Ein Bildschirm, der uns umgibt – Internet, Raum und Virtual Reality

Tron Legacy © Walt Disney Pictures

Die Münchner Stadtbibliothek hat diese Woche eine Foto-Aktion namens #MeinOrtimNetz gestartet. Es geht darum, Orte zu finden, an denen sich Menschen “besonders digital” fühlen. Dabei geht es sowohl um physische Orte (der heimische Lesesessel) als auch um virtuelle (die Online-Sammlung des Kunsthistorischen Museums Wien). Als ich die Ankündigung las, habe ich natürlich darüber nachgedacht, was ich wohl fotografieren würde. Etwas wirklich Gutes fiel mir nicht ein.

Stattdessen aber begannen meine Gedanken mal wieder zu wandern. Woher kommt unser Bedürfnis, dem virtuellen Raum eine äußere Form zu geben? Seit es das Internet gibt, versuchen Menschen räumliche Bilder und Metaphern zu finden, um das zu beschreiben, was wir dort tun. Wir “surfen” auf der “Datenautobahn”. Wir gehen “ins Internet”, wie wir ins Schwimmbad gehen.

Die lange Straße des Metaverse

In der Science Fiction herrschte lange die Vorstellung, dass eine Version des Internets, die wir räumlich erfahren können, dessen nächste (oder letzte) Stufe ist. Ein Film wie Tron hat über Jahrzehnte die Vorstellung davon geprägt, dass wir eines Tages ein bestimmtes Raum- und Distanzempfinden haben werden, wenn wir mit Programmen und anderen Usern in digitalen Umgebungen interagieren. Aus dem Cyberpunk der 80er und 90er stammt die Vision des Internets als Virtual Reality, etwa in Neal Stephensons Snow Crash (1992), in dem die Weiterentwicklung des Internets, das “Metaverse”, aus einer die virtuelle Welt umspannenden Straße besteht, an deren Rändern virtuelle Orte wie Gebäude platziert sind. Um von einem Ort zum anderen zu kommen, kann man nicht, wie heute, einfach klicken, sondern muss einen Weg zurücklegen.

Was passiert, wenn diese Vorstellung vom Anfang des vernetzten Zeitalters von der Realität eingeholt wird, lässt sich sehr schön am Cyberpunk-Rollenspiel Shadowrun zeigen. 1989 erschaffen als ein gerne belächeltes Mashup aus Cyberpunk im Stil von William Gibson und klassischen Fantasy-Konzepten der Dungeons&Dragons-Prägung (Elfen, Trolle, Zauberer), hat sich Shadowrun als erstaunlich unkaputtbar erwiesen. Es existiert immer noch. Die letzte Überholung der Regeln erschien 2013 – ein ziemlicher Zeitraum in Sachen Entwicklung des Internets also.

Die Matrix von Shadowrun

Shadowrun spielt 62 Jahre in der Zukunft und es wurde Ende der 80er konzipiert, also besitzt es dem Zeitgeist entsprechend seine eigene Version des räumlichen Internets, die “Matrix”, in die sich Charaktere mit Hilfe von “Cyberdecks” (Computer, die direkt mit dem Gehirn interagieren) “einstöpseln”, um Datendiebstahl zu begehen und mit feindlichen Programmen (“Intrusion Countermeasure Equipment”, ICE) zu kämpfen. Nur Spezialisten, sogenannte “Decker”, besaßen 1989 die Fähigkeit, durch die Datenbahnen zu reisen und den Kampf ihrer Kumpanen auf der Straße im virtuellen Raum zu unterstützen.

© FASA

Nichts fängt für mich diese Vorstellung so ein, wie das Cover der zweiten Ausgabe von Shadowrun von 1992, mit der ich das Spiel kennenlernte. Ein Typ mit Handfeuerwaffen und eine Magierin im Latexbikini sichern den Terminal, an dem ein Elf sich per Kabel mit der Matrix verbindet. Dieses Bild hat sich in meine Vorstellung der Cyberpunk-Zukunft eingebrannt wie kaum ein anderes.

In der typischen Unebenheit von Science-Fiction-Visionen war es 1989 also denkbar, dass Mitte der 2050er Interfaces zwischen Körper und Computer (“Cyberware”) zur Normalität gehören, aber nicht, dass jede und jeder ständig online ist. Daher ist es faszinierend zu beobachten, wie sich das Matrix-Spielkonzept über die verschiedenen Editionen des Spiels weiterentwickelt hat, um mit der realen Entwicklung des Internets Schritt zu halten.

Schwarze Ebene unter schwarzem Himmel

2005, mit der vierten Ausgabe, schrieben die Designer einen vollständigen Crash des globalen Datennetzes in die fiktionale Historie der Spielwelt, um das Zukunfts-Internet danach neu aufzubauen. Auf die neue Matrix des Jahres 2070 lässt sich drahtlos zugreifen, von allen Figuren, und sie ist auch als “Augmented Reality” über Brillen, Kontaktlinsen, künstliche Augen und “Kommlinks”, die Smartphones der Zukunft, erfahrbar. Decker sind inzwischen so etwas wie die Vinyl-Sammler der Spielwelt, es gibt sie noch und sie fühlen sich wie eine Elite, aber sie sind Raritäten geworden.

Doch um weiterhin Cyber-Abenteuer erleben zu können und diese spannend zu gestalten, existiert nach wie vor auch eine völlig immersive Virtual-Reality-Version der Matrix, inklusive virtuellen Abbildungen von realen Orten, skeuomorphischen Icons, die realen Internet-der-Dinge-Gegenständen nachempfunden sind, und der Vorstellung einer “schwarzen Ebene unter einem schwarzen Himmel”, die “vom Leuchten … der Icons in der Umgebung erleuchtet” wird, wie die fünfte Edition der Regeln ausführt. Durch diese Ebene fliegt oder läuft man mit seiner virtuellen Persona und interagiert in schwebenden “Hosts” mit anderen Personas und Icons.

Die auf reale Entwicklungen (und Prognosen) angepasste Version der fiktionalen Matrix beruft sich also immer noch primär auf Raumvorstellungen aus einer Zeit, als wir noch nicht immer und überall von Datenströmen umgeben waren und jederzeit per Knopfdruck darauf zugreifen konnten. Vielleicht liegen die Spielentwickler damit gar nicht so falsch. Sobald es nämlich darum geht, eine Online-Erfahrung mit anderen Userinnen zu teilen, die über das reine Austauschen von Informationen wie in Chats oder sozialen Netzwerken hinausgeht, scheint man irgendeine Art von gemeinsamem, dreidimensionalem Raum teilen zu müssen, etwa in MMORPGs.

Die Zukunft von Facebook Spaces

Dafür spricht auch Facebook Spaces, die App für VR-Treffen, die Facebook vor ein paar Wochen vorgestellt hat. Auf primitive Art entspricht die im Promo-Video gezeigte Benutzeroberfläche dann doch wieder den räumlichen Verhältnissen von Tron und Shadowrun. Menschen und Objekte werden durch Avatare repräsentiert und es gibt ein neutrales Grundsetup, das mit Inhalten gefüllt wird. Der Unterschied ist, dass sich die Avatare in ihrer virtuellen Konferenz quasi nicht bewegen, so wie sich auch ihre User nicht bewegen. Stattdessen verändern sie die Welt um sich herum, tauchen in Fotos und Videos ein und wechseln diese mit einem Klick. Im Grunde machen sie das gleiche, was sie vorher auch taten, wenn sie das Internet nutzen, nur dass der Bildschirm sie jetzt komplett umgibt.

Wir sollten davon ausgehen, dass das zumindest für die nähere Zukunft, die Räumlichkeit des Internets sein wird: Kein Raum, durch den wir uns bewegen, wie eine Figur auf einem Schachbrett oder eine Person einem Holodeck, sondern ein Raum, der sich um uns bewegt, wie bei einem Green Screen Effekt. Keine Achterbahn sondern ein Simulator Ride. Wenn wir in diesem Raum von einem Ort zum anderen wollen, kann er sich also auch verändern, ohne dass wir den Weg von A nach B in der virtuellen Welt zurücklegen müssen. Wer in Google Street View zwei verschiedene Plätze anschauen will, muss ja schließlich auch nicht auf den abfotografierten Straßen vom einen zum anderen laufen.

Raum ist also etwas, das dem Internet durchaus gut zu Gesicht steht. Aber Entfernung und Bewegung wird es auf abgesehene Zeit weiterhin nicht brauchen – außer um Pokémons zu jagen.