Wie Magic: The Gathering den Transmedia-Code knackte

Diesen Talk durfte ich auf der re:publica 2019 halten, die das Motto “tl; dr” hatte. Dies sind meine Vortragsnotizen. Das gesprochene Wort im Video weicht leicht davon ab. Meine Präsentation ist ebenfalls online. Auf der Seite der re:publica kann man den Programmtext lesen.

Ich möchte mit einer Frage beginnen. Kennt jemand diesen freundlichen jungen Mann? Das ist der Italiener Andrea Mengucci.

Andrea spielt professionell das Kartenspiel “Magic: The Gathering”, hat im März das erste große “Mythic Invitational”-Turnier gewonnen und ein Preisgeld von 250,000 Dollar eingesackt – zusätzlich zu den 75,000 Dollar Jahresgehalt, die er als Spieler der “Magic Pro League” erhält.

Und wie sieht’s mit dieser sympathischen Figur aus?

Das bin ich, im Jahr 1997. Und damals war ich wahrscheinlich ähnlich besessen von Magic wie Andrea heute.

Dieses Spiel – Magic: The Gathering – ist wirklich schon so alt, dass es Andrea und mich verbindet.

Es wurde 1993 von dem Mathematiker Richard Garfield erfunden, der diese Idee hatte, dass ein Spiel “bigger than the box” sein könnte. Magic ist eben nicht nur ein Kartenspiel, es ist ein Sammelkartenspiel.

Man kauft die Karten in zufällig sortierten Packungen und konstruiert sich aus den Karten, die man erhält, sein eigenes Kartenspiel, mit dem man gegen andere antritt, die das gleiche getan haben.

Ein Vorteil dieses Systems ist, dass man das Spiel stetig erweitern kann. In den jetzt 26 Jahren, die es besteht, sind für Magic 81 reguläre Erweiterungen erschienen, plus dutzende weitere Sets und Editionen, im Moment erscheinen rund vier reguläre neue Erweiterungen pro Jahr, die jüngste, “War of the Spark”, an diesem Wochenende.

Es gibt über 20.000 unterschiedliche Karten inzwischen

Inzwischen ist Magic auch ein recht beliebter E-Sport. Andrea Mengucci und seine Kollegen spielen einen großen Teil seiner Spiele auf der Plattform “Magic Arena”. Das Spiel hat viele Fans weltweit, 2015 waren es wohl etwa 20 Millionen, aber ein Mainstream-Phänomen ist es trotzdem nicht – es bleibt ein nischiges Nerdhobby.

Ich habe Magic nach dem Abi 2001 für lange Zeit ziemlich aus den Augen verloren, aber vor zwei Jahren habe ich ein neues Hobby gesucht – und obwohl ich erst zaghaft wieder angefangen habe, hat das Spiel sehr schnell einen Sog entwickelt und jetzt ist es schon wieder kein Hobby mehr, denn ich stehe ja hier und halte einen Vortrag darüber.

Was mich nämlich als Medienwissenschaftler und Kommunikationsmensch überrascht hat, als ich wieder angefangen habe, und mich eingelesen hatte ist, wie gut Magic in Transmedia Storytelling geworden ist.

Der Begriff ist relativ selbsterklärend, aber hier noch mal die Definition von seinem größten Propheten Henry Jenkins:

“Transmedia storytelling bezeichnet einen Prozess, in dem integrale Elemente einer Fiktion systematisch über mehrere Ausspielkanäle verteilt werden, mit dem Ziel, ein einheitliches und abgestimmtes Unterhaltungserlebnis zu erschaffen. Idealerweise trägt dabei jedes Medium etwas Einzigartiges zur Entfaltung der Geschichte bei.”

Henry Jenkins

Das ist sozusagen eine Idealdefinition, relativ eng gefasst. Jenkins hat sie selbst mehrfach aufgebrochen und sieht sie keinesfalls als dogmatisch.

Prominenteste Beispiele für Transmedia Storytelling finden sich heute vermutlich in den großen Fantastik-Franchises wie dem Marvel Cinematic Universe, das über Kinofilme, Fernsehserien und Comics hinweg erzählt wird oder Star Wars – dort gibt es Kinofilme, Comics, Romane und Videospiele.

Transmedia Storytelling galt mal eine Weile so als der Heilige Gral modernen Geschichtenerzählens, weil es wirklich cool ist, wenn es funktioniert, aber in seiner puren Form auch wirklich schwierig gut zu machen ist.

Ich will also, dass über mehrere Medien hinweg eine Geschichte erzählt wird. Das heißt auch: Ich will diejenigen belohnen, die sich die Mühe machen, alle Teile dieser Geschichte über die verschiedenen Medien hinweg zu verfolgen. Die sollen einen Mehrwert davon haben, ein umfassenderes Bild, vielleicht einen Blick auf die Dinge, der anderen fehlt.

Aber ich will auch diejenigen mitnehmen, die sagen TL; DR – ich habe keine Lust, eine Geschichte über mehrere verschiedene Formate hinweg zu verfolgen und zum Beispiel das Ende nur zu erfahren, wenn ich nach meinem Kinobesuch noch ein Buch lese. Die sind nämlich das Gros, und die bringen im Zweifelsfall auch das Geld.

Am besten sollte es auch noch egal sein, wo ich anfange. Also es sollte keine festgelegte Reihenfolge geben, in der ich die Medien konsumieren MUSS und wenn ich als weniger investierter Konsument anfange, sollte ich die Möglichkeit haben später nachzurüsten sozusagen. Jenkins spricht von “rabbit holes”, von Kaninchenlöchern, die überall verteilt sind und wo man halt gucken kann, wie tief man hineinkriecht.

Und trotz all dieser Einschränkungen, sollte eben trotzdem ein einheitliches Bild entstehen, keine Widersprüche usw. – nicht zu viel Wildwuchs.

Wie schwierig das ist, kann ich mal kurz an den beiden Beispielen zeigen, die ich eben genannt habe. Im Marvel Cinematic Universe war die Serie Agents of S.H.I.E.L.D. anfangs relativ eng an die Kontinuität der Kinofilme angedockt.

Als in Captain America: Winter Soldier plötzlich enthüllt wird (SPOILER), das SHIELD von der bösen Organisation HYDRA unterwandert worden ist, war es tatsächlich so, dass zur gleichen Zeit als der Film ins Kino kam, die gleiche Plotwendung auch in der Serie ausgefochten wurde.

Das war aber sozusagen plotlogistisch gleichzeitig so komplex und anscheinend im Payoff trotzdem irgendwie nicht krass genug, dass es das letzte Mal war, dass die beiden Medien so eng zusammenarbeiten. Inzwischen existieren die Marvel-Kinofilme und die Marvel-Serien zwar immer noch nominell im gleichen Universum, was man vor allem daran sieht, dass gelegentlich Charaktere aus dem einen im anderen auftauchen, aber davon abgesehen erzählen sie eigentlich separate Geschichten.

Bei Star Wars ist es noch krasser. Hier wurde über drei Jahrzehnte ein sogenanntes “Expanded Universe” aus hunderten Büchern und Comics aufgebaut, in denen sich diverse Autoren über sehr lange fiktive Zeiträume auch austobten, aber als die neuen Kinofilme vor ein paar Jahren in den Startlöchern standen, entschied man sich bei der Produktionsfirma Lucasfilm, alles bisher Erschienene mit Ausnahme der Filme aus dem Kanon zu streichen und zu “Legenden” zu machen. Es wäre einfach zu komplex gewesen, und hätte den neuen Filmen keinen Raum mehr zum Atmen gelassen.

Dafür ist Star Wars jetzt aber ebenfalls ein ziemlicher Transmedia-König – die verschiedenen TV-Serien, Comics, Romane und natürlich die Filme sind eng aneinander angebunden und bieten eigentlich genau das, was Jenkins definiert.

Star Wars brauchte dafür aber diese Tabula Rasa, als 2015 die neuen Filme kamen. Magic hingegen, beziehungsweise das Unternehmen Wizards of the Coast, das das Spiel herstellt, hat über 25 Jahre immer wieder aufs Neue probiert, sein Transmedia Storytelling auf die Reihe zu kriegen.

Mark Rosewater, der seit vielen Jahren der Head Designer von Magic ist, betont immer wieder, wie wichtig Iteration für den Designprozess ist. Und das finde ich das Faszinierende daran. Wir können uns heute im Rückblick diesen iterativen Prozess anschauen und nachvollziehen, was sie versucht haben, wo sie gescheitert sind und was sie gelernt haben – bis sie heute, wie ich finde, an einem Punkt angekommen sind, wo es wirklich gut funktioniert.

Fangen wir mal damit an, wie man bei einem Kartenspiel überhaupt dazu kommt, eine Geschichte zu erzählen.

Als Magic entstand, hatte es eigentlich gar keine Geschichte, es hatte nur diese Spielidee von sich duellierenden Magiern, was aber ja eigentlich auch nur ein stimmungsvoller Anstrich für ein Regelkonzept ist. Aber es war auch nicht total generisch.

Also wenn wir uns eine typische Karte aus der Zeit anschauen – die hätte ja auch einfach nur “Elves” heißen können, aber es sind eben Llanowar Elves, offenbar eine sehr kriegerische Elfenart, das zeigt auch das Bild und dieser sogenannte “Flavor Text” in kursiv, der keine Regelbedeutung hat.

Solche Andeutungen von einer größeren Welt hinter den Karten gab es auf vielen Karten und irgendwann hat sich dann auch mal jemand hingesetzt und diese Andeutungen zu einer Welt und auch einer groben Geschichte zusammengesetzt.

Also es gab die Karten “Ankh of Mishra” und “Glasses of Urza”.

Und als die Erweiterung “Antiquities” designt wurde, entschieden die Designer das Urza und Mishra Brüder waren, die gegeneinander Krieg führten – und deuteten das dann wiederum im Flavor Text an.

Gleichzeitig hatte Magic, dieses neue Spielprinzip, aber auch kurzzeitig so etwas wie Mainstream-Erfolg und Wizards lizensierte die Magic-Marke an Verlage, die Bücher und Comics herausgaben. Die Autoren dachten sich aber wiederum eigene Geschichten aus, die höchstens mal einzelne Karten referenzierten. Ein Buch über den Krieg zwischen Urza und Mishra gab es zum Beispiel nicht.

Also: Transmedia Storytelling, Fehlanzeige

Die zweite Iteration beginnt Ende der 90er. Hier wurde parallel zum Set “Visions” eine Reihe von Charakteren eingeführt, die Besatzung eines fliegenden Schiffs namens “Weatherlight”, das fortan Abenteuer in Magics Multiversum erleben sollte.

Gleichzeitig wurde die Buchproduktion von Wizards of the Coast ins Haus zurückgeholt, und ab 1999 erschienen die Romane – geschrieben von freien Autoren – begleitend zu den Sets. Zum Teil sogar nachträglich – und es gab endlich einen Roman zum “Brother’s War”.

Allerdings waren die Produktionszyklen von Romanen und Karten so unterschiedlich und weiterhin so wenig aufeinander abgestimmt, dass sich irgendwie kein einheitliches Gefühl einstellen wollte.

Der damalige Kreativchef Brady Dommermuth fasste das mal so zusammen:

“Allgemein liefern die Karten die Welt, in der die Romane spielen, und die Romane liefern manchmal Charaktere, die auf Karten zu sehen sind. Aber Karten führen auch eigene Charaktere ein, die nicht in den Romanen auftauchen. Kurz gesagt arbeiten das Magic Kreativteam und die Romanautor*innen größtenteils parallel und informieren einander so viel wie möglich.”

“Wir informieren uns so gut es geht.” Klingt von einem Transmedia-Standpunkt eher nach “Er hat sich stets bemüht.” Und so sind wohl auch die meisten Romane aus dieser Zeit. Für Fans, die sich wirklich für die Geschichte interessieren, ist die Tatsache, dass das irgendwie nicht zusammen passt, ein endloser Grund für Frust.

Für die anderen ist es aber auch nicht besser: Die Charaktere tauchten ständig auf den Karten, in Bildern und Flavor Text auf, aber da man ja diese Karten zufällig bekommt und nicht in irgendeiner Art chronologisch spielt, muss man schon sehr stark auf die Suche gehen, um irgendwie einen Eindruck davon zu bekommen, was die Geschichte sein soll, die hier erzählt wird.

Dieses Parallelsystem war trotzdem ziemlich lange der Status Quo. Irgendwann aber hatte der eben schon erwähnte Brady Dommermuth die Idee, die im Endeffekt zur dritten Iteration führte: Was wir brauchen sind Figuren, die ein bisschen außerhalb des Spiels stehen, mit denen sich die Spieler identifizieren können.

Deswegen gab es 2007 erstmals sogenannte Planeswalker, ein völlig neuer Kartentyp mit Charakteren, die die Macht haben, zwischen den verschiedenen Welten, auf denen Magic spielt, hin und her zu wandern. Im Endeffekt wie die Spieler.

Doch obwohl es plötzlich diese durchaus auch populären Charaktere gab, gelang es Wizards einfach nicht, die Spieler für die parallel produzierten “Planeswalker Novels” zu begeistern, auch nicht für die Ebooks, die man dann stattdessen versuchte zu produzieren.

Deswegen versuchte man es schließlich 2015 noch einmal mit so einer Art Neustart und einer neuen Distributionsstrategie.

Man kombinierte ein Team aus beliebten jungen Planeswalkern, die bereits in den bisherigen Sets aufgetaucht waren, mit Kurzgeschichten, keinen ganzen Romanen, die In-House von Mitgliedern des Creative Teams geschrieben wurden.

Und diese Geschichten wurden kostenlos auf der Magic Website veröffentlicht. Und plötzlich wurden sie besser gelesen als je zuvor.

Auf den Karten wurden wiederum wurden nur noch wenige Schlüsselmomente aus den Geschichten abgebildet, die als “Story Spotlights” mit einem Symbol markiert sind. Unten rechts in der Ecke steht die URL mtgstory.com – auf dieser Website finden sich dann die Kurzgeschichten. Die restlichen Karten im Set schmücken wie bisher die Welt aus.

Diese Mischung schien endlich zu funktionieren.

  • Die Spieler kennen ihre Charaktere, weil sie mit ihnen spielten.
  • Wichtige Momente finden sich auf den Karten wieder und nicht so stark in die Story investierte Spieler bekommen dennoch einen groben Eindruck
  • Wer mehr erfahren will, kann niedrigschwellig und kostenlos im Internet genau erfahren, wie die Geschichte weitergeht
  • Weil der Geschichtsprozess Teil des Kartendesignprozesses ist, gehen die beiden Welten endlich Hand in Hand. Inzwischen funktioniert es sogar wieder mit externen Autoren ganz gut

Aber das beste ist – das hätte ich mir nicht mal träumen lassen können, als ich diesen Talk eingereicht habe – dass sich diese Iteration dieses Jahr so richtig auszahlt. Das aktuelle Set nämlich, das gerade erst dieses Wochenende erschienen ist, erzählt fast ausschließlich Geschichte – was nur mit dem momentanen Modell möglich ist.

“War of the Spark” ist jetzt dieses Wochenende erschienen und bildet den Abschluss eines zweijährigen Plotbogens. Eine Art Avengers: Infinity War” von Magic. Alle Planeswalker treffen sich auf einer Welt und kämpfen gegeneinander und gegen einen Oberbösewicht, den fiesen Drachenplaneswalker Nicol Bolas.

Anders als in anderen Sets steht hier nicht irgendeine spannende Welt im Hintergrund, die bestimmte EIgenschaften hat, sondern wirklich die Geschichte und die Figuren, die über Jahre etabliert wurden. Die Designer selbst nennen es ein “Event Set”.

Die Karten wurden in Story-Reihenfolge enthüllt. Die Story-Spotlights haben Akte. Und plötzlich solche Kommentare:

Zusätzlich zu den kostenlosen Geschichten gibt es auch wieder einen Roman, der kräftig beworben wird. Sie versuchen es also noch einmal, aber diesmal könnte es funktionieren, weil sich die Spieler tatsächlich für die Geschichte interessieren!

Das zeigt sich unter anderem daran, dass sogar einige professionelle Spieler – leider nicht Andrea Mengucci, das wäre ein zu schöner geschlossener Kreis gewesen, aber immerhin zum Beispiel Jon Finkel, einer der dekoriertesten Spieler aller Zeiten, die sich für’s gewinnen sonst natürlich nie für die Story interessieren, haben gesagt: Jetzt möchten sie doch mehr wissen.

Natürlich sind nicht alle zufrieden. Es gibt auch immer noch genug zu kritisieren. Das Buch zum Beispiel hat viel Plot und wenig Tiefe. Aber insgesamt kann das Ganze schon als Erfolg gewertet werden. Mit den Karten zu spielen fühlt sich wirklich an, als würde man Geschichte erleben.

Hätte man an diesem Punkt auch sofort mit Konzeption des Spiels angelangen können? Wahrscheinlich nicht, einfach weil die Medienlandschaft 1993, und selbst 2005 noch so anders aussah als heute.

Mal ganz abgesehen davon, dass es noch kein Internet gab. Auch genau diese Herangehensweise an Lizensierung aus den frühesten Iterationen war typisch für diese Zeit. Erst in den letzten Jahren ist es üblich geworden, so enge kreative Kontrolle auszuüben, weil man gemerkt hat, dass man so seinen Kunden ein einheitlicheres Erlebnis bieten kann – was sich nicht nur kreativ, sondern auch in Sachen Markenbindung und damit in ausgegebenem Geld auszahlt.

Das coole ist eben, dass man bei Magic diese Entwicklung so schön beobachten kann. Man beginnt mit Karten, die Hinweise auf eine größere Geschichte geben und damit ein Potenzial für Transmedia Storytelling sichtbar machen.

Dann probiert das Spiel in einer ersten Iteration ein Lizensierungsmodell, stellt aber fest, dass das nicht gut funktioniert.

Also holt man die Buchproduktion, jetzt mal repräsentativ für die tiefere Geschichte, ins Haus.

Dann wendet man sich wieder den Karten zu, und versucht, zusätzlich mehr Geschichte auf den Karten zu erzählen (tl;dr). Aber das funktioniert auch nicht. Was man braucht sind ANDERE Karten, die CHARAKTERE verkörpern.

Das funktioniert sehr gut bei den Karten, aber nun werden die Probleme des Romanformats noch deutlicher.

Deswegen löst kostenlose Webfiction sie ab.

Und weil da so gut funktioniert, kann man sich wieder dem Potenzial von “Geschichte auf den Karten” zuwenden und entwickelt die “Story Spotlights”.

Jetzt endlich ist alles verbunden. Charaktere, Geschichten und Karten passen zusammen

Und geben sogar die Sicherheit, in einem “Event Set” wieder zusätzlich einem Roman eine Chance zu geben.

Aber damit das möglich war, und sich das volle Potenzial entfalten konnte, das sich am Anfang nur erahnen ließ, brauchte es eben jede Menge Zwischenschritte, es brauchte regelmäßiges Scheitern, und den Willen, immer wieder neue Varianten zu versuchen.

Mit die wichtigste Ressource für die Entstehung dieses Talks waren die Artikel (1, 2, 3) “A Brief History of Magic Publishing” von Sam Keeper und eine Folge des “Vorthos Cast”.

Die neue Optimismuslobby und ihre Probleme

© 20th Century Fox

(Kann grobe, unspezifische Spoiler für The Martian und Tomorrowland enthalten)

Mark Watney hat es geschafft. Er hat sich (und Kartoffeln) mit seinen Botanik-Skills aus dem Dreck gezogen und so lange alleine auf dem Mars überlebt, dass er gerettet werden konnte. Heute ist er Ausbilder und er erklärt seinen jungen Zöglingen seine Philosophie:

At some point, everything’s gonna go south on you and you’re going to say, this is it. This is how I end. Now you can either accept that, or you can get to work. That’s all it is. You just begin. You do the math. You solve one problem and you solve the next one, and then the next. And If you solve enough problems, you get to come home.

Die Schlussworte aus Ridley Scotts Film The Martian stehen stellvertretend für einen amerikanischen Traum, der auch im Weltraum zu gelten scheint. Wir Menschen können unser eigenes Glück schmieden, wenn wir nur hart genug daran arbeiten und unsere Probleme eines nach dem anderen lösen. Aufgeben ist keine Option, das gilt auf dem Arbeitsmarkt genau wie auf dem Mars. Die Worte sind aber auch Teil einer neuen Stoßrichtung in der Science-Fiction, zu der The Martian (der Film genau wie Andy Weirs gleichnamiger Roman) zumindest am Rande gehört. Ziel ist es, Wissenschafts- und Ideenmenschen wieder mehr in den Fokus zu rücken, und den Zukunftsgeschichten wieder einen optimistischeren Drall zu geben.

Ganz explizit, wahrscheinlich sogar zu explizit, machte das im Frühjahr Brad Birds zweiter Realfilm Tomorrowland (“deutscher” Titel: A World Beyond). Ein idealistisches junges Mädchen namens Casey, deren Vater mal Raketen gebaut hat, wird von einer jungen Androidin in die Parallelwelt Tomorrowland geführt – eine Art Paradies für Erfinder, in der alles so aussieht, wie die Zukunftsvisionen der New Yorker Weltausstellung von 1964. Doch Tomorrowland hat seinen Glanz verloren, stattdessen warten dort alle darauf, dass die Welt untergeht, wie es ihnen eine gigantische Tachyonen-Kristallkugel vorhersagt. Casey stellt fest, dass die Vorhersagen einen Self-Fulfilling-Prophecy-Effekt haben – sie sind nur deswegen so negativ, weil unsere Phantasie so negativ geworden ist. Nach viel hin und her kann sie die Maschine zerstören und der Hoffnung eine neue Chance geben. (Diese Plotzusammenfassung wird der konfusen Erzählweise und damit der riesengroßen Schwäche des Films nicht gerecht, aber darum soll es hier ja auch nicht gehen.)

Innovation Starvation

Doch Tomorrowland schlägt nur in eine Kerbe, die bereits vorher existierte. Neal Stephenson beschwerte sich in seinem Essay “Innovation Starvation” darüber, dass der technische Optimismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem ein besseres Leben durch Erfindungen und große menschliche Leistungen möglich schien, einer Stimmung gewichen ist, in der sich niemand mehr traut, groß zu träumen.

Most people who work in corporations or academia have witnessed something like the following: A number of engineers are sitting together in a room, bouncing ideas off each other. Out of the discussion emerges a new concept that seems promising. Then some laptop-wielding person in the corner, having performed a quick Google search, announces that this “new” idea is, in fact, an old one—or at least vaguely similar—and has already been tried. Either it failed, or it succeeded. If it failed, then no manager who wants to keep his or her job will approve spending money trying to revive it. If it succeeded, then it’s patented and entry to the market is presumed to be unattainable, since the first people who thought of it will have “first-mover advantage” and will have created “barriers to entry.” The number of seemingly promising ideas that have been crushed in this way must number in the millions.

Stephensons These: Es fehlt den Erfinderinnen und Erfindern an Inspiration, weil auch die Science Fiction sich nur noch in apokalyptischen und post-apokalyptischen Szenarien suhlt. (Meine Gedanken zu diesem Zeitgeist) Gute Science Fiction böte “Hieroglyphen”, “fully thought-out picture[s] of an alternate reality in which some sort of compelling innovation has taken place”. Ein neues Tomorrowland, quasi. Den Gedanken fand die Arizona State University so gut, dass sie daraus mit Stephenson gemeinsam das Project Hieroglyph aus der Taufe hob – eine Plattform für den Austausch zwischen fiktionalen Denkerinnen und Denkern und Menschen, die Ideen in der echten Welt umsetzen. Erstes Teilprojekt: Eine Kurzgeschichtensammlung voller “Visions of a better future”.

Irgendwie bewundernswert, dieser Wille, sich mitten in einer Zeit, in der wir vielleicht mehr denn je das Gefühl haben, alles ginge den Bach runter, und in der sogar Deutschlands führender Techno-Optimist Sascha Lobo seine Zuversicht verloren hat, gegen den Trend zu stellen. Self-Fulfilling-Prophecies und Erlernte Hilflosigkeit sind natürlich sehr reale Phänomene und eine positive Grundhaltung kann manchmal schon viel bewirken.

© Disney

Hurra Zukunft!

Die Frage ist, ob sich die Advokaten dieses Science-Fiction-Optimismus für ihre gute Sache immer unbedingt die richtigen Beispiele rausgepickt haben. Tasha Robinson hat bei “The Dissolve” mit wenigen Beispielen gezeigt, dass die fünfziger und sechziger Jahre, zumal im Kino, mitnichten eine dauerhafte Hurra-Zukunft-Stimmung verbreiteten, sondern eher schon mit der Glorifizierung der Vergangenheit begannen. Rachel E. Gross weist auf “Slate” darauf hin, dass Wissenschaft in der echten Welt nicht so heurekahaft funktioniert wie in The Martian. Und Damien Walter kritisiert Project Hieroglyph (das ich, full disclosure, nicht gelesen habe) für seine Hymnen auf kapitalistische (männliche!) Unternehmer und die Unterschlagung von deren Rolle in der überhaupt nicht utopischen Ausbeutung ihrer Mitmenschen: “These optimistic futures may well be better for those occupying the top floors of our unequal society, but they offer less hope for those stuck in the lower levels.”

Brad Bird wurden bereits ähnliche Vorwürfe gemacht, nicht erst seit Tomorrowland (die ganze Debatte findet man mit einer Google-Suche). Seine Visionen seien objektivistisch und betonten die Außerordentlichkeit Einzelner, die auf irgendeine Weise “besser” sind als die Masse, aber von dieser klein gehalten werden. Tatsächlich ist das titelgebende Land, das ja außerhalb der Fiktion ein Themenbereich im kalifornischen Disneyland ist, im Film von Menschen gegründet worden, die sich selbst “Plus Ultras” nennen, was doch sehr elitär und mit dem Gedanken an Aldous Huxley auch ein bisschen eugenisch klingt. Die jüngere Wissenschaft neigt ja eher dazu, zu glauben, dass Kooperation wertvoller ist als das einsame Brüten und Entscheiden von “Great Men”.

The Cyberpunk Moment

Viel wichtiger als diese Gegenargumente finde ich aber, dass Bird, Scott, und leider auch Stephenson allesamt am Ziel vorbeischießen. Sie sind selbst zu alten weißen Männern geworden, die sich (wie viele von uns irgendwann) eine naivere Zeit zurückwünschen. Ihre Plädoyers für Optimismus und Pioniergeist sind fast schon eher rückwärts als vorwärts gewandt und gehen im Ansatz vielleicht sogar von einem falschen Begriff von Science Fiction aus. Henry Jenkins hat vor kurzem einen hervorragenden Essay über den “Cyberpunkt-Moment” in den 80ern geschrieben, in dem er aufregend darlegt, wie verkehrt es sei, von der Science Fiction immer eine Vorhersage der Zukunft zu erwarten. Science Fiction, meint Jenkins, schafft Bezugssysteme für die Gegenwart, aus denen man eine Zukunft ableiten kann. Zum Geburtsmoment des Cyberpunk in den Achtzigern schreibt er: “The technological changes which were hitting American society were so transformative that we needed our best writers and thinkers to help us make sense of what was happening right then and now.”

Was Cyberpunk “punk” gemacht hätte, meint Jenkins, war sein Wille, das Genre aufzubrechen und neu zusammenzusetzen (unbedingt den ganzen Artikel lesen, den ich hier auf zwei kleine Aspekte reduziere). Insofern scheint es nur logisch, dass die beste Science Fiction, die heute entsteht, nicht die Great-Men-Ideen der Vergangenheit neu aufwärmt, sondern sich den Veränderungen in unserer Welt auf andere Weise entgegenstellt, zum Beispiel indem sie Diversität neuen Ausdruck verleiht. Ann Leckies Roman Ancillary Justice (um nur ein Beispiel zu nennen, das ich selbst gelesen habe) spielt gekonnt mit Vorstellungen von Gender und singulärer Identität – und die neue Autorengeneration ist so international und vielfältig, wie man sich das nur wünschen kann. Die wichtigsten Impulse für die Zukunft kommen eben nicht immer aus der Richtung, aus der man sie erwartet.

Brad Birds A World Beyond ist vor einem Monat im Heimkino erschienen. The Martian läuft vielleicht noch in einem Kino in eurer Nähe.

Die Missverstandenen. Das Kino der Wachowskis.

© Warner Bros.

Jupiter Ascending

Ich habe bis zum letzten Drittel von Jupiter Ascending gebraucht, bis ich mir sicher war. Dort wird ein Charakter gefoltert, und zwar, indem sich ihm auf einer Streckbank eine Maschinerie nähert, wie sie ineffektiver nicht sein könnte. Viele kleine Zahnräder, Klingen und Sägeblätter an mechanischen Ärmchen bewegen sich auf das Gesicht der Figur zu – ungefähr so, wie sich ein zehnjähriges Kind die Foltermethoden eines Bösewichts vorstellt. Also logisch: wer immer das hier inszeniert hat, kannn das alles gar nicht ernst meinen.

Ich hätte mir auch schon früher sicher sein können, an den dutzenden Stellen, wo Jupiter Ascending jeden Anspruch auf “ernsthafte” Science Fiction aufgibt und sich voll und ganz Elementen von Farce und Groschenheftromanze oder einfach nur dem Gefühl hingibt, eines Nachts alleine im Spielparadies eingesperrt zu sein und die epischste, grenzenloseste Geschichte aller Zeiten zu spielen, ohne dass einem jemand reinredet.

© Warner Bros.

Jupiter Ascending

Mit Terry Gilliam ist eigentlich alles gesagt

Als Mila Kunis’ Jupiter Jones entschieden hat, dass sie den königlichen Familienanspruch antreten will, von dem ihr Channing Tatums Wolfmensch-“Splice” erzählt hat, muss sie sich in der Hauptstadt des galaktischen Reiches durch eine absurde Bürokratielawine kämpfen, um am Ende von einem nur entfernt menschlichen Wesen ihre Beurkundung abzuholen. Gespielt wird dieser Notar von Terry Gilliam. Und damit ist eigentlich alles gesagt.

Wären die Dinge nur ein wenig anders gelaufen, Andy und Lana Wachowski könnten heute auch Terry Gilliam sein. Filmemacher, deren waghalsige Fabeln von der Liebe zur “Weirdness” und von ihrem Einfallsreichtum leben, von der Transgression und von dem Gefühl, etwas zu sehen, was man als Zuschauer niemals ganz durchdringen wird. Und deren Filme es gleichzeitig extrem schwer haben würden, überhaupt zu entstehen, weil jeder Finanzmensch weiß, dass sie kaum massenmarkttauglich sind.

Das explosive Zeitgeistgemisch

Bound, der erste Film der Wachowskis, war so ein Film. Klein, übersehbar, schon allein durch seine homosexuelle Lovestory mit BDSM-Einschlag irgendwie grenzüberschreitend, aber eindeutig mit einer starken Autor_innenstimme gesegnet. Doch dann schufen die Geschwister The Matrix und damit einen der wichtigsten und größten Blockbuster des ausgehenden 20. Jahrhunderts, der Cool und Weird auf so explosive Weise zu einem Zeitgeistgemisch verband, dass ihnen in der Folge so ziemlich alles zugetraut wurde.

Darin liegt der Fehler, und das ist auch der Grund, warum man vielen Filmliebhabern (inklusive mir) über die letzten 15 Jahre langsam dabei zuschauen konnte, wie sie von Wachowski-Fans zu Wachowski-Apologeten werden mussten. Die Wachowskis sind keine Blockbuster-Filmemacher. Sie sind Underground-Künstler mit einem eigentlich sehr beschränkten Rezipientenkreis, die sich durch den Matrix-Erfolg eher zufällig den Blockbuster mit neunstelligem Budget als ihr Medium ausgesucht haben.

Was zur Hölle haben sie sich gedacht?

Lange war die Frage “Was zur Hölle haben die sich eigentlich dabei gedacht?” nur schwer zu beantworten, weil die Geschwister notorisch öffentlichkeitsscheu waren und sich weigerten, ihre Filme zu erklären. Erst als sie für ihr Herzensprojekt Cloud Atlas 2013 an der Seite von Tom Tykwer ihre Fördergelder rechtfertigen mussten, wagten sie sich regelmäßig vor Mikrofone, und wenn man ihnen zuhört merkt man, dass hier ganz bestimmt keine abgebrühten Hollywood-Business-Faschisten am Werk sind wie Zack Snyder, auch keine einfachen Kellerkind-Nerds, denen man endlich den streng kontrollierten Schlüssel zur Franchise-Schatzkiste gegeben hat wie Joe und Anthony Russo, sondern Gegenkultur-Ästheten, die es irgendwie schaffen, immer wieder Mäzene zu finden, die bereit sind, ihnen große Summen Geld zu geben, um ihre wahnwitzigen Pop-Art-Projekte umzusetzen.

Mit diesem Wissen muss man alle ihre Filme, insbesondere aber alle Filme nach The Matrix lesen. Die beiden Matrix-Sequels Matrix Reloaded und Matrix Revolutions sind in dem Sinn keine Filme, sie sind Teil eines megalomanischen Worldbuilding-Projekts, das die Grenzen zwischen Film, Videospiel, transmedialer Rhizom-Erzählung und Medienkunst-Installation bewusst verschwimmen lässt.

© Warner Bros.

Matrix Reloaded

Das sind keine Filme

Deswegen wirken einige der spektakulären Setpieces aus den beiden Filmen eher wie Videospiel-Level, deswegen gibt es mehrere Charaktere, die keine klare Funktion im Voranschreiten des Plots zu erfüllen scheinen, deswegen endet Reloaded in einem gigantischen Cliffhanger, dessen philosophische Implikationen in Revolutions niemals wirklich aufgelöst werden. Das sind keine Filme, es sind sehr teure poststrukturalistische Meditationen – und ähnlich wie in weniger teuren poststrukturalistischen Meditationen der Vergangenheit kann man sich dabei nicht immer sicher sein, ob dahinter wirklich Substanz steckt oder der einfache Versuch, die Grenzen des Behauptbaren auszutesten.

Speed Racer, Film drei nach Matrix, ist eine der besten Übersetzungen des Zeichensystems und der Kinetik japanischer Comic- und Trickfilmkultur in den westlichen Realfilm, die man jemals sehen wird. Man muss die Rennszenen aus Speed Racer nur mit denen aus einem Streifen wie Rush vergleichen, um zu merken, welcher Film die Essenz eines Hochgeschwindigkeitsrennens wohl besser verstanden hat. Bei den Wachowskis werden Autorennen zu einer Metapher einerseits für einen brutalen Gladiatorenkampf, andererseits für den Eintritt in eine andere Welt ähnlich der Stargate-Sequenz am Ende von 2001: A Space Odyssey.

© Warner Bros.

Speed Racer

Die Überschreitung aller Regeln

Die simplistischen, bonbonfarbenen Szenen, die diese Rennen verbinden, die man kaum Handlung nennen kann und die nicht im herkömmlichen Sinne von “runden” Charakteren bevölkert werden, dienen nur dazu, die Überschreitung aller Kinoregeln irgendwie narrativ zu legitimieren. Man sollte auch nicht vergessen, dass die Vorlage für Speed Racer eine japanische Nachmittagsserie namens “Mach Go Go Go” ist, und dass im japanischen Mediensystem andere Regeln gelten als in Hollywood, wie etwa Henry Jenkins im Interview mit Ian Condry und Mark Steinberg herausgearbeitet hat.

John Gaeta, mit dem die Wachowskis im Visual-Effects-Bereich seit The Matrix immer wieder zusammengearbeitet haben, war 2008 mit Speed Racer auf dem Frankfurter eDIT-Festival zu Gast und ich erlebte, wie er sich einem fast schon feindseligen Publikum stellen musste, von dem er sich grundlegend missverstanden fühlte. Verzweifelt versuchte Gaeta zu verteidigen, dass es beim Filmemachen manchmal um mehr gehen sollte, als nur um eine zufriedenstellende Erzählung, nämlich um neue Arten sich künstlerisch auszudrücken, manchmal auch jenseits des Erklärbaren. Man kann daher Speed Racer, ähnlich wie den Matrix-Sequels, vorwerfen, dass er kein guter Hollywood-Film ist, ein Erlebnis ist er aber allemal.

© Warner Bros.

Speed Racer

“Zweimal alles, bitte”

Cloud Atlas, mit dem sich die Wachowskis gemeinsam mit Tom Tykwer 2012 nach einer längeren Pause zurückmeldeten, ist deutlich zugänglicher als Speed Racer, aber ein A-bis-Z-Film ist er deswegen noch lange nicht. Wichtiger als die einzelnen Handlungsstränge der sechs Erzählungen aus David Mitchells Matrjoschka-Roman, die der Film verwebt und selbst wichtiger als die universelle Message von Befreiung, Zeitenwende und Läuterung, die Cloud Atlas vor sich herträgt, scheint es den Filmemachern auch hier wieder zu sein, möglichst viele Elemente in ein einzelnes Gesamtkunstwerk zu packen.

“Zweimal alles, bitte”, scheint Cloud Atlas zu sagen, wenn er Postapokalypse, Kolonialismus, Science-Fiction, Romanze, Farce, Thriller, Spiritualität, ethnische und Geschlechteridentität und musikalische Philosophie in einen Drei-Stunden-Film presst. Mich persönlich hat dieser schillernde, sich ständig verändernde Rubikswürfel von einem Kinoprojekt extrem angesprochen, mit seinen Hollywood-Stars, die hinter den platonischen Ideen ihrer Charaktere zu verschwinden versuchen, doch vielen anderen Kritiker_innen war auch Cloud Atlas in seiner In-Your-Face-ness, die er trotz seiner vielen Ebenen besitzt, irgendwie zu flach.

© X-Filme

Cloud Atlas

Eine Verschwendung von 175 Millionen Dollar

Es ist dieser Vorwurf der letztendlichen Flachheit, die sich auch Jupiter Ascending wieder gefallen lassen muss. Der kritische Konsens, sowohl unter Filmkritiker_innen als auch beim Publikum scheint zu sein, dass Jupiter Ascending extravagant designt ist und sehr viel Spaß machen kann, wenn man ihn nicht ernst nimmt (wie er ja – siehe oben – meiner Meinung nach auch nicht verstanden werden will), aber letztendlich einfach auch irgendwie eine völlig behämmerte Verschwendung von 175 Millionen Dollar darstellt.

“We’re sort of oddities in that we keep making original movies”, sagt Lana Wachowski im Interview mit dem “L.A. Times”-Blog “Hero Complex”. Kommentator_innen haben ihr und ihrem Bruder längst vorgeworfen, dass Jupiter Ascending wohl kaum ein echtes “Original” sei, da es sich schamlos an allem bedient, was vor ihm kam, nicht zuletzt auch an The Matrix. Der wahre Punkt, auf den sie hinauswill, aber liegt im zweiten Teil ihrer Aussage, in dem sie feststellt, wir seien heute “more excited about a story we know the ending to” – wie das zunehmende Zurückgreifen von Hollywood auf Quellen, die sich bereits bewährt hätten, beweise.

© Warner Bros.

Jupiter Ascending

Die Legitimation der Missverstandenen

Die zentrale Frage ist, ob es wirklich genug ist, wenn sich Andy und Lana Wachowski und diejenigen, die ihre Arbeit schätzen, auf die Position der “Missverstandenen” zurückziehen. Brauchen Filme, die so viel Geld kosten und sich in vielerlei Hinsicht eben auch den Anstrich von Hollywood-Blockbustern und nicht von exzentrischen Kunstprojekten geben, eine Legitimation durch den Massenmarkt? Oder besitzen sie nur dann ein Existenzrecht, wenn sie besser ins Bild des kämpfenden Auteurs passen wie bei Gilliam oder den beiden Davids Lynch und Cronenberg, dessen eXistenZ gerne als die “bessere” Matrix-Verfilmung bezeichnet wird?

In jenem filmischen Barock, in dem wir uns zurzeit befinden, sollten meiner Ansicht nach auch die Wachowskis einen Platz finden können, hinter deren ästhetischen Vexierspielen sich manchmal vielleicht nicht unbedingt eine tiefere Wahrheit versteckt. Vielleicht ist das neugeborene Fernsehen, in dem sie als nächstes die Serie Sense8 auf die Welt loslassen, inzwischen eher ihr Medium. Wir werden sehen, was am Ende der Matrix wartet, wo der “Architect” es vielleicht immer noch am besten ausgedrückt hat:

Your life is the sum of a remainder of an unbalanced equation inherent to the programming of the matrix. You are the eventuality of an anomaly, which despite my sincerest efforts I have been unable to eliminate from what is otherwise a harmony of mathematical precision. While it remains a burden to sedulously avoid it, it is not unexpected, and thus not beyond a measure of control.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er dabei von Neo oder von den Wachowskis spricht.

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