Wie Cloud Atlas das “Ende der Erzählungen” beendet

Screenshot © Warner Bros./X-Filme

Ein Gastbeitrag von Kilian Hauptmann

Kilian hat auf Twitter mal geschrieben, dass er was zum “Ende der Erzählungen” gemacht hat. “Klingt interessant”, meinte ich, “möchtest du einen Gastbeitrag schreiben?”. Und nur sechs Monate später schreibe ich diese Einleitung.

Kurze Warnung: Das hier ist wissenschaftlicher als der reguläre Tenor meines Blogs und Kilian ist Kultursemiotiker, eine Disziplin, um die ich normalerweise einen großen Bogen mache (Weiche, Christian Metz!). Kilians These vom Ende des Endes aber finde ich interessant, wie mich überhaupt die ganze Idee einer Post-Postmoderne fasziniert. Lesen lohnt sich also. Und folgt dem klugen Mann auf Twitter.

Film ist für mich ein Modus kultureller Selbstreproduktion: Eine Kultur kann immer nur das hervorbringen, was auch in ihr angelegt ist – sei es technisches Wissen, Ideologie, Machtstrukturen, Normen oder Werte. Filme reproduzieren dieses kulturelle Wissen. Sie stellen somit Artefakte einer Kultur dar, die sich untersuchen lassen, Speicher für kulturelles Wissen.

Mein Artefakt für diesen Artikel ist der Film Cloud Atlas von Tom Tykwer und den Wachowskis. Homosexualität, Transsexualität, Umwelt, Klone, Sklaverei, Medien, Macht(strukturen) – es gibt kaum etwas, das der Film nicht aufgreift. Das sind zwar alles Themen, die ganz und gar nicht neu sind und schon gar nicht revolutionär. Trotzdem finde ich etwas an diesem Film irritierend, etwas, das sich schlecht einordnen lässt, und genau das macht ihn für die Forschung interessant.

Das Ende der (großen) Erzählungen

Jean-François Lyotard postulierte 1979 in Das postmoderne Wissen das Ende der „großen Erzählungen“. Lyotard fasste unter diesen „Erzählungen“ Welterklärungsmodelle wie die Bibel oder die Systemtheorie auf, die in der Postmoderne mit einer zunehmenden Skepsis bedacht werden. Auch im Film lässt sich beobachten, wie sich sowohl diese Welterklärungsmodelle, als auch die Erzählungen selbst auflösen. Sie weisen unauflösbare oder unaufgelöste Rätselstrukturen auf, werden fragmentiert und verweigern jeden Sinn oder dekonstruieren „Sinn“ ganz offensiv.

Auch kulturelle Narrative, wie Familie, Ehe oder Liebe werden offen dekonstruiert. Die Texte (auch „Filmtexte“) sind in hohem Maße geprägt von intertextuellen Verweisen auf andere Texte und sind häufig selbstreferentiell, indem sie auf ihre eigene Konstruktion als „(Film)Text“ hinweisen. Filme und andere Kulturerzeugnisse wie die Beat-Literatur in den USA oder die Popliteratur der 60er Jahre in Deutschland werden so zu stark zeichenhaften Texten, die den Rezipient_innen einiges an kulturellem Wissen abverlangen.

Diese postmoderne Ästhetik hängt eng mit der ideologischen Konstruktion der Filme zusammen, ihrem Modell von „Welt“. Große Erzählungen weisen semiotisch betrachtet ein „transzendentales Signifikat“ auf, also eine Konzept, welches die Erzählung in ihrer inneren Logik konstituiert. Im Falle von Love Actually wäre dieses transzendentale Signifikat zum Beispiel „Liebe“ oder in Cloud Atlas „Schicksal“. Postmoderne Filme hingegen verweigern eine solche übergeordnete, die Welt gliedernde Struktur, was sie unter anderem durch die Fragmentierung ihrer Erzählung vermitteln. Auch haben die Protagonist_innen ein starkes Bewusstsein dafür, dass alles auch anders sein könnte (“Kontingenzbewusstsein”). Beinah scheint es, als würde das postmoderne Subjekt wissen, dass es nicht weiß, und ließe gerade deshalb klassische Verfahren der Sinnstiftung nicht zu.

Short-Cuts-Erzählung als „ideologische Hülle“

Als Erzählmodell dient dem postmodernen Film gerne die sogenannte “Short-Cuts-Erzählung”, bei der unabhängige Geschichten oder Handlungsstränge in kurze Segmente zerteilt, montiert und an bestimmten Knotenpunkten des Geschehens temporär zusammengeführt werden. Aus diesen Knotenpunkten kann wiederum weitere Handlung entstehen.

Ein Beispiel für einen postmodernen Short-Cuts-Film wäre natürlich der namensgebende Film Short Cuts von Robert Altman aus dem Jahr 1994, aber auch der viel bekanntere Pulp Fiction. Bei letzterem haben wir drei Erzählstränge, die miteinander nicht direkt verbunden sind, sondern jeweils eigenständige Geschichten erzählen, gleichwohl sie untereinander Ereignisse motivieren. Diese Ereignisse wiederum spielen für die einzelnen Erzählstränge keine weitere Rolle, sondern stellen nur eine oberflächliche Verbindung zwischen den Erzählungen her.

Pulp Fiction als postmoderner Film leitet aus der Kohärenz dieser Geschichten nun gerade keine sinnhafte, schicksalhafte Verbindung ab, sondern präsentiert sie als funktionslose Selbstreferenz auf die eigene Diegese. Gleichzeitig lässt sich auf der Ebene dessen, was erzählt wird, eine Dekonstruktion der „großen Erzählung“ beobachten. Die vermeintliche Bibelstelle Jules Winfields ist kein wirklicher Vers, sondern vielmehr ein kunstvolles Mashup verschiedener Bibelstellen, die sich Jules entgegen seiner Aussage vielleicht nicht ganz so exakt eingeprägt hat. Durch diesen Zynismus, eine Bibelstelle als Rechtfertigung für die Hinrichtung eines Kleinkriminellen zu verwenden, wird die Funktion der Bibel als sinnstiftende, moralische Leitlinie pervertiert und negiert.

Ästhetik ohne Ideologie

Während nun also die Short-Cuts-Erzählung für diese Filme dazu dient, eine fragmentierte, nicht sinnhafte Ordnung zu repräsentieren, verwenden andere Filme dieselbe Form um genau das Gegenteil in ihr Modell von Welt zu integrieren. Diese Filme übernehmen die postmoderne Ästhetik der 90er Jahre ohne ihre ideologischen Grundlagen – die Verweigerung von Sinn und die Annahme eines dissozierten Subjekts – zu übernehmen. Ein Film wie Love Actually weist eine im narratologischen Sinne fragmentierte Oberfläche nach dem Short-Cuts-Verfahren auf, besitzt aber im Gegensatz zu postmodernen Filmen ein transzendentales Signifikat („Liebe“), das die Fragmentierung durch eine den Film konstituierende Ordnung kohärent auflöst.

Ästhetische Verfahren der Postmoderne werden also für Filme benutzt, deren ideologische Grundlage durchweg konservativ ist. So zeigt etwa Michel Gondrys Film Eternal Sunshine of the Spotless Mind in jenen Sequenzen, in denen die Hauptfigur Joel Barish sich durch ihre eigenen Erinnerungen bewegt, eine auf mehreren Ebenen unklare Erzählsituation, in der Unsicherheit darüber besteht, ob das Erzählte der Wahrheit entspricht, oder ob eine Erzählinstanz, zum Beispiel Joels Psyche, das Erzählte manipuliert. Die eine oder andere Erzählinstanz greift sozusagen regelwidrig in die andere über – die für die Postmoderne so typische “Metalepse”. Hinzu kommt, dass der Film gerade auf Ebene der Binnenhandlung nicht chronologisch erzählt wird, sondern scheinbar willkürlich.

Der Film präsentiert also eine im wesentlichen postmoderne Ästhetik, installiert insgesamt aber ein kohärentes Weltbild. Denn die Fragmentierung der Oberfläche wird letztlich aufgelöst: Die naturalisierte, orts- und zeitunabhängige Liebe von Joel und Clementine führt die beiden am Ende des Films wieder zusammen. Trotz der vergessenen gemeinsamen Vergangenheit verlieben sich die beiden erneut: „Liebe“ dient in Gondrys Film also als transzendentale, übergeordnete Struktur, durch die das postmoderne Subjekt die Fragmentierung aufheben kann.

Medialität als Sinnstiftung

Cloud Atlas treibt diese Entwicklung auf die Spitze. Auf filmtechnisch und narratologisch bewundernswerte Weise nutzt der Film alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel, um eine übergeordnete, das Modell von Welt konstituierende Ordnung zu etablieren. In Cloud Atlas dient die Fragmentierung der Erzählung nicht mehr der Ästhetik einer fragmentierten Wirklichkeit, wie dies in der Postmoderne der Fall ist. Vielmehr dient das Short-Cuts-Verfahren selbst der Sinnstiftung: Erst durch die Medialität des Films wird den Zuschauer_innen eine kontingente Repräsentation einer Wirklichkeit, also eine andere mögliche Sicht der Dinge offengelegt. Die Erzähloberfläche, also das, wie erzählt wird (discours), ist so strukturiert, dass es die Geschichte selbst überlagert, also das, was erzählt wird (histoire). Anders gesagt: Erst durch das Erzählverfahren wird die Erzählung überhaupt erst möglich.

Eine Schlüsselszene in der Mitte des Films zeigt, wie die Struktur der Erzählung selbst eine erzählerische Funktion einnimmt. In dieser Szene verlässt die Kamera das einzige Mal vollständig die Hauptfigur der Episode, Luisa Rey, und zeigt den Protagonisten einer anderen Zeitebene, Isaac Sachs, wie er Notizen verfasst, die gleichzeitig von ihm vorgelesen aus dem Off zu hören sind. Das Bild führt Währenddessen entweder die Handlung der Episode fort oder stellt die Aussage des Off-Sprechers in einen Sinnkontext. Es greifen also auditiver und visueller Kanal ineinander über und erweitern den Informationsgehalt beider Kanäle. Die Kooperation von Text und Bild führt dazu, dass die einzelnen Kanäle mehr Bedeutung erhalten, als sie für sich alleine eigentlich transportieren würden. In der Zeichenlehre spricht man hier von einer „sekundären Semiotisierung“, also einer zweiten Bedeutung, die zur ersten hinzugefügt wird. Dadurch wird es möglich, dass in Cloud Atlas durch die Erzählform die eigentlich völlig unabhängigen Geschichten wieder kohärent zusammengefügt werden.

Die primären Vermittlungsfunktionen der einzelnen Kanäle, welche die primäre Semiotisierung und Bedeutungskonstitution übernehmen, werden durch die Auflösung der bisherigen Erzählinstanzen zueinander in Bezug gesetzt und auf diese Weise sekundär semiotisiert. Im konkreten Fall kooperieren gleich vier verschiedene auditive Kanäle miteinander; (a) der diegetische on-track Ton, also beispielsweise die Flugzeuggeräusche, (b) Off-Filmmusik, die (c) in eine an einem Flügel gespielte on-track „Filmmusik“ transformiert und anschließend mit dem diegetischen Ton in Kongruenz gebracht wird, sowie (d) ein per voice-over aus den Off präsentierter innerer Monolog, also der von Isaac Sachs verlesene Tagebucheintrag.

Diese auditive Ebene, die in sich selbst schon verwoben ist, eine zusätzlich zeichenhaft analysierbare Struktur aufbaut und damit auch erzählend ist, kooperiert nun mit der visuellen Ebene und versieht die einzelnen Episoden über ihre klassische filmische Bedeutungskonstituierung hinaus mit zusätzlicher Bedeutung. Wenn der Off-Sprecher Isaac Sachs sagt: „Kräfte, die Zeit und Raum neu definieren“ und dabei Robert Frobisher beim Komponieren gezeigt wird, setzt der Film natürlich eine Verbindung zwischen diesen Kräften und Frobishers Komposition. Es findet also eine „regelwidrige“ Überschreitung einzelner Kanäle statt. Sachs sagt durch seinen Monolog nicht mehr nur etwas über sich und seine Welt aus, sondern gleichzeitig auch etwas über die von Robert Frobisher, Son-Mi 451 und die anderen Charaktere, die zu sehen sind.

Die ideologische Grundidee des Films, nämlich dass alles zusammenhängt, kann also nur durch die Erzählform zustande kommen. Filmwissenschaftlich interessant ist dabei, dass die Medialität des Films es durch die Montage erlaubt, den discours als Sinnstiftungsinstanz zu installieren. Der Schnitt dient als Modus des tertium comparationis – „Alles ist verbunden“ (was auch der Untertitel der deutschen Fassung des Films ist). Dies wird entweder dadurch realisiert, dass ähnliche Erzählungen, etwa über Sklaverei, ähnliche Erzählstrukturen (Gefangenschaft-Freiheit) und ähnliche (diegetische) Orte hintereinander geschnitten werden oder sich Informationskanäle überlappen.

Die Struktur wird selbst erzählend

Zusammengefasst heißt das also: Durch die medienspezifische Montage der verschiedenen Kanäle sowie auf narrativer Ebene durch die Erzählstruktur, wird die Struktur selbst erzählend. Im Gegensatz zur Romanvorlage ist die Form der Erzählung für den Film sehr viel wichtiger: Die Geschichte entwickelt sich nicht nur dadurch, was erzählt wird, sondern auch wie sie erzählt wird. Es ist für den Film also wichtig, dass er ein Film ist: Das Nach- und Voreinander von Szenen, sich überlagernde Episoden, ist für die Geschichte des Films entscheidend. Er führt den Zuschauer_innen durch seine durchaus auch totalitäre Form eine mögliche Realität vor.

Verabsolutiert der Film also nur eine mögliche Wahrnehmung der Wirklichkeit und stellt einen Zusammenhang zwischen zwei Dingen her, die nicht zwangsläufig gegeben sein müssen? Diese Frage lässt sich schnell mit „Ja“ beantworten, indem man zu den großen Erzählungen zurückkehrt: Denn Cloud Atlas propagiert eine solche große Erzählung, er stellt ein Welterklärungsmodell für scheinbar zufällige Ereignisse zur Verfügung.

Im Gegensatz zu Cloud Atlas weist Pulp Fiction durch seine ästhetischen Verfahren ständig auf die eigene Konstruktion als Film hin und unterläuft die oberflächliche Verbindung der Segmente, sodass der Gesamtfilm keine kohärente Erzählung darstellt.

Bei Cloud Atlas ist diese Verbindung der einzelnen Episoden sowohl durch das Erzählverfahren als auch durch das zugrunde liegende transzendentale Konzept des „Schicksals“ gewährleistet. Auf diese Weise wird die postmoderne Ästhetik der 1980er und 1990er Jahre metaphysisch gewendet und beendet das Ende der großen Erzählung, indem sie das Narrativ des Schicksals wieder aufgreift. Das ist nun insofern bemerkenswert, als dass sich hier vielleicht eine Rückwendung zu den „großen Erzählungen“ erkennen lässt. Die „großen Erzählungen“ werden in Cloud Atlas dabei durchaus in aktualisierter Form wiedergegeben, indem wir ein buntes Potpourri an religiösen Vermischungen wie etwa der klassischen Erlöserfigur Son-Mi 451 (Christentum) und Reinkarnationsglauben (Hinduismus) wiederfinden.

Daraus lässt sich ableiten, dass der Mensch in Cloud Atlas und anderen Filmen wieder nach Antworten auf die fragmentierte Welt sucht und die Sinnlosigkeit des postmodernen Menschen nicht akzeptieren möchte. Cloud Atlas ist dabei ein paradigmatischer Film, der die Fragmentierung selbst auf allen Ebenen thematisiert und gleichzeitig eine – ideologisch sicherlich nicht immer unproblematische – Lösung für das postmoderne Subjekt anbietet.

Die Missverstandenen. Das Kino der Wachowskis.

© Warner Bros.

Jupiter Ascending

Ich habe bis zum letzten Drittel von Jupiter Ascending gebraucht, bis ich mir sicher war. Dort wird ein Charakter gefoltert, und zwar, indem sich ihm auf einer Streckbank eine Maschinerie nähert, wie sie ineffektiver nicht sein könnte. Viele kleine Zahnräder, Klingen und Sägeblätter an mechanischen Ärmchen bewegen sich auf das Gesicht der Figur zu – ungefähr so, wie sich ein zehnjähriges Kind die Foltermethoden eines Bösewichts vorstellt. Also logisch: wer immer das hier inszeniert hat, kannn das alles gar nicht ernst meinen.

Ich hätte mir auch schon früher sicher sein können, an den dutzenden Stellen, wo Jupiter Ascending jeden Anspruch auf “ernsthafte” Science Fiction aufgibt und sich voll und ganz Elementen von Farce und Groschenheftromanze oder einfach nur dem Gefühl hingibt, eines Nachts alleine im Spielparadies eingesperrt zu sein und die epischste, grenzenloseste Geschichte aller Zeiten zu spielen, ohne dass einem jemand reinredet.

© Warner Bros.

Jupiter Ascending

Mit Terry Gilliam ist eigentlich alles gesagt

Als Mila Kunis’ Jupiter Jones entschieden hat, dass sie den königlichen Familienanspruch antreten will, von dem ihr Channing Tatums Wolfmensch-“Splice” erzählt hat, muss sie sich in der Hauptstadt des galaktischen Reiches durch eine absurde Bürokratielawine kämpfen, um am Ende von einem nur entfernt menschlichen Wesen ihre Beurkundung abzuholen. Gespielt wird dieser Notar von Terry Gilliam. Und damit ist eigentlich alles gesagt.

Wären die Dinge nur ein wenig anders gelaufen, Andy und Lana Wachowski könnten heute auch Terry Gilliam sein. Filmemacher, deren waghalsige Fabeln von der Liebe zur “Weirdness” und von ihrem Einfallsreichtum leben, von der Transgression und von dem Gefühl, etwas zu sehen, was man als Zuschauer niemals ganz durchdringen wird. Und deren Filme es gleichzeitig extrem schwer haben würden, überhaupt zu entstehen, weil jeder Finanzmensch weiß, dass sie kaum massenmarkttauglich sind.

Das explosive Zeitgeistgemisch

Bound, der erste Film der Wachowskis, war so ein Film. Klein, übersehbar, schon allein durch seine homosexuelle Lovestory mit BDSM-Einschlag irgendwie grenzüberschreitend, aber eindeutig mit einer starken Autor_innenstimme gesegnet. Doch dann schufen die Geschwister The Matrix und damit einen der wichtigsten und größten Blockbuster des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der Cool und Weird auf so explosive Weise zu einem Zeitgeistgemisch verband, dass ihnen in der Folge so ziemlich alles zugetraut wurde.

Darin liegt der Fehler, und das ist auch der Grund, warum man vielen Filmliebhabern (inklusive mir) über die letzten 15 Jahre langsam dabei zuschauen konnte, wie sie von Wachowski-Fans zu Wachowski-Apologeten werden mussten. Die Wachowskis sind keine Blockbuster-Filmemacher. Sie sind Underground-Künstler mit einem eigentlich sehr beschränkten Rezipientenkreis, die sich durch den Matrix-Erfolg eher zufällig den Blockbuster mit neunstelligem Budget als ihr Medium ausgesucht haben.

Was zur Hölle haben sie sich gedacht?

Lange war die Frage “Was zur Hölle haben die sich eigentlich dabei gedacht?” nur schwer zu beantworten, weil die Geschwister notorisch öffentlichkeitsscheu waren und sich weigerten, ihre Filme zu erklären. Erst als sie für ihr Herzensprojekt Cloud Atlas 2013 an der Seite von Tom Tykwer ihre Fördergelder rechtfertigen mussten, wagten sie sich regelmäßig vor Mikrofone, und wenn man ihnen zuhört merkt man, dass hier ganz bestimmt keine abgebrühten Hollywood-Business-Faschisten am Werk sind wie Zack Snyder, auch keine einfachen Kellerkind-Nerds, denen man endlich den streng kontrollierten Schlüssel zur Franchise-Schatzkiste gegeben hat wie Joe und Anthony Russo, sondern Gegenkultur-Ästheten, die es irgendwie schaffen, immer wieder Mäzene zu finden, die bereit sind, ihnen große Summen Geld zu geben, um ihre wahnwitzigen Pop-Art-Projekte umzusetzen.

Mit diesem Wissen muss man alle ihre Filme, insbesondere aber alle Filme nach The Matrix lesen. Die beiden Matrix-Sequels Matrix Reloaded und Matrix Revolutions sind in dem Sinn keine Filme, sie sind Teil eines megalomanischen Worldbuilding-Projekts, das die Grenzen zwischen Film, Videospiel, transmedialer Rhizom-Erzählung und Medienkunst-Installation bewusst verschwimmen lässt.

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Matrix Reloaded

Das sind keine Filme

Deswegen wirken einige der spektakulären Setpieces aus den beiden Filmen eher wie Videospiel-Level, deswegen gibt es mehrere Charaktere, die keine klare Funktion im Voranschreiten des Plots zu erfüllen scheinen, deswegen endet Reloaded in einem gigantischen Cliffhanger, dessen philosophische Implikationen in Revolutions niemals wirklich aufgelöst werden. Das sind keine Filme, es sind sehr teure poststrukturalistische Meditationen – und ähnlich wie in weniger teuren poststrukturalistischen Meditationen der Vergangenheit kann man sich dabei nicht immer sicher sein, ob dahinter wirklich Substanz steckt oder der einfache Versuch, die Grenzen des Behauptbaren auszutesten.

Speed Racer, Film drei nach Matrix, ist eine der besten Übersetzungen des Zeichensystems und der Kinetik japanischer Comic- und Trickfilmkultur in den westlichen Realfilm, die man jemals sehen wird. Man muss die Rennszenen aus Speed Racer nur mit denen aus einem Streifen wie Rush vergleichen, um zu merken, welcher Film die Essenz eines Hochgeschwindigkeitsrennens wohl besser verstanden hat. Bei den Wachowskis werden Autorennen zu einer Metapher einerseits für einen brutalen Gladiatorenkampf, andererseits für den Eintritt in eine andere Welt ähnlich der Stargate-Sequenz am Ende von 2001: A Space Odyssey.

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Speed Racer

Die Überschreitung aller Regeln

Die simplistischen, bonbonfarbenen Szenen, die diese Rennen verbinden, die man kaum Handlung nennen kann und die nicht im herkömmlichen Sinne von “runden” Charakteren bevölkert werden, dienen nur dazu, die Überschreitung aller Kinoregeln irgendwie narrativ zu legitimieren. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Vorlage für Speed Racer eine japanische Nachmittagsserie namens “Mach Go Go Go” ist, und dass im japanischen Mediensystem andere Regeln gelten als in Hollywood, wie etwa Henry Jenkins im Interview mit Ian Condry und Mark Steinberg herausgearbeitet hat.

John Gaeta, mit dem die Wachowskis im Visual-Effects-Bereich seit The Matrix immer wieder zusammengearbeitet haben, war 2008 mit Speed Racer auf dem Frankfurter eDIT-Festival zu Gast und ich erlebte, wie er sich einem fast schon feindseligen Publikum stellen musste, von dem er sich grundlegend missverstanden fühlte. Verzweifelt versuchte Gaeta zu verteidigen, dass es beim Filmemachen manchmal um mehr gehen sollte, als nur um eine zufriedenstellende Erzählung, nämlich um neue Arten sich künstlerisch auszudrücken, manchmal auch jenseits des Erklärbaren. Man kann daher Speed Racer, ähnlich wie den Matrix-Sequels, vorwerfen, dass er kein guter Hollywood-Film ist, ein Erlebnis ist er aber allemal.

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Speed Racer

“Zweimal alles, bitte”

Cloud Atlas, mit dem sich die Wachowskis gemeinsam mit Tom Tykwer 2012 nach einer längeren Pause zurückmeldeten, ist deutlich zugänglicher als Speed Racer, aber ein A-bis-Z-Film ist er deswegen noch lange nicht. Wichtiger als die einzelnen Handlungsstränge der sechs Erzählungen aus David Mitchells Matrjoschka-Roman, die der Film verwebt und selbst wichtiger als die universelle Message von Befreiung, Zeitenwende und Läuterung, die Cloud Atlas vor sich herträgt, scheint es den Filmemachern auch hier wieder zu sein, möglichst viele Elemente in ein einzelnes Gesamtkunstwerk zu packen.

“Zweimal alles, bitte”, scheint Cloud Atlas zu sagen, wenn er Postapokalypse, Kolonialismus, Science-Fiction, Romanze, Farce, Thriller, Spiritualität, ethnische und Geschlechteridentität und musikalische Philosophie in einen Drei-Stunden-Film presst. Mich persönlich hat dieser schillernde, sich ständig verändernde Rubikswürfel von einem Kinoprojekt extrem angesprochen, mit seinen Hollywood-Stars, die hinter den platonischen Ideen ihrer Charaktere zu verschwinden versuchen, doch vielen anderen Kritiker_innen war auch Cloud Atlas in seiner In-Your-Face-ness, die er trotz seiner vielen Ebenen besitzt, irgendwie zu flach.

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Cloud Atlas

Eine Verschwendung von 175 Millionen Dollar

Es ist dieser Vorwurf der letztendlichen Flachheit, die sich auch Jupiter Ascending wieder gefallen lassen muss. Der kritische Konsens, sowohl unter Filmkritiker_innen als auch beim Publikum scheint zu sein, dass Jupiter Ascending extravagant designt ist und sehr viel Spaß machen kann, wenn man ihn nicht ernst nimmt (wie er ja – siehe oben – meiner Meinung nach auch nicht verstanden werden will), aber letztendlich einfach auch irgendwie eine völlig behämmerte Verschwendung von 175 Millionen Dollar darstellt.

“We’re sort of oddities in that we keep making original movies”, sagt Lana Wachowski im Interview mit dem “L.A. Times”-Blog “Hero Complex”. Kommentator_innen haben ihr und ihrem Bruder längst vorgeworfen, dass Jupiter Ascending wohl kaum ein echtes “Original” sei, da es sich schamlos an allem bedient, was vor ihm kam, nicht zuletzt auch an The Matrix. Der wahre Punkt, auf den sie hinauswill, aber liegt im zweiten Teil ihrer Aussage, in dem sie feststellt, wir seien heute “more excited about a story we know the ending to” – wie das zunehmende Zurückgreifen von Hollywood auf Quellen, die sich bereits bewährt hätten, beweise.

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Jupiter Ascending

Die Legitimation der Missverstandenen

Die zentrale Frage ist, ob es wirklich genug ist, wenn sich Andy und Lana Wachowski und diejenigen, die ihre Arbeit schätzen, auf die Position der “Missverstandenen” zurückziehen. Brauchen Filme, die so viel Geld kosten und sich in vielerlei Hinsicht eben auch den Anstrich von Hollywood-Blockbustern und nicht von exzentrischen Kunstprojekten geben, eine Legitimation durch den Massenmarkt? Oder besitzen sie nur dann ein Existenzrecht, wenn sie besser ins Bild des kämpfenden Auteurs passen wie bei Gilliam oder den beiden Davids Lynch und Cronenberg, dessen eXistenZ gerne als die “bessere” Matrix-Verfilmung bezeichnet wird?

In jenem filmischen Barock, in dem wir uns zurzeit befinden, sollten meiner Ansicht nach auch die Wachowskis einen Platz finden können, hinter deren ästhetischen Vexierspielen sich manchmal vielleicht nicht unbedingt eine tiefere Wahrheit versteckt. Vielleicht ist das neugeborene Fernsehen, in dem sie als nächstes die Serie Sense8 auf die Welt loslassen, inzwischen eher ihr Medium. Wir werden sehen, was am Ende der Matrix wartet, wo der “Architect” es vielleicht immer noch am besten ausgedrückt hat:

Your life is the sum of a remainder of an unbalanced equation inherent to the programming of the matrix. You are the eventuality of an anomaly, which despite my sincerest efforts I have been unable to eliminate from what is otherwise a harmony of mathematical precision. While it remains a burden to sedulously avoid it, it is not unexpected, and thus not beyond a measure of control.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er dabei von Neo oder von den Wachowskis spricht.

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Cloud Atlas