Verlassene Waldwege: Tod eines Stasi-Agenten

Eine „Shaggy Dog Story“ bezeichnet im Englischen eine Art Antiwitz, der in langen, durchaus amüsanten Ausschweifungen seemannsgarnartig am Ende auf eine eher enttäuschende Pointe hinausläuft. Über weite Strecken gleicht die sechsteilige Featureserie „Tod eines Stasi-Agenten“ von WDR5 und Danmarks Radio einer solchen Shaggy Dog Story. Eine Abenteuergeschichte mit scheinbar erstaunlichen Wendungen aber ohne größere Erkenntnis. Hauptfiguren sind die dänische Journalistin Lisbeth Jessen und Eckardt Nickol, ein in Dänemark lebender Deutscher, den Jessen 2007 für das dänische Fernsehen interviewte. Nickol erzählte in diesem Interview von seinem Leben als Stasi-Agent und davon, wie er nach der Wende auch weiter aus seinen Geheimdienst-Verbindungen Profit schlagen wollte. 2008 wird er von einer Freundin an seinem Wohnort, einer dänischen Feriensiedlung, tot aufgefunden. Kurz vor seinem Tod hatte er sich bei Jessen gemeldet und ihr gesagt, dass er um sein Leben fürchtet.

Grund genug für Jessen und ihren deutschen Kollegen Johannes Nichelmann, den Fall Nickol neu aufzurollen. Nickol war nicht nur Stasi-Mitarbeiter, der nach eigener Aussage international Agenten geführt und geworben hat und enge Verbindungen zum sowjetischen Nachrichtendienst GRU besaß, er war auch – das meinen zumindest die Experten der Stasi-Behörde – ein Hochstapler. Laut seiner Personalakte beim Ministerium für Staatssicherheit ist er zu DDR-Zeiten nie aus Erfurt herausgekommen, hat allenfalls ein paar Erfurter Rentner angeworben. Alle brisanten Dokumente, die er nach dem Fall der Mauer Journalisten und Geheimdiensten für viel Geld angeboten hat, waren entweder gefälscht, bedeutungslos oder letzten Endes von Nickol nicht produzierbar, beispielsweise in einem Deal mit dem BND vor einigen Jahren.

Die einzigen Menschen, die seine Aussagen stützen, sind sein Sohn, seine Exfreundin und die Dokumentenhändlerin Christina Wilkening, die sich vor kurzem vor dem Landgericht Schwerin wegen Bestechungsvorwürfen verantworten musste. War Eckardt Nickol also ein Lügner, der den ständigen Wunsch westlicher Medien nach saftigen Agentengeschichten zu seinem Vorteil genutzt hat? Jessen und Nichelmann können es nicht endgültig beweisen, und deswegen stellen sie auch nicht die eigentlich interessantere Frage nach der Psychologie dieses verschwörungstheoretischen Apparates. Stattdessen dokumentieren sie ihre eigene Recherche über zweieinhalb Stunden Laufzeit chronologisch, inklusive aller Sackgassen und mit investigativer Ernsthaftigkeit, die dadurch verstärkt wird, dass die Dänin Lisbeth Jessen von der Schauspielerin Angelika Bartsch mit Krimi-Gravitas übersprochen wird.

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Seite des WDR zu “Tod eines Stasi-Agenten” mit Podcast-Downloads

Drei Minuten vor zwölf

Als jemand, der Anfang der 1980er Jahre geboren wurde, hatte ich Zeit meines Lebens Schwierigkeiten damit, das Lebensgefühl dieser Dekade nachzuempfinden – bis vor einigen Jahren, als der Zeitgeist plötzlich wieder zu passen schien. Warum das so sein könnte, darauf legen andcompany&Co. in ihrem Hörspiel, das auch als Theaterstück schon durch Deutschland getourt ist und den unmerkbaren Namen WARPOP MIXTAKE FAKEBOOK VOLXFUCK PEACE OFF! ‘Schland Of Confusion trägt, eigentlich ganz gut den Finger: Angst.

Die “Doomsday Clock”, die Weltuntergangsuhr, die die Gefahr der globalen Bedrohung anzeigt, ist 2015 wieder auf drei Minuten vor zwölf vorgestellt worden, zum ersten Mal seit 1984. Das nimmt die Performance-Gruppe zum Anlass, um wie mit einem riesigen Schaufelbagger die kulturellen Artefakte von damals aufzuklauben, sie über dem Heute wieder abzuwerfen und in einem akustischen Thermomix kräftig mit der momentanen Stimmung zu verquirlen. In einer fiktiven Radiosendung stellt die fiktive Band “Die Schlitz” ihr Album “Schewenborn” vor, benannt nach Gudrun Pausewangs 1983 erschienenem Anti-Atomkriegsroman Die letzten Kinder von Schewenborn, der seinerseits in einer fiktiven Kleinstadt spielt.

Was es Mitte der 80er nicht alles gab. James Camerons Film The Terminator, in dem eine Maschine aus der postapokalyptischen Zukunft Jagd auf eine Frau macht, Pseudo-Protest-Pop wie Genesis’ Land of Confusion, Midnight Oils Beds are Burning und Ultravox’ Dancing With Tears in My Eyes. Heckscheiben-Aufkleber gegen AKWs und Waldsterben. Friedenskonzerte mit Udo Lindenberg. Und George Orwells drohendes Menetekel in Form eines Romantitels.

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WARPOP MIXTAKE FAKEBOOK VOLXFUCK PEACE OFF! ‘Schland Of Confusion in der WDR-Mediathek

Verdammt gutes Radio: “Der Anhalter”

Am 1. Juli verbreitete sich die Nachricht aus Baltimore wie ein Lauffeuer in den sozialen Netzwerken: Adnan Syed bekommt ein neues Verfahren. Der heute 35-jährige Syed wurde vor 17 Jahren zu lebenslanger Haft wegen des Mordes an seiner Freundin verurteilt. 2014 erfährt die Radioreporterin Sarah Koenig davon, rollt den Fall im Podcast “Serial” wieder auf und schafft damit ein globales Medienphänomen. Über fünf Millionen Menschen, ein bisher ungebrochener Rekord, hören zu, wenn Koenig Woche für Woche neue Fakten präsentiert. Am Ende bleiben erhebliche Zweifel an Syeds Schuld. Und nun, anderthalb Jahre später, haben die Recherchen tatsächlich ein neues Verfahren angestoßen.

Es ist die Hochphase des “Serial”-Booms, im September 2014, als Stephan Beuting am Verteilerkreis in Köln von einem obdachlosen Anhalter angesprochen wird. Er habe Knochenkrebs und sei auf dem Weg nach Zürich, um dort Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Beuting hört sich die Geschichte von Heinrich Kurzrock an, gibt ihm etwas Geld, erwartet nicht, ihn wiederzusehen. Doch als er seinem Kollegen Sven Preger von der Begegnung erzählt, stellen die beiden fest, dass Preger Kurzrock ebenfalls begegnet ist, ein Jahr zuvor, mit der gleichen Geschichte.

Es lässt sich aus der Entfernung schlecht sagen, ob “Serial” die direkte Inspiration für “Der Anhalter” war. Aber wenn, dann war sie auf jeden Fall nicht die schlechteste. “Der Anhalter”, der Heinrich Kurzrocks Lebensgeschichte in fünf Teilen erzählt, ist verdammt gutes Radio.

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Pitch

Im letzten Post auf diesem Blog ging es um das Finden von Geschichten und darum, dass sich diese besonders in Audioform gut erzählen lassen. Ein Projekt, das beide Aspekte abdeckt ist der Podcast “Pitch“, den ich hiermit nachdrücklich empfehlen möchte.

Wer grundsätzlich Lust auf den Radio-Stil von Sendungen wie “This American Life“, “Radiolab” und “Planet Money” hat, und/aber das gleiche Prinzip mal auf den Bereich Musik angewendet sehen möchte, sollte bei “Pitch” sein Glück finden. Die beiden Producer Alex Kapelman und Whitney Jones erforschen in ihren bisher 14 Episoden (eine neue gibt es alle zwei Wochen in bestimmten Staffel-Zeiträumen) ganz unterschiedliche Geschichten aus dem gesamten Spektrum der Musikwelt, aber jenseits traditionellen Musikjournalismus. In “Pitch” geht es tendenziell eher um Musik als Phänomen, um Metathemen, die Genres und Epochen überspannen, aber manchmal auch um ganz konkrete Einzelgeschichten, die die Autoren einfach zu interessieren schienen.

Jede Episode ist nur zehn bis 20 Minuten lang, die 14 Folgen lassen sich also relativ flugs im Binge weghören. Wer weniger Zeit hat und nur mal in einzelne Episoden hineinhören will, dem empfehle ich Episode 1, “The Clearmountain Pause”, in der eine Legende um die dramatische Pause vor dem letzten Refrain von Semisonics “Closing Time” aufgeklärt wird; Episode 3, “Rock the Longbox”, in der eine CD-Verpackung eine politische Entscheidung herbeiführt; Episode 9, “Somewhere in my Memory” über das Phänomen, dass einzelne kleine Alltagstöne in Köpfen regelmäßig Musiklawinen lostreten können* und Episode 13, “Voice” über die Erfahrung eines trans-männlichen Sängers, der im Rahmen seiner Körperanpassung auch Testosteron genommen und seine Stimme völlig verändert hat.

Das beste an “Pitch” ist, dass es anders als all die anderen Sendungen, die ich oben aufgezählt habe, keine Radiosendung ist, die einfach nur als Podcast ausgeliefert wird. Kapelman und Jones arbeiten völlig unabhängig und derzeit sogar ohne Sponsor – anscheinend einfach, weil sie Spaß dran haben. Dafür ist die Qualität aber erstaunlich, was beweist, dass Amateur-Podcasts sich nicht auf reine “Laber”-Formate beschränken müssen. Das steigert den Mut, es selbst zu probieren.

* Ich brauche nur den Signalton der Berliner U-Bahn zu hören und “Mr. Brightside” von den Killers steckt die nächsten Stunden in meinem Ohr fest.

Mein Plan für 2015: Bessere Geschichten erzählen

Hat ja super geklappt mit meinem Vorsatz für dieses Jahr. Da hatte ich mir im letzten Dezember ausgekäst, ich könnte 2014 ein Buch schreiben, aber es hat hinten und vorne nicht gepasst. Kein Wunder, dass ich eigentlich niemand bin, der sich Vorsätze macht – sondern nur Pläne schmiedet. Mein Plan für 2015 ist weniger präzise, sein Erfolg ist weniger messbar, aber ich halte ihn für ungleich wichtiger: Ich will 2015 lernen, bessere Geschichten zu erzählen.

Dafür muss ich zunächst überhaupt üben, Geschichten zu erzählen. Bei “Real Virtuality” habe ich in den letzten Jahren vor allem Artikel veröffentlicht, die einer Art Essay-Struktur folgen, mit Thesen, Argumenten und Ausblicken. Doch je länger ich die Uni hinter mir lasse und je mehr ich meinen Lesehorizont erweitere, umso mehr begeistern mich Menschen, die Journalismus so aufbereiten können, dass er nicht nur Informationen übermittelt, sondern auch ein lebendiges Bild und eine dazugehörige Geschichte vor meinem inneren Auge entstehen lässt.

Spannender als jeder Roman

Begegnet ist mir das, wie üblich, zunächst in Printjournalismus aus den USA. Gerade Magazine, pflegen dort gerne einen Longform-Journalismus, der eben aus Vorfällen die Geschichten extrahiert, die dahinter stecken. Gute Recherche und gute Dramaturgie können dabei durchaus Hand in Hand gehen. Und was für Magazinartikel funktioniert, passt natürlich auch in Buchform – “Nonfiction” kann unterhaltsamer und spannender sein als jeder Roman.

(Ich weiß, dass es auch in Deutschland tolle Autor_innen gibt, die das können, mir begegnen sie nur seltener.) (Mein bester Versuch in diese Richtung war bisher der Artikel zu Day-and-Date-Releasing in “epd Film”, in dem auf wundersame Weise während der Recherche plötzlich eine Art Handlung entstand, wo vorher nur eine These war.)

Im Alltag versteckt

Die zweite Inspirationsquelle sind Menschen, die in der Lage sind, aus ihrem eigenen Alltag Geschichten herauszulösen. Mein Lieblingsmensch, der das macht, ist das Nuf, aber seit ich einmal damit angefangen habe, sowas zu mögen, begegnet es mir immer häufiger. Hier geben die Autoren selbst oft zu, dass sie ihr Erlebtes durch die Art ihrer Schilderung vielleicht manchmal etwas dramatischer erscheinen lassen, als es jemand beschrieben hätte, der unparteiisch daneben gestanden hätte. Ich kann das persönlich nicht so gut – es liegt einfach nicht in meiner Natur – aber die Crux ist, dass man ein Auge und ein Gefühl dafür entwickelt, wo sich im Leben manchmal Geschichten verstecken, die man auf den ersten Blick vielleicht als reine Geschehnisse abtut.

Ich übe das zurzeit schon ein bisschen im “Techniktagebuch“. Dort geht es zwar eigentlich nur darum, Begegnungen mit Alltagstechnik zu dokumentieren, aber beim Aufschreiben stelle ich häufig fest, dass in diesen Begegnungen auch kleine Geschichten mit Anfang, Mitte und Ende stecken. Die Sensibilisierung nimmt also bereits zu.

Dein Freund, das Mikrofon

Besonders gut funktioniert das Extrahieren von Geschichten aus Ereignissen, vielleicht gar nicht unbedingt erwartbar, in Audioform. Wenn die Producer von This American Life, Radiolab oder Pitch (letztere bekommen demnächst noch einen Extrapost) loslegen und mir ganz intim direkt ins Ohr hineinerzählen, oft von O-Tönen und Musik unterstützt, kann das so lebendig sein, wie ein toller Film. Ihren vorläufigen Höhepunkt hat die Form 2014 sicherlich mit Serial erreicht, wo das Format zusätzlich mit Elementen der seriellen Erzählung eine aufregende Beziehung einging – nicht zuletzt auch aus journalistischen Gesichtspunkten.

Die Radiojournalistin Sandra Müller von “radio-machen.de”, mit der ich mich vor ein paar Tagen auch auf Twitter darüber ausgetauscht habe, hat das Prinzip toll zusammengefasst: “Sprich in das Mikrofon, als wäre es ein Freund, dem du etwas erzählst.” Nachdem ich Podcast als Medium 2014 erstmals etwas ausführlicher für Berichterstattung getestet habe, will ich es 2015 unbedingt auch mal als journalistisches Erzählmedium ausprobieren.

Das also ist der Plan für 2015. Ob wirklich ein großes Projekt dabei herauskommt, zwischen all den anderen Dingen, die ich tun möchte oder muss, kann ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Aber ich übe schon. Und der Weg ist das Ziel. So ist das mit Plänen.

Schön Schief (1)

Aus einer Pressemitteilung von Mediareports und Prognos zur Entwicklung des Digitalradios im deutschsprachigen Raum:

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass langfristig die technische Konvergenz ein eigenes Radioübertragungssystem obsolet macht – Radio wäre dann wie auch das Fernsehen mit IPTV einfach internetbasiert. Teilen der Branche mag es deshalb verlockend erscheinen, die Phase der “Digitalen Eigenständigkeit” einfach zu überspringen und dann sozusagen erst am Endbahnhof des Zuges zuzusteigen.

(Quelle, Hervorhebung von mir)

Als ich das letzte Mal am Endbahnhof in einen Zug zusteigen wollte, wurde ich grummelig vom Zugführer angemotzt. Denn schließlich fuhr der Zug dann nicht mehr weiter (und sollte gereinigt werden) – aber irgendwie habe ich das Gefühl, das ist es nicht, was die Studienautoren meinen.

Meine Kollegin erinnerte das Bild auch hieran.