dass es nicht nur Eiszeiten, sondern auch Warmzeiten gab
    • Welche Aspekte unseres Lebens wir als gegeben hinnehmen und wie lange es sie eigentlich erst gibt, das gilt sowohl für soziale Dinge (z. B. Rechte von Frauen, Armen etc.) als auch für wissenschaftliche Erfindungen 
      • Aber auch hier wieder der differenzierte Bickwinkel – Zitat “Man sollte sich daher so wenig über die Medizin der Vergangenheit mit ihren Krötenpulvern lustig machen, wie über die der Gegenwart, in der Homöopathie von der Krankenkasse bezahlt wird”
      • Also hier auch das Suchen und Darstellen von unterhaltsamen bis nachdenklichen Echos aus der Menschheitsgeschichte
      • “Durch Fragen an die Vergangenheit wird auch die Gegenwart klüger.”
    • Was eigentlich essenziell für menschliches Überleben und Gesundheit ist – interessanterweise enthält die Sektion “Praktische Informationen für Zeitreisende” besonders viel Infos zu Hygiene und Krankheiten, die sich die ganze Zeit lesen, wie die ganzen Corona-Leitlinien, die man in letzter Zeit so gelesen hat
      • es ist wirklich fast unheimlich vorausschauend, aber das Buch wurde ja auch in der Zukunft geschrieben
  • Ich mag diesen trojanischen Aspekt des Buchs, es sollte noch viel mehr davon geben – knallt mir eine krasse Science-Fiction-Idee vor die Nase und nutzt das, um mir interessante Sachen zu erzählen, nach denen ich aus eigenem Antrieb wahrscheinlich nie gesucht hätte.
  • Ich kam darauf, diese Idee im Podcast zu besprechen, weil ich direkt zuvor noch ein anderes  Buch gelesen hatte, das das gleiche macht.
  • “The World without Us” von Alan Weisman ist ein moderner Klassiker der amerikanischen Nonfiction, ich bin darauf gestoßen über eine Liste von Slate mit den besten Nonfiction-Büchern der letzten 25 Jahre
  • Auch hier wieder ein High Concept, das das Buch verkauft:
    • Was würde mit der Welt passieren, wenn die Menschheit von einem auf den anderen Moment verschwinden würde? 
    • Hingerafft zum Beispiel von einer Pandemie (da isses wieder) oder ein “Rapture”-ähnliches Ereignis
  • Das ist das trojanische Pferd. Die griechischen Krieger sind hier vor allem Informationen und Gedanken über Nachhaltigkeit, Artenerhalt, Umweltschutz – mit ein bisschen Menschheitsgeschichte auch hier und faszinierenden Fragen wie, was zum Beispiel mit der Megafauna, also den sehr großen Tieren, Nordamerikas passiert ist – sie wurden wahrscheinlich vom Menschen innerhalb weniger Jahrhunderte ausgerottet, weil sie anders als afrikanische Großtiere sich nicht gleichzeitig mit Menschen entwickeln konnten
  • Weisman besucht Orte auf der Welt, die noch besonders unberührt sind und schaut sich an, wie sich das Leben dort entwickelt hat, Orte, an denen die Menschen plötzlich verschwunden sind – demilitarisierte Zonen in Zypern und Korea oder Chernobyl – oder eben Orte, an denen die Menschen ganz besonders gewütet haben, z. B. den Panamakanal oder die sterbenden Korallenriffe im Pazifik
  • Es stecken jede Menge faszinierende Informationen und Anekdoten in diesem Buch, die nur sehr indirekt mit dem Verkaufsslogan zu tun haben
  • Aber, und das ist das coole, das heißt noch lange nicht, dass er nicht eingelöst wird: Immer wieder, meist am Ende von Kapiteln, nimmt Weisman sich dann doch ein ganz bestimmtes Szenario vor, zum Beispiel die Stadt New York oder die Ölraffinerien in Texas, und schreibt dieses in die Zukunft, beschreibt, was zuerst kaputtgeht, was nach wieviel Jahren wie aussehen wird, und was daraus folgt
  • Einer der Grundgedanken des Buches ist, dass man die Vergangenheit verstehen muss, wenn man sehen will, wie die Gegenwart und Zukunft aussehen könnten
  • Das ist also ein weiterer Punkt, der die beiden Bücher verbindet

Und hier ist die Podcastversion zum Anhören:

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