Das Ende der Hyper-Stasis?

Alles beschleunigt, aber nichts verändert sich. Das ist das dominante Zeitgefühl der Postmoderne, spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Krisen mögen zunehmen, die Computerchips kleiner werden, aber wann war das letzte Mal, dass wir in der nördlichen Hemisphäre wirklich das Gefühl hatten: Oh, das ist neu, und das wird alles verändern?

Die globale Pandemie? Na ja, ich arbeite jetzt halt vier Tage die Woche von zu Hause und habe drei Jahre lang Maske getragen, aber trotz der vielen Toten – mein Leben hat sich eher trotz als wegen Covid verändert. Der Krieg in der Ukraine? Ich habe meine Abschlagszahlung für Öl und Gas etwas erhöht, fertig. Ich weiß natürlich, dass es viele individuelle Schicksale gibt, die die Auswirkungen deutlich mehr gespürt haben, als ich. Aber aus breiterer Perspektive hat sich doch das Leben im Rest der Welt auch nicht mehr verändert als bei einem Krieg, der weiter weg gewesen wäre. Das ist ja das absurde.

Simon Reynolds hat für dieses Gefühl in seinem Buch Retromania den Begriff Hyper-Stasis geschaffen. Ich habe mal das längere Originalzitat rausgesucht, das sich ursprünglich nur auf Musik bezieht. Reynolds beschreibt,

feeling impressed by the restless intelligence at work in the music, but missing that sensation of absolute newness, the sorely craved ‘never heard anything like this before’. Hyper-stasis can apply to particular works by individual artists, but also to entire fields of music. (…) In the analogue era, everyday life moved slowly (you had to wait for the news, and for new releases) but the culture as a whole felt like it was surging forward. In the digital present, everyday life consists of hyper-acceleration and near-instantaneity (downloading, web pages constantly being refreshed, the impatient skimming of text on screens), but on the macro-cultural level things feel static and stalled. We have this paradoxical combination of speed and standstill.

Simon Reynolds: Retromania: Pop Culture’s Addiction to its Own Past (2010)

Ich denke über dieses Gefühl seit mindestens zwölf Jahren nach, und ich suche entsprechend seit zwölf Jahren nach einem Ausweg daraus. Jetzt, 2023, bin ich erstmals bereit, zu behaupten: Ich denke, er steht bevor. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine folgt der Formel Change by Disaster. Der andere hat Kulturproduktion jetzt schon grundlegend verändert – und dabei hat seine Zeit gerade erst begonnen.

Klimawandel oder Klimakatastrophe?

Das erste, was mir einfiel, nachdem ich Retromania gelesen hatte, war: Wie hängt das alles mit Untergangsdenken zusammen? Ich habe sogar Simon Reynolds bei einer Lesung danach gefragt: Wäre nicht eine Katastrophe der Ausweg aus der Hyper-Stasis? Er hat gelacht und hatte keine weiteren Gedanken dazu, aber ich bleibe dabei: Ist das nicht in einer apokalyptisch geprägten Kultur wie der unseren eigentlich sogar der explizite Wunsch, auf den wir hinsteuern? Eine große Zäsur, eine wirkliche Zeitenwende, die die Spreu vom Weizen trennt und uns in einem Zug endlich von der großen Ennui befreit, die mit der Hyper-Stasis einhergeht.

Die Pandemie hatte ja bei vielen Menschen interessanterweise genau den gegenteiligen Effekt. Sie war etwas Schleichendes, Unsichtbares. Keine unmittelbare Bedrohung, sondern etwas, was für noch mehr Zeitlosigkeit sorgte.

Aber: Wie steht es mit der bevorstehenden Klimakatastrophe?

Als ich mit meinem Kulturindustrie-Co-Host Sascha im November 2019 über Nostalgie gesprochen habe, hat er etwas gesagt, was mir sehr im Kopf geblieben ist: “Ich glaube, dass das alles in der Zukunft noch schlimmer wird.” Die Angst vor der Zukunft werde die ganze Welt in die Vergangenheit treiben, meinte er. Das passt zu dem, was ich im Oktober geschrieben habe: Eventuell besteht die Reaktion der Menschheit im Angesicht der Katastrophe vor allem in einem herzhaften “Weiter so”.

Vielleicht aber sorgen die zunehmenden Vorboten des Kollapses aber auch für eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung in der großen Erzählung der Menschheit. Eventuell möchte diese doch lieber eine sein, die die Katastrophe in letzter Minute abgewendet hat, als eine, die sehenden Auges und trägen Geistes in sie hineingelaufen ist.

Bei mir und bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung, insbesondere in den Generationen nach mir, ist dieses Bewusstsein ja bereits erwacht. Ich glaube, dass es nicht nur die reine Angst ist, die alle antreibt, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, sondern auch der Wunsch, aus der bisherigen Rückwärtsgewandtheit auszubrechen.

Das also ist der erste Faktor für den Weg aus der Hyper-Stasis. Die Katastrophe kommt. Und egal ob wir sie abwenden oder nicht – die Welt, auch die kulturelle, wird dadurch auf jeden Fall neu geformt.

Geist in die und aus der Maschine

Der zweite wird seit letzem Jahr so viel diskutiert, dass es fast schon müßig scheint, ihn zu erwähnen. Aber dennoch: Ich denke, dass die zunehmende Macht von generativer Künstlicher Intelligenz uns aus der Hyper-Stasis führen könnte. Was Midjourney, ChatGPT und Co derzeit so fabrizieren, hat bei mir auf jeden Fall das erste Mal seit sehr langer Zeit ein Gefühl von Neuheit und Revolution in der Kulturproduktion hervorgerufen, wie Reynolds es beschreibt. Und das, obwohl generative KIs nur auf Daten und Referenzen zugreifen können, die bereits bestehen, also per Definition eigentlich nichts Neues schaffen können.

Und tatsächlich ist ein großer Einsatzort von generativer KI derzeit die Heraufbeschwörung von Nostalgie und Retromanie, meist für Dinge, die es nie gegeben hat (was Roland Meyer unter #ArtificialNostalgia und #NostalgicWeirdness zusammengefasst hat). Aber nicht nur werden die Maschinen-Lernmodelle schon jetzt von Monat zu Monat besser, sondern auch ihre Operatoren lernen ständig dazu.

Wenn man bedenkt, dass die letzte große Neuheit etwa in der Musik der Einsatz von Computern als Werkzeug war, erscheint es mir nur logisch, dass der nächste große Schritt in der Kulturproduktion der Einsatz von Software sein wird, die in der Lage ist, selbst Kultur zu schaffen. Wird sie damit alleine gelassen, dürfte sie nie etwas genuin Neues erzeugen, allen Befürchtungen von “self-aware” KIs zum Trotz. Aber Mensch und KI sollten gemeinsam in der Lage sein, Kultur zu schöpfen, die keiner von beiden alleine hätte generieren können und die sie wirklich neu anfühlt.

Ich habe bei Zukunftsvorhersagen und Potenzial-Prognosen neuer Technologien nicht die beste Bilanz. Vielleicht bin ich auch nur älter geworden und habe einfach ein großes Bedürfnis nach Ausbruch aus dem Bisherigen. Aber ich denke doch, dass der Hyper-Stasis-Vibe-Shift uns bereits erfasst hat.

Oder?

Foto von Ville Palmu auf Unsplash

8 thoughts on “Das Ende der Hyper-Stasis?”

  1. Krasser Artikel. Danke dafür!

    Bin irgendwie über diesen Satz gestolpert: “Wenn man bedenkt, dass die letzte große Neuheit etwa in der Musik der Einsatz von Computern als Werkzeug war…” und war sofort offended, weil das irgendwie ein krasses Understatement ist. Absolut nicht falsch, aber es verniedlicht die Dimensionen, in denen sich Musikproduktionen in den letzten 10-20 Jahren demokratisiert hat. Der Computer ist ja nicht nur ein Werkzeug, sondern er hat komplette Tonstudios in die Schlafzimmer dieser Welt getragen. Da ist eine komplett neue Generation von Musikern herangewachsen, mit völlig neuen Möglichkeiten und Selbstverständlichkeiten…

    … denen die KI-Entwicklung demnächst äußerst schmerzhaft gegens Schienbein treten wird. Dass die Kreativität-Gegen-Geld-Branche durch KI massiv beeinträchtig wird, lässt sich bei der ganzen Geschichte noch am leichtesten vorhersagen.
    Ansonsten halte ich es ein bisschen wie Michael Seemann, der in einem Tweet letztens sinngemäß meinte, dass die KI unsere Welt ziemlich drastisch beeinflussen wird, nur auf eine Art, die wir heute noch gar nicht auf dem Schirm haben.

    Anyway, schönes Gedankenspiel. Also, “schön”, aber es formuliert das Gefühl, was ich auch seit ein paar Jahren mit mir rumtrage, recht anschaulich aus. Thx :)

    1. Für die Musikproduktion hast du sicher recht. Aber für die Musik als kulturelles Produkt denke ich, dass sich seit den 1980ern eigentlich alles mehr oder weniger nur noch rekombiniert hat. Und Michael Seemans Zitat würde ich zustimmen.

  2. Hehe, klingt wie das Zitat aus Strange Days, wo irgendwer meinte, dass alles schon mal da gewesen wäre und nix neues mehr kommen würde. Das glaube ich nicht. Ich seh zumindest schon bei der Musik, dass da neue Dinge passieren. Neue Produktionstechniken bringen auch neue kreative Herangehensweisen mit sich. Der Sound heute ist schon ein deutlich anderer, als allein in den 90ern. Das ist sicher viel Evolution und weniger Revolution, aber sowas wie DubStep wäre technisch damals gar nicht möglich gewesen und das ist schon ein recht drastischer neuer Sound.

    Das hat nur nicht mehr den kulturellen Impact, wie seinerzeit Rock oder Punk oder Techno. Keine Ahnung, woran das liegt – ich tippe auf das andere Mediennutzungsverhalten oder den Wegfall von Gatekeepern wie Radio oder MTV oder so. Vielleicht liegts auch am Überangebot, weil eben jeder und sein Hund heute produzieren kann. Die Masse ist schlicht gewaltig.

    Was du meinst, wenn du sagst, dass sich der Sound seit den 80ern nicht groß verändert hat, hat unmittelbar mit deiner These der Retro-Kultur zu tun, denn ja, der Sound wird zur Zeit gerne und ausgiebig reproduziert und findet auf Grund des Nostalgie-Faktors vielleicht noch eher im Mainstream statt.

    Aber das hat alles mit deinem Text nur am Rande zu tun, ich habe nur gerade genau diese Perspektive auf das Thema und mach mir so meine Gedanken. Sorry für die Wall Of Text :)

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  4. Deinen Optimismus in allen Ehren, aber ich glaub da kommt nichts mehr, weil wir uns an einfach alles gewöhnen, auch das Aussterben. Der Klimawandel oder die Klimakatastrophe (richtig wäre meiner Meinung nach „Ende der Menschheit“, aber das könnte ja Teile der Bevölkerung verunsichern) findet ja längst statt. Also jetzt. Wir sind mittendrin und schon verdammt gut darin ihn zu ignorieren. Nicht nur anderswo, sondern auch bei uns zu Hause. Dürrejahre, Ahrtal, Trinkwasserknappheit – spielt alles keine Rolle. Ironischerweise ist ausgerechnet Sekundenkleber länger in den Nachrichten. Lösungen gäbe es, aber es herrscht eine alle gegen jeden Kakophonie. Soll heißen: das geht so weiter mit dem ignorieren, weil unser Langzeitgedächtnis bereits die Laufzeit unseres Kurzzeitgedächtnisses unterläuft. Bald heißt es dann: „Früher hat es auch schon nicht geschneit! Mein Großvater musste damals im Dezember bei 30 Grad 15km durch Schlamm und Wüste zur Schule …“

    Und künstliche Intelligenz gibt es nicht. Nur eine Simulation, bestenfalls schlechten Remix von allem, was schon mal da war. Anders ausgedrückt: noch mehr vom ewig gleichen. Das haben wir jetzt schon so lange, dass keiner mehr Innovation als solche erkennen würde, selbst wenn wir sie direkt vor der Nase hätten. Und wenn doch, dann bleiben wir lieber bei dem, was wir schon kennen. Das haben uns die Algorithmen so eingetrichtert, und die automatisierten Generatoren füttern sich nur noch gegenseitig damit, bis alles derart verflacht ist, das jede abweichende Regung wegredigiert und rausgefiltert wird. Ist ja sonst kein Wachstum mehr.

    Ich würde gerne an den Sieg der Vernunft glauben, aber die Menschheit wiederholt ihre Fehler seit Anbeginn der Zeit immer wieder, so sicher wie früher einmal die Jahreszeiten aufeinander folgten. Jetzt bleibt uns nur noch die Umrundung der Sonne als wiederkehrendes Phänomen. Erzähl das aber keinen Flat-Earther, weil die erschlagen dich lieber, als sich von der kopernikanischen Wende einholen zu lassen.

    1. Danke für die Antwort. Dass die KI nicht alleine arbeitet ist ja genau der entscheidende Unterschied, den ich machen würde. Sonst kommt, logo, nur Wiedergekäutes.

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