Die neue Optimismuslobby und ihre Probleme

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(Kann grobe, unspezifische Spoiler für The Martian und Tomorrowland enthalten)

Mark Watney hat es geschafft. Er hat sich (und Kartoffeln) mit seinen Botanik-Skills aus dem Dreck gezogen und so lange alleine auf dem Mars überlebt, dass er gerettet werden konnte. Heute ist er Ausbilder und er erklärt seinen jungen Zöglingen seine Philosophie:

At some point, everything’s gonna go south on you and you’re going to say, this is it. This is how I end. Now you can either accept that, or you can get to work. That’s all it is. You just begin. You do the math. You solve one problem and you solve the next one, and then the next. And If you solve enough problems, you get to come home.

Die Schlussworte aus Ridley Scotts Film The Martian stehen stellvertretend für einen amerikanischen Traum, der auch im Weltraum zu gelten scheint. Wir Menschen können unser eigenes Glück schmieden, wenn wir nur hart genug daran arbeiten und unsere Probleme eines nach dem anderen lösen. Aufgeben ist keine Option, das gilt auf dem Arbeitsmarkt genau wie auf dem Mars. Die Worte sind aber auch Teil einer neuen Stoßrichtung in der Science-Fiction, zu der The Martian (der Film genau wie Andy Weirs gleichnamiger Roman) zumindest am Rande gehört. Ziel ist es, Wissenschafts- und Ideenmenschen wieder mehr in den Fokus zu rücken, und den Zukunftsgeschichten wieder einen optimistischeren Drall zu geben.

Ganz explizit, wahrscheinlich sogar zu explizit, machte das im Frühjahr Brad Birds zweiter Realfilm Tomorrowland (“deutscher” Titel: A World Beyond). Ein idealistisches junges Mädchen namens Casey, deren Vater mal Raketen gebaut hat, wird von einer jungen Androidin in die Parallelwelt Tomorrowland geführt – eine Art Paradies für Erfinder, in der alles so aussieht, wie die Zukunftsvisionen der New Yorker Weltausstellung von 1964. Doch Tomorrowland hat seinen Glanz verloren, stattdessen warten dort alle darauf, dass die Welt untergeht, wie es ihnen eine gigantische Tachyonen-Kristallkugel vorhersagt. Casey stellt fest, dass die Vorhersagen einen Self-Fulfilling-Prophecy-Effekt haben – sie sind nur deswegen so negativ, weil unsere Phantasie so negativ geworden ist. Nach viel hin und her kann sie die Maschine zerstören und der Hoffnung eine neue Chance geben. (Diese Plotzusammenfassung wird der konfusen Erzählweise und damit der riesengroßen Schwäche des Films nicht gerecht, aber darum soll es hier ja auch nicht gehen.)

Innovation Starvation

Doch Tomorrowland schlägt nur in eine Kerbe, die bereits vorher existierte. Neal Stephenson beschwerte sich in seinem Essay “Innovation Starvation” darüber, dass der technische Optimismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, in dem ein besseres Leben durch Erfindungen und große menschliche Leistungen möglich schien, einer Stimmung gewichen ist, in der sich niemand mehr traut, groß zu träumen.

Most people who work in corporations or academia have witnessed something like the following: A number of engineers are sitting together in a room, bouncing ideas off each other. Out of the discussion emerges a new concept that seems promising. Then some laptop-wielding person in the corner, having performed a quick Google search, announces that this “new” idea is, in fact, an old one—or at least vaguely similar—and has already been tried. Either it failed, or it succeeded. If it failed, then no manager who wants to keep his or her job will approve spending money trying to revive it. If it succeeded, then it’s patented and entry to the market is presumed to be unattainable, since the first people who thought of it will have “first-mover advantage” and will have created “barriers to entry.” The number of seemingly promising ideas that have been crushed in this way must number in the millions.

Stephensons These: Es fehlt den Erfinderinnen und Erfindern an Inspiration, weil auch die Science Fiction sich nur noch in apokalyptischen und post-apokalyptischen Szenarien suhlt. (Meine Gedanken zu diesem Zeitgeist) Gute Science Fiction böte “Hieroglyphen”, “fully thought-out picture[s] of an alternate reality in which some sort of compelling innovation has taken place”. Ein neues Tomorrowland, quasi. Den Gedanken fand die Arizona State University so gut, dass sie daraus mit Stephenson gemeinsam das Project Hieroglyph aus der Taufe hob – eine Plattform für den Austausch zwischen fiktionalen Denkerinnen und Denkern und Menschen, die Ideen in der echten Welt umsetzen. Erstes Teilprojekt: Eine Kurzgeschichtensammlung voller “Visions of a better future”.

Irgendwie bewundernswert, dieser Wille, sich mitten in einer Zeit, in der wir vielleicht mehr denn je das Gefühl haben, alles ginge den Bach runter, und in der sogar Deutschlands führender Techno-Optimist Sascha Lobo seine Zuversicht verloren hat, gegen den Trend zu stellen. Self-Fulfilling-Prophecies und Erlernte Hilflosigkeit sind natürlich sehr reale Phänomene und eine positive Grundhaltung kann manchmal schon viel bewirken.

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Hurra Zukunft!

Die Frage ist, ob sich die Advokaten dieses Science-Fiction-Optimismus für ihre gute Sache immer unbedingt die richtigen Beispiele rausgepickt haben. Tasha Robinson hat bei “The Dissolve” mit wenigen Beispielen gezeigt, dass die fünfziger und sechziger Jahre, zumal im Kino, mitnichten eine dauerhafte Hurra-Zukunft-Stimmung verbreiteten, sondern eher schon mit der Glorifizierung der Vergangenheit begannen. Rachel E. Gross weist auf “Slate” darauf hin, dass Wissenschaft in der echten Welt nicht so heurekahaft funktioniert wie in The Martian. Und Damien Walter kritisiert Project Hieroglyph (das ich, full disclosure, nicht gelesen habe) für seine Hymnen auf kapitalistische (männliche!) Unternehmer und die Unterschlagung von deren Rolle in der überhaupt nicht utopischen Ausbeutung ihrer Mitmenschen: “These optimistic futures may well be better for those occupying the top floors of our unequal society, but they offer less hope for those stuck in the lower levels.”

Brad Bird wurden bereits ähnliche Vorwürfe gemacht, nicht erst seit Tomorrowland (die ganze Debatte findet man mit einer Google-Suche). Seine Visionen seien objektivistisch und betonten die Außerordentlichkeit Einzelner, die auf irgendeine Weise “besser” sind als die Masse, aber von dieser klein gehalten werden. Tatsächlich ist das titelgebende Land, das ja außerhalb der Fiktion ein Themenbereich im kalifornischen Disneyland ist, im Film von Menschen gegründet worden, die sich selbst “Plus Ultras” nennen, was doch sehr elitär und mit dem Gedanken an Aldous Huxley auch ein bisschen eugenisch klingt. Die jüngere Wissenschaft neigt ja eher dazu, zu glauben, dass Kooperation wertvoller ist als das einsame Brüten und Entscheiden von “Great Men”.

The Cyberpunk Moment

Viel wichtiger als diese Gegenargumente finde ich aber, dass Bird, Scott, und leider auch Stephenson allesamt am Ziel vorbeischießen. Sie sind selbst zu alten weißen Männern geworden, die sich (wie viele von uns irgendwann) eine naivere Zeit zurückwünschen. Ihre Plädoyers für Optimismus und Pioniergeist sind fast schon eher rückwärts als vorwärts gewandt und gehen im Ansatz vielleicht sogar von einem falschen Begriff von Science Fiction aus. Henry Jenkins hat vor kurzem einen hervorragenden Essay über den “Cyberpunkt-Moment” in den 80ern geschrieben, in dem er aufregend darlegt, wie verkehrt es sei, von der Science Fiction immer eine Vorhersage der Zukunft zu erwarten. Science Fiction, meint Jenkins, schafft Bezugssysteme für die Gegenwart, aus denen man eine Zukunft ableiten kann. Zum Geburtsmoment des Cyberpunk in den Achtzigern schreibt er: “The technological changes which were hitting American society were so transformative that we needed our best writers and thinkers to help us make sense of what was happening right then and now.”

Was Cyberpunk “punk” gemacht hätte, meint Jenkins, war sein Wille, das Genre aufzubrechen und neu zusammenzusetzen (unbedingt den ganzen Artikel lesen, den ich hier auf zwei kleine Aspekte reduziere). Insofern scheint es nur logisch, dass die beste Science Fiction, die heute entsteht, nicht die Great-Men-Ideen der Vergangenheit neu aufwärmt, sondern sich den Veränderungen in unserer Welt auf andere Weise entgegenstellt, zum Beispiel indem sie Diversität neuen Ausdruck verleiht. Ann Leckies Roman Ancillary Justice (um nur ein Beispiel zu nennen, das ich selbst gelesen habe) spielt gekonnt mit Vorstellungen von Gender und singulärer Identität – und die neue Autorengeneration ist so international und vielfältig, wie man sich das nur wünschen kann. Die wichtigsten Impulse für die Zukunft kommen eben nicht immer aus der Richtung, aus der man sie erwartet.

Brad Birds A World Beyond ist vor einem Monat im Heimkino erschienen. The Martian läuft vielleicht noch in einem Kino in eurer Nähe.

Vier Filme, Vier Regisseure – Wieviel Autorenschaft verträgt ein Franchise? (mit Infografik)

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Weil Franchise-Filme immer mehr den Mainstream-Hollywood-Betrieb übernehmen, stellt sich zunehmend die Frage, inwiefern Regisseure mit einer deutlichen individuellen Handschrift in das System hineinpassen. Schließlich versuchen die großen Studios seit der Blockbuster-Ära immer wieder, “besondere” Regisseure für ihre Filmreihen zu gewinnen, um aus einem generisch erscheinenden Instrument einzigartige Noten herauszukitzeln.

Solche Experimente können gelingen. Manch ein Regisseur scheint so gut zu einem Franchise zu passen, dass man es zeitweise ganz und voller Enthusiasmus mit seinem Stil identifiziert – man denke an die Batman-Filme von Tim Burton und Christopher Nolan oder die Bourne-Episoden von Paul Greengrass. Es gibt Fälle, bei denen einzelne Filme aus einer Reihe positiv herausstechen, gerade weil sie individuell gefärbt sind – Alfonso Cuaróns Harry-Potter-Beitrag.

Sie können aber auch nach hinten losgehen. Marc Forster und das James-Bond-Franchise waren in Quantum of Solace bespielsweise eindeutig kein gutes Paar. Und auch über die Chemie von Ang Lee und Hulk lässt sich sicherlich diskutieren.

Interessant ist, dass uns die Filmgeschichte gleich zwei langlebige Franchises geschenkt hat, denen kein einzelner Regisseur seinen Stempel aufdrücken konnte. Im Gegenteil: Ihr Merkmal ist es beinahe geworden, dass sie versuchen, ihr Quellenmaterial mit jeder Folge durch neue Augen zu sehen – und durchaus nicht durch irgendwelche Augen. Sowohl Alien als auch Mission: Impossible bestehen (bisher) aus jeweils vier Filmen, inszeniert von vier Regisseuren, die meisten von ihnen namhaft und innerhalb des Hollywoodsystems auch als “Autoren” anerkannt.

Mich interessierte, ob man die individuelle Prägung eines Films mit dessen finanziellen Erfolg korellieren kann. Und ich nehme es gleich vorweg: die relativ banale Antwort lautet Nein. Während dem Alien-Franchise zuviel Autorenschaft eindeutig geschadet hat, konnte Tom Cruises Actionfilmserie mit ihrem untypischsten Film am meisten Geld scheffeln:

Auf der Y-Achse der Grafik findet sich das US-Einspielergebnis der jeweiligen Filme, hochgerechnet auf heutige Ticketpreise. Auf der X-Achse ein von mir vergebener “Autoren-Index”, der ausdrücken soll, wie stark der Film von seinen Machern geprägt ist und wie speziell er sich dadurch anfühlt. (Update, 23.9.: Der Index ist mit Humor zu nehmen)

Aber der Reihe nach:

Der Prototyp

Grundsätzlich sollte man festhalten, dass Franchising nur dann möglich scheint, wenn der Ursprungsfilm nicht schon so speziell ist, dass man sich schwer vorstellen kann, den Stoff in eine neue Richtung zu drücken. Dass aus David Lynchs Dune nie eine Filmserie wurde, ist sicher kein Zufall.

Sowohl Ridley Scotts Alien als auch Brian De Palmas Mission: Impossible besitzen genug Individualität, um aus dem Einheitsbrei Hollywoods herauszustechen, sie gehören aber beide nicht unbedingt zu den persönlichsten Filmen der beiden Regisseure. Alien ist etwa längst nicht so introspektiv wie Blade Runner und Ridley Scott noch relativ unerfahren. Und Brian De Palma hatte gerade mit Carlito’s Way quasi Scarface II gemacht und war vielleicht ganz froh, mal wieder einen richtigen Hollywood-Mainstream-Film zu inszenieren.

Beide Filme trafen jedenfalls eine Art Sweet Spot, der sie nicht nur zu großen Geldmaschinen machte, sondern auch zu Startrampen für erfolgreiche Fortsetzungen.

Der Topper

Die Fortsetzung muss immer größer sein als das Original. Auch in diesen beiden Franchises trifft diese Regel gnadenlos zu. James Cameron machte aus Scotts klaustrophobischem Horrorthriller ein gigantisches Science-Fiction-Action-Spektakel und schuf damit den in Fankreisen wohl beliebtesten, weil (sind wir mal ganz ehrlich) wichsvorlagigsten Film der Serie (nicht sexuell, nur in Sachen Ballerei und genereller Badassery). Und John Woo drehte in M:I-2 einfach alle Verstärker auf Elf und verwandelte De Palmas Spionage-Vexierspiel in ein relativ sinnfreies Explosionsfest mit Tauben.

Beide Filme gehören zu den bestverdienensten Instanzen ihrer Serien, doch dahinter scheint mir eher die positive Erwartungshaltung an eine Fortsetzung zu liegen als individueller Stilwille. Denn während De Palmas Film eindeutig eine deutliche Abkehr vom Prototypen darstellt und sogar dem Protagonisten einen völlig neuen Look verpasst, ist Camerons Anpassung subtiler und vor allem auf der thematischen Ebene zu finden.

Der Mutige

Wenn man als Filmstudio zweimal hintereinander erfolgreich war, scheint sich beim dritten Mal der Drang breitzumachen, etwas Neues zu versuchen. Bei den beiden Franchises in diesem Artikel führte das jeweils zu einem deutlich erfolgloseren, vielleicht aber auch zum interessantesten Film der Serie.

David Finchers Alien 3 ist mittlerweile einer dieser Legendenfilme. Der erste Spielfilm eines mittlerweile als genial verehrten Regisseurs, der im Kampf um die kreative Kontrolle zerrieben wurde. Für eine Neubewertung lohnt es sich, den Videoessay “The Unloved” anzusehen und ich persönlich liebe seinen Stil, doch es lässt sich nicht abstreiten, dass der Film innerhalb des Alien-Kosmos nur bedingt funktioniert.

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Mission: Impossible 3 ist ebenfalls ein Spielfilmdebüt, und zwar von J. J. Abrams. Abrams kam vom Fernsehen und ist hier eindeutig noch auf Bewährung – seine inzwischen legendären Lens Flares etwa sind sehr spärlich eingesetzt. Ähnlich wie Cameron bei Aliens schafft es Abrams aber, sich der Serie inhaltlich überzustülpen. Das Kurtzman-Orci-Abrams-Drehbuch ist eine typische Mystery Box, gleichzeitig ist Ethan Hunt hier erstmals ein Familienmensch (eigentlich ungewöhnlich für eine so chamäleonhafte Figur) und sein Gegenspieler ist ein nihilistischer Businessman/Killer.

Der Vierte

Ein Franchise muss schon sehr erfolgreich sein, damit es auf vier Filme kommt. In den hier untersuchten Fällen entschied der vierte Film darüber, ob es weitere Fortsetzungen geben würde – wie im Fall von Mission: Impossible oder ob nicht eher ein Reboot angesagt wäre, wie bei Alien.

Alien: Resurrection ist eine so merkwürdige Kreatur, wie man sie nur selten findet. Die Markenzeichen von Drehbuchautor Joss Whedon und Regisseur Jean-Pierre Jeunet springen einen geradezu an. Die Einstellungen, Farbwelten und das Knautschgesichter-Casting von Jeunet; die Dialogzeilen und Figurenkonstellationen von Whedon. Aus der Schizophrenie von Drehbuch und Regie – Whedon hat mehrfach öffentlich erklärt, dass Jeunet seine Worte völlig falsch interpretiert hat – ergibt sich eine zwar filmwissenschaftlich interessante Spannung, aber leider kein wirklich guter Film, der entsprechend auch an den Kinokassen völlig versagte.

Während Alien also immer seltsamer wurde, ging Tom Cruise den Weg der Konsolidierung. Ghost Protocol, der vierte der Mission-Filme, ist vor allem solide. Brad Bird in seinem ersten Realfilm kadriert und erzählt präzise, sorgt für einige spektakuläre Setpieces und schafft damit einen gelungenen Actionthriller, aber “besonders” ist der Film eher nicht. Das wichtigste aber: er war erfolgreich genug, um einen fünften Film hervorzubringen. Mission: Impossible 5 unter der Regie von Christopher McQuarrie soll nächstes Jahr ins Kino kommen.

Alien hingegen kehrte mit Prometheus schließlich an seine Wurzeln zurück – zu Regisseur Ridley Scott und zu einer Zeit vor dem ersten Film. Das Ergebnis war durchwachsen. Sigourney Weaver, die ähnlich wie Tom Cruise irgendwann die treibende Kraft hinter den Filmen wurde, hat zum Ausdruck gebracht, dass sie Ellen Ripley gerne noch ein würdigeres Ende verschaffen würde. Sie müsste nur den richtigen Regisseur dafür finden. Die Frage bleibt aber: Wieviel Individualismus braucht es dafür?

Die Kunst des Drumherumerzählens

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Im Jahr 1970 stand der britische Theaterautor Michael Frayn in den Sofitten eines seiner Stücke. Sein Standort erlaubte es ihm, nicht nur das Geschehen auf der Bühne zu sehen, sondern auch, was hinter den Kulissen passierte. Die Tatsache, dass er die Vorgänge hinten komischer fand als vorne, brachte ihn zwölf Jahre später dazu, das Stück “Noises Off” zu schreiben. Die dreiaktige Farce zeigt eine kleine Schauspielertruppe dreimal bei der Aufführung des gleichen Stückes zu verschiedenen Zeitpunkten. Akt 1: vorne, Akt 2: hinten, Akt 3: vorne.

Zwischen den Schauspielern des Stücks gibt es Romanzen und Animositäten, private Probleme, Komplexe und Egos. Im ersten Akt kennen wir diese Probleme noch nicht, wir sehen nur die Generalprobe eines burlesken Stückes, das bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einige Stolperer aufweist. Akt 2 enthüllt die Hintergründe der Figurenkonstellationen zwischen den Akteuren, die so gar nichts mit den Figuren zu tun haben, die sie spielen – und wir sehen sehen, wie viel zusätzlich schiefgeht, von dem die Zuschauer im Saal (hoffentlich) nichts merken. In Akt 3 schließlich sind wir Eingeweihte, könnnen aufgrund des Geschehens vorne Rückschlüsse über das Geschehen hinten ziehen – und doppelt lachen.

Ich habe von “Noises Off” nur die mäßig beliebte Verfilmung gesehen, doch das Stück fiel mir wieder ein, als ich am Ende des jüngst aufgenommenen Podcasts zum Marvel Cinematic Universe über den Inhalt der Serie “S.H.I.E.L.D.” (offiziell: “Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.”) spekulierte. “Noises Off” spielt, zur Geburtsstunde der Postmoderne, gekonnt und komisch mit der Idee, dass die Geschichte, die wir erzählt bekommen, nie die ganze Geschichte ist. Dass man theoretisch immer an hundert Punkten dieser speziellen Geschichte ansetzen könnte, und eine weitere, unbekannte Geschichte erzählen könnte, die ebenso interessant sein kann; die wir aber nie erfahren.

Diese Idee ist natürlich inzwischen nichts Neues mehr. Im Grunde ist sie die Grundlage jeder Kriminalfall-Erzählung und seit der postmoderne zum allgemeinen Zustand geworden ist, taucht sie überall auf: In Pulp Fiction und den Filmen von Alexander Gonzalez Iñarritu, in dutzenden Romanen (mein Favorit: Alex Garlands “The Tesseract”) und Fernsehfolgen. Zersplitterte Erzählung ist überall und wird auch gerne gesehen, weil sie immer einen Anstrich von Cleverness hat: der Zuschauer steht in den Sofitten – er bekommt mehr mit als jede einzelne Figur und darf das Puzzle im Kopf zusammensetzen.

Was Noises off jedoch von den meisten dieser fragmentierten Geschichten unterscheidet, ist die Tatsache, dass es eine dominante Geschichte gibt, die auf jeden Fall erzählt werden muss – das Stück im Stück mit dem vielsagenden Titel “Nothing On”. Diese Haupterzählung, die Handlung von “Nothing On”, muss weiterlaufen, egal was passiert, und die Geschehnisse hinter der Bühne sind ihr untergeordnet. Sie sind, sozusagen, drumherumerzählt.

Nicht die Zeitebenen stören

Habt ihr 18 Minuten Zeit?

Diese Sequenz aus Back to the Future und Back to the Future Part II ist eines meiner Lieblingsbeispiele für erfolgreiches Drumherumerzählen. Im Ursprungsfilm hat Marty McFlys Zeitreise die Geschehnisse seiner eigenen Vergangenheit durcheinandergebracht und droht, seine Zukunft, die eigentlich seine Gegenwart ist, zu verändern. Marty muss also alles daran setzen, die Vergangenheit wieder auf die richtige Spur zu bringen, indem er dafür sorgt, dass seine Eltern sich ineinander verlieben, obwohl sich seine Mutter gerade in ihn verguckt hat. Nebenher inspiriert er Chuck Berry zu “Johnny B. Goode”, indem er ihm, ohne es zu wissen, seinen eigenen Song aus der Zukunft vorspielt (was alle möglichen rassistischen Interpretationen zulässt).

Back to the Future Part II zieht eine weitere Ebene ein. Marty muss erneut in das Jahr 1955, in die exakt gleiche Nacht zurückkehren, um Dummbratze Biff Tannen das Sportstatistik-Heft zu klauen, das Biffs älteres Ich ihm aus der Zukunft zugesteckt hat. Jetzt muss Marty zwei Erzählungen aufrecht erhalten: 1. Seine Eltern müssen sich, wie im ersten Film, ineinander verlieben, obwohl mehrere Zeitreisende in ihrer Zeit herumfuhrwerken. Hierfür muss die “Enchantment under the Sea”-Party erfolgreich stattfinden, quasi das “Nothing On” von Back to the Future. 2. Marty darf seinem zeitreisenden Ich vom letzten Mal nicht begegnen, weil sonst ein Raum-Zeit-Fehler das Universum zerstören könnte. Er kann also in die Ereignisse nur indirekt eingreifen. Mit anderen Worten: Er muss auch die Erzählung des ersten Films aufrecht erhalten, denn dieser kann sich ja rückwirkend nicht mehr verändern.

Also erzählt Robert Zemeckis sehr geschickt um die Ereignisse aus Teil 1 herum. Besonders schön ist dies im letzten Drittel zu sehen. George küsst Lorraine und Marty 1 bekommt auf der Bühne seine Familie zurück, Marty 2 steht am anderen Ende des Raums und wird von Biffs Schergen gejagt. Diese kommen in den Ballsaal und sehen Marty 1 auf der Bühne, wundern sich, wie er so schnell dorthin gekommen ist und die Kleidung gewechselt hat. Sie machen sich bereit, ihn zu verprügeln, während er mit “Johnny B. Goode” beginnt, doch Marty 2 dreht den Spieß um und knockt die drei aus, bevor sie die Erzählung seiner ersten Zeitreise stören können, die in der Konsequenz auch auf seine jetzige Zeitreise durchschlagen würde. Eine komplette zweite Handlung, im Kontinuum der ersten Handlung, wird um die erste Handlung herumgestrickt, und kommt ihr unendlich nah, ohne sie tatsächlich zu berühren.

Im Transmedia-Universum

Im Zeitalter des Transmedia Storytelling, in dem wir uns inzwischen befinden, ist es nun nicht mehr nur eine Option, eine Geschichte in mehreren Fragmenten innerhalb des gleichen Texts zu erzählen, sondern über mehrere Medien hinweg. Und wenn das Universum erst mal steht kann man darin natürlich so viele Geschichten erzählen, wie man will. Große und kleine.

Das vielleicht bekannteste Pop-Franchise, das dies als erstes probiert hat, sind die beiden Sequels der Matrix. Ergänzend zu The Matrix Reloaded gab es ein Videospiel namens “Enter the Matrix”, in dem auch Filmszenen eingebaut waren, die den Handlungsraum von Reloaded erweiterten, indem sie die Geschichte erzählten, die sekundäre Charaktere wie Jada Pinkett Smiths Niobe parallel zur Haupthandlung von Neo, Trinity und Co erlebten. Beworben wurde das Ganze damit, dass man nur mit Film und Computerspiel (und Animatrix) das große Ganze des Films erfassen konnte. In Wahrheit bringen die “Enter the Matrix”-Szenen (die auch im DVD-Sammlerset enthalten sind und hier auf YouTube) keinerlei echte Aufklärung für den kryptischen zweiten Teil der Trilogie. Auch sie schmiegen sich nur an die Haupthandlung an.

Das Prinzip, Nebenfiguren eine eigene Geschichte zu geben, die parallel zur Haupterzählung stattfindet, wurde schließlich in den Nuller Jahren vor allem von Disney-Tochterfirmen auf originelle Art angewandt, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die DVD-Verkäufe anzukurbeln und Nachwuchsregisseuren im Kurzfilm eine Chance zu geben.

The Incredibles war der erste Film, der dieses Prinzip anwandte. (SPOILER AB SOFORT) Auf dem Rückweg von ihrem Endkampf hört Helen Parr ihre Mailbox ab und findet dort eine Reihe von zunehmend panischen Nachrichten der Babysitterin, die auf Sprößling Jack-Jack aufpassen sollte – das einzige Kind, von dem die Parrs denken, dass es keine Superkräfte hat. In der letzten Nachricht berichtet sie erleichtert, sie habe Jack-Jack an den “Ersatz-Sitter” weitergegeben. Ängstlich beeilen sie sich, zum Haus zurückzukommen, um zu sehen, was passiert ist – nur um festzustellen, dass Syndrome ihnen zuvorgekommen ist und Jack-Jack bereits in seiner Gewalt hat. Es folgt der Endkampf nach dem Endkampf.

Der Schatten der Helden

Der Kurzfilm Jack-Jack Attack (Regie: Ebenfalls Brad Bird), der auf der DVD von The Incredibles enthalten ist, erzählt die gleiche Geschichte aus der Sicht der wohlmeinenden aber etwas unterbelichteten Babysitterin, die Stück für Stück Jack-Jacks Superkräfte am eigenen Leib erfahren muss und das Baby schließlich entnervt Syndrome in die Hand drückt.

Die Telefonnachrichten im Hauptfilm hatten völlig ausgereicht, um anzudeuten, was passiert ist – noch dazu auf sehr clevere und Zeit sparende Art (in einem Zeitalter, in dem Filme mehr und mehr dazu neigen, alles auszuerzählen). Jack-Jack-Attack, auch mit seiner Rahmenhandlung eines Geheimdienst-Verhörs, schafft es dennoch, dem Hauptfilm eine kleine Geschichte hinzuzufügen, die dort keinen Platz gefunden hätte (laut Wikipedia war dies auch der Ausgangspunkt), aber genau die richtige Länge und Dramaturgie für einen Kurzfilm hatte.

Zu Wall-E wurde dieses Prinzip noch einmal aufgegriffen, diesmal jedoch weniger direkt mit dem Hauptfilm verzahnt. Der DVD-Kurzfilm Burn-E spielt mit der Idee, dass Filmhelden mit ihren mutigen und waghalsigen Aktionen öfter mal Schaden anrichten können, von dem sie nichts wissen.

Burn-E ist auf der Axiom, dem großen Raumschiff, das Wall-E auf seiner Suche nach Eve bereist, für die Wartung der Warnlichter an der Außenhülle verantwortlich. Ein Stück Sternenstaub aus Wall-Es poetischer Geste zu Anfang des Weltraumflugs landet durch Zufall in einem dieser Lichter und Burn-E muss es reparieren. Dummerweise gelingt es Wall-E (ohne dass er es merkt), das gleiche Licht durch blöde Zufälle immer wieder kaputtzumachen, was den kleinen Burn-E fast um den Verstand bringt.

Wie in Back to the Future geht es also auch hier wieder darum, einen erzählten Status Quo (nämlich den des vorhergehenden Films) aufrecht zu erhalten. Es ist genau dieses Prinzip des kleinen Mannes oder der kleinen Frau, die hinter den Superhelden und ihren Heldentaten herräumen müssen, das sich perfekt für das Drumherumerzählen eignet, denn im Grunde sind diese Chraraktere quasi die Continuity-Wächter des Film-Universums. Sie sorgen dafür, dass dort, wo die Heldenreisen-Regeln gelten, alles den erwarteten Gang geht und nicht etwa an unvorhergesehenen Fehlerchen scheitert.

Um diesen Job im großen Stil zu erledigen hat die Popkultur seit jeher geheime Organisationen erschaffen, die mit einem Heer von “kleinen” Frauen und Männern die Welt in Balance halten. Sie heißen “Men in Black”, CONTROL oder – genau – S.H.I.E.L.D.

We work in secret. We exist in shadow. And we dress in black.

S.H.I.E.L.D. und ihr Chef Nick Fury sind im Marvel Cinematic Universe der Kleber, der die einzelnen Filme und ihre Handlungsstränge zusammenhält.Außerdem drehen sich sämtlich Erzählstränge, die ergänzend zu den Haupterzählungen der Superhelden aufgemacht wurden, um S.H.I.E.L.D.: die Post-Credit-Stingers, die Seitenplots in Iron Man 2, der Comic “Fury’s Big Week” und die grob nach dem gleichen Prinzip wie Jack-Jack Attack und Burn-E operierenden “Marvel One-Shots”, Kurzfilme, die als Ergänzungs-Gimmick zu den Hauptfilmen auf den DVDs enthalten waren.

Der erste Mavel One-Shot The Consultant erschien auf der Thor-DVD, ist aber eigentlich um The Incredible Hulk herumerzählt. Im Grund ist er ein cleverer Retcon. Der Post-Credit-Stinger im Hulk zeigte Tony Stark, wie er General Ross vorschlägt, ein Team zusammenzustellen. Zu Zeitpunkt von Thor, zwei Jahre später, passte das aber nicht mehr mit der geplanten Continuity für die Avengers zusammen. Also liefert The Consultant eine unerwartete Erklärung: Stark war nur von S.H.I.E.L.D. als “Patsy” zu Ross geschickt worden, er sollte Ross verärgern und das Gegenteil von dem erreichen, was er dachte. Und die beiden reden keinesfalls über den Hulk, sondern über seinen Gegner Abomination. Der Kurzfilm lässt alle bisherigen Erzählungen intakt und deutet sie dennoch so um, dass auch für die Zukunft alles passt.

Der zweite One-Shot A Funny Thing Happened on the Way to Thor’s Hammer (enthalten auf der DVD von Captain America) ist weniger stark an die Filme angebunden (er spielt kurz vor dem Post-Credit-Stinger von Iron Man 2) und dient eher dazu, den Charakter von Agent Phil Coulson etwas weiter auszuarbeiten. Der dritte Kurzfilm Item 47 führt völlig neue Charaktere ein und hat als einzigen Anknüpfungspunkt zu den Filmen eine Waffe aus dem Avengers-Film – beantwortet also eine einfache “Was wäre wenn”-Frage nach dem Ansehen von The Avengers: Was wäre wenn eine der Chitauri-Waffen einem Gangsterpärchen in die Hände fallen würde.

Die Serie “S.H.I.E.L.D.” wird sich höchstwahrscheinlich an den drei bisherigen One-Shots orientieren. Sie erzählt die Superhelden-Saga aus Sicht der Aufräumer, der kleinen Alltagshelden von S.H.I.E.L.D. – da Marvel und Joss Whedon clevere Dinge mögen, wird sie sicherlich das ein oder andere Mal direkte Berührungsstellen mit den parallel startenden Filmen aufweisen, häufig aber eher nur sehr indirekt darauf verweisen.

Die Kunst des Drumherumerzählens setzt immer eine Hierarchie der Erzählungen voraus. Eine Haupterzählung, die durch kleine Nebenerzählungen ergänzt, aber nicht direkt verändert wird. Jede Erzählung kann für sich stehen, obwohl die sekundäre Erzählung ihre Muttererzählung stärker braucht als umgekehrt, beide bieten im besten Fall access points in ein größeres Universum.

Die entscheidende Entscheidung (höhö), die von den Geschichtenerzählern getroffen werden muss ist, wie eng sich die sekundäre an die primäre Erzählung angliedern soll. Denn obwohl die drumherum erzählte Geschichte die Ur-Geschichte nicht verändern kann, kann sie sie doch erheblich umdeuten (wie in The Consultant), erweitern (wie in Jack-Jack-Attack) oder ihr doch zumindest an einzelnen Stellen einen anderen Drall geben (wie in Burn-E). Im schlimmsten (oder besten, je nach Sichtweise) Fall kann sie den Ur-Text völlig negieren – wie in Noises Off, wo die Beziehungen der Schauspieler hinter der Bühne das exakte Gegenteil der Figuren auf der Bühne darstellen. Die kunstvollste Variante ist sicherlich die, die es uns – wie Michael Frayn damals – einfach nur erlaubt, beide Ebenen zu sehen, ihr Zusammenspiel zu beobachten, und sie dennoch als zwei völlig separate Geschichten genießen zu können.