Ist “The Ballad of Songbirds and Snakes” ein gutes Prequel?

Manchmal sind meine Podcast-Skripte nur Stichwortsammlungen, manchmal sind sie fast echte Texte. Im letzteren Fall habe ich mich entschieden, sie auch hier zu veröffentlichen für Leute, die keine Podcasts hören. Sie sind aber natürlich trotzdem darauf ausgelegt, gesprochen (und während des Sprechens verknüpft) zu werden und enthalten evtl. Fehler.

“The Ballad of Songbirds and Snakes”, Erschienen am 19. Mai 2020, Scholastic Press
  • Suzanne Collins, die Autorin unter anderem der “Hunger Games”-Trilogie, hat ein neues Buch geschrieben, das in der gleichen Welt spielt: Panem, ein postapokalyptisches Nordamerika, das von einem Bürgerkrieg zerrissen wurde. Panem wird zentralistisch vom “Capitol” aus regiert, der Rest des Landes ist in Distrikte eingeteilt, die jeweils verschiedene Rohstoffe produzieren müssen, Distrikt 13, gelegen im heutigen Neuengland, wurde in einem Krieg der Distrikte gegen das Capitol per Atombombe ausgelöscht.
  • Das neue Buch heißt “The Ballad of Songbirds and Snakes”, deutsch “Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange”, und spielt rund 60 Jahre vor den Ereignissen der ersten Trilogie, die ja auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.
  • Hauptfigur ist Coriolanus Snow – in der Originaltrilogie ist er der Präsident von Panem, hier ist er ein Teenager, der kurz davor steht, die Schule abzuschließen.
  • Der Krieg liegt erst ein gutes Jahrzehnt zurück, Snows Familie hatte ihr Vermögen in Fabriken in Distrikt 13 und ist seitdem verarmt – aber zeigt es nicht nach außen, Vater und Mutter sind gestorben, Snow lebt mit seiner Cousine und Großmutter zusammen und muss alles daran setzen, den Namen der Familie irgendwie zu ehren.
  • Die Hungerspiele gibt es bereits, im Buch steht Ausgabe 10 im Mittelpunkt, aber sie sind noch deutlich primitiver als zu Zeiten von Katniss, der Heldin aus der Trilogie – die Tribute, Kinder aus den Distrikten, prügeln einfach in einem alten Stadion aufeinander ein bis nur noch eins am Leben ist.
  • Erstmals gibt es Mentoren, die die Tribute begleiten, Schüler aus dem Capitol. Snow ist einer von ihnen, und sein Tribut stammt aus Distrikt 12 (der gleiche Distrikt aus dem Katniss später stammt), eine Musikerin mit schillernder Persönlichkeit.
  • Die Handlung des Buchs beginnt und endet nicht mit den Hungerspielen, sie geht darüber hinaus und bemüht sich, eine Abhandlung über die Natur des Menschen (Rousseau vs Hobbes) auf Young-Adult-Niveau zu sein – also recht plakativ, aber, wie ich finde, ganz gut gemacht.
  • Suzanne Collins interessiert sich für das Motiv des “gerechten Krieges”, hat sie in einem Interview gesagt, das ich gelesen habe, und wollte hier eben diese Facette erforschen, inwiefern die Prägung von Menschen in ihr Bild von Krieg und Vergeltung mit hineinspielt
  • Wie gesagt, ich fand das Buch insgesamt – wie schon die anderen Panem-Bücher auch – ziemlich gut, vor allem in diesem Aspekt, wie sich das Leben als Teenager in dieser Reality-TV-Inszenierung spiegelt
    • Das Gefühl, ständig abwägen zu müssen, was man von sich Preis gibt, abhängig zu sein von der Außendarstellung und Außenwahrnehmung
    • Die inneren Monologe dazu sind manchmal etwas anstrengend, aber auch zutreffend
    • Generell aber auch das Thema Krieg und Leid in medialer Inszenierung, was uns daran gleichzeitig fasziniert und abstößt, welche Mechanismen dahinterstecken, fängt sie immer wieder ganz gut ein.
  • Wer also nichts gegen diesen YA-Stil hat, dem würde ich das Buch empfehlen
  • Mich hat es aber noch aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus interessiert, wie üblich, nämlich aus Franchise-Sicht und speziell aus der Perspektive des Buchs als Prequel. Also: Ein Buch, das innerhalb der Handlungswelt vor bereits beschriebenen Ereignissen spielt, aber außerhalb – also in unserer Welt – danach geschrieben wurde.
  • Innerhalb des ganzen Franchise-Apparats sind Prequels ein ganz besonders kniffliges Biest, insbesondere wenn es nicht üblich ist, dass in einer künstlichen Welt Geschichten mal hier mal da, mal jetzt mal später spielen, sondern wenn es einen Urtext gibt, der auch noch eine besonders große Strahlkraft hat.
  • Also: Prequels stecken in dieser merkwürdigen Situation, dass sie durch Ereignisse begrenzt sind, die in der diegetischen Welt noch gar nicht passiert sind. Wir als Konsumenten kennen diese Ereignisse aber bereits und wissen wo alles enden wird – wir wissen das umso besser, je näher das Prequel zeitlich am Ursprungstext angesiedelt ist – zum Beispiel wissen wir dann, welche Charaktere nicht sterben können, weil sie ja später noch am Leben sind
  • Prequels betreiben also oft so eine Art Reverse Engineering. Sie zerlegen ein bereits existierendes Ding in seine Bestandteile, untersuchen diese und zeigen oft, wie diese dann wieder zusammengesetzt werden
    • Zum Beispiel: Die Sequenz am Anfang von “Indiana Jones and the last Crusade” zeigt wie Indie seine Angst vor Schlangen, seinen Hut und seine Peitsche bekommt
    • Die Star Wars Prequels zeigen, wie Anakin Skywalker zu Darth Vader wurde und das Imperium entstand
  • Darin steckt aber auch gleichzeitig die Gefahr: Anders als aber bei echtem Reverse Engineering muss man sich nämlich nicht auf die Teile beschränken, die man dem Original entnommen hat, sondern kann beliebig viel dazuerfinden
  • Autor*innen lassen sich aber gerne davon beschränken, weil sie dramatische Ironie lieben
  • D.h. sowohl sie als auch die Konsument*innen sind Mitwisser*innen und können deswegen die Charaktere in Situationen bringen, deren Tragweite diese selbst nicht ahnen können, denn anders als wir wissen sie ja nicht, was noch passieren wird. Im letzten Podcast habe ich ja darüber gesprochen, dass Geschichte ja immer erst im Nachhinein Geschichte wird, und erstmal nur aus Ereignissen besteht.
  • Wenn dieses Verlassen auf Bekanntes aber zu viel passiert, kann das auch dazu führen, dass die gesamte fiktionale Welt sehr klein erscheint, und viele weitreichende Ereignisse am Ende nur mit wenigen Charakteren zu tun haben
    • Beispiel: Star Wars Prequels
  • Was also macht ein Prequel zu einem guten Prequel. Mit Bezug auf Dawn of the Planet of the Apes habe ich damals drei Merkmale herausgearbeitet:
    • Ein gutes Prequel verweigert sich der Zirkellogik, in der sich alles nur auf vorher Veröffentlichtes bezieht und öffnet die Welt, um neue Anknüpfungspunkte auch für die Zukunft zu bieten
    • Seine Verwandtschaft zum Ur-Text beweist der Film statt durch direkte erzählerische Bezüge lieber durch Motive, die wie Echos durch die ganze Saga hallen
    • Den direkten Bezug findet der Film, indem er nach entscheidenden Momenten sucht, die sozusagen die Timeline der Welt endgültig in Richtung des Originaltextes ausrichtet.
      • “Dawn” macht das, in dem es den Moment markiert, in dem die Affen beginnen, einander zu töten und damit auch ihren pazifistischen, zurückgezogenen Lebensstil aufgeben und sich gegen die Menschen richten
  • Wie sieht das in Bezug auf “Songbirds and Snakes” aus? Ab jetzt werde ich das Buch naturgemäß ein wenig spoilern.
  • Beim ersten Punkt, würde ich sagen, ist das Buch so in der Mitte. Es macht zum Beispiel keinerlei neue Schauplätze auf, die wir nicht aus den Originalbüchern kennen und bietet wenig Neues, das man in Zukunft noch weiter erforschen könnte. Die gesamte Handlung dreht sich nur um die Hungerspiele und um das Leben in Distrikt 12, wie schon zuvor. Am neusten ist noch die Organisation der Peacekeeper und das Leben der Menschen im Capitol, was wir früher nur aus der Außensicht kannten.
  • Allerdings enthält die Handlung auch nur zwei Charaktere, die in den späteren Büchern ebenfalls vorkommen, und dort auch nicht als Hauptfiguren – Coriolanus Snow und seine Kusine Tigris
  • Direkte Bezüge zum Ur-Text gibt es generell wenige, am prominentesten wahrscheinlich das Lied “The Hanging Tree”, zu dem hier eine Ursprungsgeschichte geschaffen wird; es gibt auch einen etwas nervigen direkten Bezug auf Katniss – dieser Art von Insider-Witzen zum Publikum scheint sich kein*e Autor*in entziehen zu können
  • Motive aber sind einige da, wie oben erwähnt, und tatsächlich sucht sich Collins auch einen “Sündenfall”-Moment als Dreh- und Angelpunkt des Romans aus – der Punkt nämlich, in dem die Hungerspiele von einem barbarischen Bestrafungsritus zu einem medialen Ereignis werden. Für meinen Geschmack passieren hier ein bisschen viel Entwicklungen (Mentoren, Sponsorships, Wetten, Abenteuer-Arena, Victor Village) auf einmal, aber es ist ein interessanter Gedanke, sich zu überlegen, dass es diesen Pivot Point irgendwann gab und wie sehr er half, die Macht des Capitols zu zementieren.
  • Also: Das Prequel erfüllt meine damals festgelegten Kriterien nur zum Teil, es ist doch recht stark an seinen Urtext gebunden. Und genauso ambivalent fühle ich mich ihm gegenüber auch.
    • Einerseits erzählt es trotz allem eine sehr eigenständige Geschichte anhand eines neues Hauptcharakters und gibt dieser Geschichte genug Raum und Tiefe, damit sie interessant ist
    • Andererseits psychologisiert sie damit viele Ereignisse aus den vorhergehenden Büchern im Nachhinein auf eine vielleicht unnötige Art – muss Coriolanus Snow wirklich eine verlorene Liebe in Distrikt 12 haben, damit ihn Katniss 60 Jahre später provoziert? Am blödesten fand ich eigentlich die finale Enthüllung des Buchs zu den Ursprüngen der Hungerspiele, die das Universum von Panem wie oben beschrieben ziemlich klein werden lässt – die reale Welt ist doch irgendwie chaotischer und komplexer
    • Im Interview hat Collins gesagt, dass sie beim Schreiben der Originaltrilogie schon eine vage Vorstellung der Hauptfiguren dieser Geschichte hatte, es ist also zumindest alles kein großer Retcon.
  • Schlechte Prequels geben einem immer Antworten auf Fragen, die man gar nicht haben wollte. Ich würde sagen: “Songbirds and Snakes” hängt ein bisschen dazwischen. Einige seiner Antworten sind gut, andere nicht so sehr – und es verschenkt ein wenig die Chance, die Welt zu öffnen und zum Beispiel mal andere Distrikte zu besuchen. Aber auf einer Metaebene verhandelt es eben auch genau diese Fragen – wie werden wir zu dem, der wir sind, welche Entscheidungen treffen wir warum? und das fängt die schlechten Antworten meiner Ansicht nach etwas auf.

Alien: Covenant stellt die wichtigste Frage aller Sequels

© 20th Century Fox

In space, no one can hear you spoil

Die Vision des “interaktiven Films”, die vermutlich den meisten Menschen noch im Kopf klebt, sieht wie folgt aus: Der Film beginnt mit einer Hauptfigur und läuft für einige Zeit wie ein normaler Film ab, bis diese Hauptfigur eine Entscheidung treffen muss. Der Film stoppt und die Zuschauenden stimmen ab, wie die Entscheidung ausfällt. Der Film läuft dann entsprechend weiter. Durchgesetzt hat sich dieses Prinzip nicht nur deswegen nie, weil der Produktionsaufwand für alle möglichen Szenen eines sich immer weiter verzweigenden Entscheidungsbaums irgendwann etwas unübersichtlich wird, sondern auch, weil bestimmte Geschichten gar nicht immer wieder in verschiedene Richtungen gezogen werden wollen. Selbst Videospiele, die dieses Prinzip zum Teil umgesetzt haben, bieten oft nur Pseudo-Entscheidungen an.

Alien: Covenant, das haben viele Kritikerinnen und Kritiker angemerkt, wirkt als Ganzes so, als würde es bei einer solchen Entscheidung innerhalb der größeren Alien-Saga auf der Stelle treten. Als recht direktes Sequel zu Prometheus nimmt des die Handlungsfäden rund um den Androiden David und die “Engineers”, die außerirdische Rasse, die eventuell die Menschheit geschaffen hat, auf, führt eine Raumschiffcrew auf den Engineer-Heimatplaneten und deutet weitere große Fragen an, die Regisseur Ridley Scott rund um Schöpfer und ihre Geschöpfe zu beschäftigen scheinen. Covenant macht aber auch das ursprüngliche Monster wieder zum Gegenspieler, den sogenannten Xenomorph, der sich in drei Evolutionsstufen (Ei, Facehugger, Xenomorph) mit Hilfe menschlicher Wirte zum tödlichst denkbaren Organismus entwickelt. Und er scheint sich nicht so recht entscheiden zu können, welche Geschichte er erzählen will.

Mythologie, Schmythologie

Kein Wunder, wenn man auf die Entstehungsgeschichte des Films schaut: Scott wollte ursprünglich auf genau dem Weg weitergehen, den er mit Prometheus beschritten hatte. Er wollte die mythologischen Fragen hinter seinem ursprünglichen Alien-Film erforschen. Wo kommen die Aliens her? Wer hat sie geschaffen? Welche Beziehung haben sie zur Menschheit? Drehbuchautor John Logan, und sicher auch die Marketing-Abteilung des Studios, drückten Scott jedoch stärker zurück zu den Wurzeln des Franchises – Menschen werden in einem Raumschiff, oder auf einem Planeten, von fiesen Kreaturen verfolgt. Mythologie, Schmythologie.

In der Kritik wurde die daraus resultierende Unentschlossenheit des Films, in der das Alien zwar irgendwie alle klassischen Verfolgungssituationen wie einen Parcous durchläuft, der eigentliche Gegenspieler aber der Größenwahn von David ist, entsprechend aufgenommen. Entweder nervte der epische Sci-Fi-Überbau – Glen Wheldon fasste im NPR-Podcast Pop Culture Happy Hour zusammen, alles, was er von einem Horrorfilm Marke Aliens wissen müsse sei “There are beasties”, der Rest sei überflüssig – oder das halbherzig eingefügte Alien, ohne das der Film vielleicht besser gewesen wäre. Die Unentschlossenheit an sich ist aber das Resultat einer wichtigen Frage, die sich im Franchise-Zeitalter immer häufiger stellt: Wie, zum Teufel, hättet ihr eigentlich gerne eure Sequels?

Prozedur oder Welt

Denn im Grunde liefert Alien: Covenant in einer Art Meta-Prozess zwischen denen, die die Filme machen und denen, die sie rezipieren, eine Auswahlmöglichkeit, die beinahe an die anfangs erwähnten interaktiven Filme erinnert. Wollt ihr, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, lieber, dass jeder Film das Grundprinzip des Originals unangetastet lässt, und es nur ad nauseam in neue Kontexte setzt, wie es jahrzehntelang bei Fortsetzungen üblich war? Oder wollt ihr, dass sich Filmemacherinnen und Filmemacher tatsächlich überlegen, welche Geschichten sich innerhalb der etablierten Diegese außerdem erzählen lassen – auf die Gefahr hin, dass sich der Fokus der späteren Filme verschiebt? Liegt die Essenz des Films in seinen prozeduralen Eigenheiten – am Anfang eine Leiche, am Ende eine Verhaftung; oder eben am Anfang ein Alien, am Ende ein Final Girl – oder in der Welt, die er erschafft?

Immer mehr Filme geben heute die zweite Antwort, genau wie auch immer mehr Fernsehserien die zweite Antwort geben und sich vom starren Festhalten an bestimmten Konventionen lösen, gerade wenn sie von Streamingdiensten produziert werden (z. B. Master of None oder BoJack Horseman). Mit Bezug auf die Planet of the Apes-Filme habe ich hier im Blog mal festgehalten, dass sich erfolgreiche Prequels (und Covenant ist ein Prequel) eher durch Weltöffnung, visuelle Motive, und entscheidende narrative Momente auszeichnen als dadurch, Plotlöcher eng zu schließen oder Bekanntes zu wiederholen.

Alien: Covenant versucht, beide Antworten auf einmal zu geben und scheitert wahrscheinlich – je nachdem, wer zuschaut – immer mindestens mit einer von beiden. Ich persönlich mochte Scotts philosophisches Geschwurbel und die Welt, die er dafür entwirft. Covenant macht Prometheus sogar im Rückblick besser. Aber ich weiß, dass ich damit eher in der Minderheit bin.

Wie hättest du gerne deine Fortsetzungen?

Was uns Dawn of the Planet of the Apes über gute Prequels lehrt

Spoilerfrei bis fast zum Schluss (mit Extrawarnung)

Schon Eddie Izzard hat gesagt: “Guns don’t kill people, people kill people – but monkeys do too, if they’ve got a gun.” Und noch befindet sich ein Film in unseren Kinos, der genau diese Comedy-Routine zu illustrieren scheint. “Without a gun, they’re pretty friendly, but with a gun, they’re pretty dangerous …”

Ich mochte Dawn of the Planet of the Apes, den neuesten Ableger des Planet-der-Affen-Franchises, das vor drei Jahren mit dem ersten Prequel Rise of the Planet of the Apes neues Leben eingehaucht bekam. (Warum der Dawn nach dem Rise kommt, weiß bis heute niemand.) Ich fand die Story gut und klar strukturiert, die Charaktere ordentlich ausgearbeitet und die Themen nicht allzu ungelenk aufgetischt. Dawn ist kein philosophisches Meisterstück, aber seine gute Regie und seine erstaunlichen visuellen Effekte erheben ihn über seinen By-the-numbers-Plot.

Der Weg ist das Ziel

Vor allem aber ist er ein hervorragendes Studienobjekt für die Regeln eines (guten) Prequels. In einer Zeit, in der Filmemacher und andere Erzähler überall nach Möglichkeiten suchen, im Rahmen einer etablierten Marke neue Handlungsbögen zu finden, wenden sie sich oftmals der Vorgeschichte eines Ur-Texts zu, um diese zu erzählen. Laut Wikipedia wurde der Begriff “Prequel” im Filmbereich erstmals in den 70ern breiter benutzt (Butch and Sundance: The Early Days) – reifte aber zu einem Wort, das jeder kennt, erst mit den Star Wars-Prequels heran. Die wiederum traten fast in jede Falle, die ein Prequel enthält.

In seinem Standardwerk Building Imaginary Worlds schreibt Mark J. P. Wolf zu Prequels:

Prequels are constrained by the works which come before them, […] since characters’ fates and situations’ outcomes, which appear in the original work, are already known; thus surprise can be lost, and the final state is more than predictable, it is already known for certain.

Wir wissen, zum Beispiel, welche Charaktere nicht sterben können, schreibt Wolf. Insofern gehe es bei einem Prequel eher um den Weg, als um das Ziel. Ein Prequel erschafft einen neuen Startpunkt für diesen Weg und beschreitet ihn bis zu dem Punkt der Reise, den wir bereits kennen.

Ich werkle immer noch an meinem Magnum Opus “Continuity” und dieser Blogartikel ist so eine Art Vorstudie zu einem Kapitel und damit vielleicht etwas ausführlicher als gewohnt. Wer direkt weiter zu den Affen springen möchte, kann das hier tun.

Reverse Engineering

Die beste Analogie aus einem anderen Weltbereich, die man für die Erschaffung eines Prequels ziehen kann ist “Reverse Engineering”. Dabei geht es darum, ein fertiges Produkt in seine Bestandteile zu zerlegen, um herauszufinden, warum es wie funktioniert. Das ultimative Ziel kann sein, eine Kopie herzustellen. Zunächst einmal geht es aber vor allem darum, das Zusammenwirken der Einzelteile zu verstehen, ohne die Originalbaupläne zu besitzen.

Der größte Unterschied zwischen Reverse Engineering in der Kohlenstoffwelt und dem Reverse Engineering, was ein Geschichtenerzähler betreibt, ist, dass ich nach dem Auseinanderbauen eines Gerätes nur die Teile vor mir liegen habe, die zuvor im Gerät enthalten waren. Wenn ich das Gerät wieder zusammenbauen will, kann ich folglich auch nur diese nutzen. Für die Erschaffung eines Prequels aber bin ich nicht auf diese Exklusivität angewiesen. Genau in diesem Unterschied lauern bereits die ersten Fallstricke.

Der Sirenenruf der dramatischen Ironie

Man könnte ja meinen, dass es aufgrund der oben geschilderten Limitierung eines Prequels durch den Originaltext für einen Zuschauer besser ist, wenn es das Original gar nicht erst kennt. Dem widerspricht Mark Wolf, wenn er schreibt:

[O]ften a prequel will rely on the audience’s knowledge of the original work, creating dramatic irony through the audience’s knowledge of how things will eventually turn out and knowing what the characters do not know.

Das Vorwissen um das, was später passiert, ist also integraler Bestandteil eines Prequel-Bauplans. Dramatische Ironie hingegen ist in unserer postmodernen Zeit ein machtvolles Werkzeug und wenige Autoren können sich ihrem Sirenenruf entziehen. Dieser Ruf wird allerdings umso lauter, je mehr man sich auf die oben erwähnten Original-Bauteile verlässt und je weniger man versucht, eine möglichst unabhängige Geschichte zu erzählen.

It’s a small world

Dann nämlich bleibt einem nichts anderes üblich, als die vorhandenen Puzzlestücke neu zu arrangieren und dadurch notwendigerweise neue Beziehungen zu schaffen, die vorher nicht vorhanden waren – und die es auch nicht gebraucht hätte. In den Star Wars-Prequels entstehen durch zu hohes Vertrauen in Bekanntes unter anderem die beinahe absurd scheinenden Tatsachen, dass Anakin Skywalker (später Darth Vader) C-3PO konstruiert hat oder das Boba Fetts Vater Jango der Ur-Klon aller Klonkrieger ist. Mit anderen Worten: Die epische, viele Sternensysteme umspannende Saga über das Schicksal einer Galaxie findet im Kern fast ausschließlich im Zusammenspiel einer Handvoll Figuren statt, die über die Jahre hinweg immer und immer wieder zusammenstoßen.

Der Reiz dahinter ist klar: Es gefällt uns, als Zuschauer Mitwisser zu sein und – anders als die Charaktere – einen Schritt zurücktreten zu können und zu sehen, wie alle Zahnräder ineinandergreifen (→ Operationelle Ästhetik). Das Auftauchen vertrauter Elemente gibt dem Story-Universum Konsistenz. Zu wissen, dass zwei Charaktere einander später noch einmal begegnen werden oder dass ein Charakter seine Meinung zu einem Thema später radikal ändern wird, deutet auf die elementare Ironie unserer Existenz hin.

Meistens nutzen Prequels dieses Wissen für kleine Insider-Gags. Etwa wenn Wolverine in X-Men: First Class auf eine Rekrutierungsanfrage mit einem beherzten “Fuck you” antwortet. Wenn Gloín in The Hobbit: The Desolation of Smaug ein Bild verliert und Legolas erklären muss, dass darauf sein Sohn Gimli (in gut 80 Jahren Legolas’ BFF) zu sehen ist. Und auch das Apes-Franchise konnte in Rise nicht widerstehen, der berühmtesten Dialogzeile des 1968er-Originals ironisch Tribut zu zollen: “Take your stinking paws off me, you damn dirty ape.” (Natürlich kein Vergleich mit Troy McClures Darbietung)

Der Königsweg durch gefährliche Fahrwasser

Geht man über spielerische Andeutungen wie die oben erwähnten hinaus, begibt man sich sehr schnell in gefährliches Fahrwasser. Die Resultate ähneln dabei manchmal fast schon Zeitreise-Paradoxa: Man erschafft Beziehungen zwischen Charakteren von denen diese dann zu einem späteren Zeitpunkt (in der diegetischen Zeit) nichts mehr wissen, weil dieser spätere Zeitpunkt (in der extradiegetischen Zeit) eigentlich ein früherer Zeitpunkt ist.

Die vermeintlich elegantere Methode ist es, diesen Widerspruch einfach zu ignorieren und das extradiegetische Wissen des Zuschauers als Teil der Gleichung zu begreifen. Alternativ kann man den Nerdweg gehen und eine oft unnötig komplizierte “Retcon”-Lösung suchen, die dafür aber zumindest streng genommen keine Widersprüche mehr enthält. Wer es drauf anlegt, kann genau aus solchen Konstruktionen eigene Plots generieren.

Ein Beispiel für den ersten Weg findet sich im Pixar-Prequel Monsters University, dem beinahe eine einzige Dialogzeile aus dem Originalwerk das Kreuz gebrochen hätte, bis man sich entschied, mit dem Widerspruch zu leben. Bryan Singer wählte in X-Men: Days of Future Past eine Art Mittelweg, vielleicht sogar den Königsweg: Er hatte für jede vermeintliche Ungereimtheit zu den Vorgängerfilmen eine Erklärung parat, walzte diese aber nicht auf der Leinwand aus.

Affen auf Pferden

Und damit kommen wir dann auch endlich zu Dawn of the Planet of the Apes. Die Apes-Serie gehört, was die Continuity angeht, zu den kompliziertesten Franchises, die es gibt. Bereits die fünf ursprünglichen Filme enthielten Zeitreisen und damit auch Retcons (Affen, die aus der Zukunft in unsere Gegenwart reisen, bringen den Ursprung für die spätere Zerstörung der Menschheit mit sich). Die neuen Filme Rise und Dawn ignorieren Teile der ursprünglichen Timeline, sind aber auch keine richtigen Reboots der Gesamtserie, weil sie die Bezüge zum Originalfilm von 1968 beibehalten. (Eine ausführliche Analyse inklusive Zeitstrahl findet sich auf “io9”)

Dawn ist (ebenso wie Rise) also auf jeden Fall ein Prequel zu Planet of the Apes und, wie ich finde, ein gutes. Mit all den Vor-Erklärungen dieses Artikels kann man das Warum vielleicht auf drei Punkte reduzieren:

1. Er verweigert sich der Zirkellogik und damit der begrenzten Welt der Original-Sequels Escape und Conquest, in denen der Ursprung für die frühere Geschichte in der späteren Geschichte und damit wieder in der früheren Geschichte liegt. Stattdessen öffnet er die Welt der Geschichte für neue Zeiten, neue Figuren und neue Geschichten, die zwar auf den Ur-Text hinführen, diesen aber erzählerisch kaum beeinträchtigen.

2. Seine Verwandtschaft zum Ur-Text beweist der Film statt durch direkte erzählerische Bezüge lieber durch visuelle Motive, die wie Echos durch die Saga hallen. Meiner Ansicht nach das stärkste Motiv dieser Art sind Affen, die wie Menschen auf Pferden reiten – ein Bild das Charlton Heston dereinst im Original den Atem raubte und das hier eine ähnliche Wirkung entfalten soll (eine wirklich naheliegende Erklärung für die equestrische Kriegsführung gibt es in Dawn nämlich nicht [Ergänzung, 24.11.2014, @die_krabbe sieht das anders und das stimmt wohl]).

3. Den direkten Bezug findet der Film, indem er nach einem entscheidenden Moment sucht, der sozusagen die Timeline der Welt endgültig in Richtung des Originaltextes ausrichtet. Rise erforschte den ultimativen Ursprung der Apes-Saga, indem er den Moment fand, in dem die Apes-Timeline sozusagen von unserer realen abweicht. Dawn sucht den “Sündenfall”, in dem sich eine friedliebende Affen-Gemeinschaft auf den Weg macht, die kriegerische Affen-Zivilisation aus dem Ursprungsfilm zu werden.

(Spoiler in diesem Absatz) Drehbuchautor Mark Bomback beschreibt diesen Moment – in dem Caesar die goldene Regel bricht und Koba tötet, was auch mir im Kino am meisten Bauchgrimmen verursacht hat – im Podcast bei Jeff Goldsmith sehr genau (ungefähr bei 59:00): “He has to come to this very complicated decision, which is: this rule must be broken if we are to survive, but in breaking it, I’m actually breaking something in our community that’s never going to be healed.” (SPOILER ENDE)

Apes vs. George Lucas

Durch diese drei Merkmale – die Öffnung der Welt, die visuelle Verwandschaft und die Erforschung von Schlüsselmomenten – wird aus Dawn of the Planet of the Apes ein Prequel, das die Welt des Originalwerks erweitert, dessen Geschichte weitererzählt in dem es den Weg zum Ziel beschreibt, aber ohne dass es sich zu sehr auf die reine Rekombination von bereits vorhandenem verlässt.

In gewisser Weise kann man dem die Star Wars-Prequels entgegensetzen, welche die Welt nur sehr zaghaft öffneten (indem sie viele Schauplätze und Charaktere recyceln), kaum visuelle Verwandschaft demonstrieren (die Welt der Prequels sieht ganz anders aus als die der Originalfilme) und im Endeffekt einen einzelnen Schlüsselmoment “Wie wurde Anakin Skywalker zu Darth Vader” auf drei Filme auswalzen, bis man ihn nicht mehr sehen will. (Für Red Letter Media ist diese Konzentration auf die Vader-Story der Hauptgrund für die Ineffektivität der Prequels.)

Da inzwischen klar ist, dass es einen dritten Apes-Film aus der neuen Serie geben wird (denn aller guten Trilogien sind drei), bleibt zu hoffen, dass Bomback und Regisseur Matt Reeves auch dort noch gutes Prequel-Material finden werden. Die Zeichen dafür stehen ja eigentlich ganz gut. Alternativ könnte man der Izzard-Idee folgen, einen Affen mit Waffe in Charlton Hestons Haus einschließen und gucken, was passiert.