Die Zukunft des Lesens, des Schreibens und des In-die-Sonne-Schauens (Unsortierte Gedanken #4)

Ich war letzte Woche im Literatur-Podcast „Gelesen.“ zu Gast, um mit Lucas Barwenczik über Christoph Engelmanns Buch Die Zukunft des Lesens zu sprechen. Engelmanns These: Die Menschen lesen weniger, vor allem lange Texte, dafür hat sich aber eine „Plattform-Oralität“ entwickelt, in der uns Menschen in Podcasts und Videos erzählen, was sie an unserer Stelle gelesen haben. 

Das war schon das zweite Mal, dass ich in „Gelesen.“ zu Gast war. Im August haben Lucas und ich über LitRPG und Dungeon Crawler Carl gesprochen. 

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Im Podcast probiere ich unter anderem einen Gedanken an Lucas aus, der aber eigentlich nicht so gut zum Thema passt und deswegen dort auch nicht weiter verfängt. 

Vor einigen Wochen wurde in meiner Medienblase das Thema „Google Zero“ heftig diskutiert: Wenn Menschen zunehmend KI-Anwendungen, egal ob Chatbots wie ChatGPT oder Gemini-Zusammenfassungen über den Google-Suchergebnissen, nutzen, geht dem Online-Journalismus eine weitere Traffic- und damit Einnahmen-Quelle verloren. Die User kommen mit null Klicks zum gewünschten Ergebnis ohne jemals auf der Seite des journalistischen Angebots zu landen.

Mein Gedanke dazu: Ein derart parasitäres Modell ist langfristig, in einer Welt, in der Wissen nicht statisch ist, eigentlich nicht nachhaltig. Sicher werden noch eine Menge Journalismus-Angebote (leider) dran glauben müssen, aber es ist auch ein anderer Pfad denkbar, den ich mal als das “Netflix-Modell” bezeichnen will.

Auch Netflix hat damit angefangen, nur Filme und Serien anderer Anbieter “durchzureichen” und sie haben in ähnlicher Art dafür gezahlt wie OpenAI inzwischen für die Nutzung von Axel-Springer-Material zahlt. Um sich aber irgendwann für Nutzer:innen interessant zu halten, fing Netflix 2013 an, eigenen Content zu produzieren. Heute bemisst sich fast jede Streamingplattform an der Qualität der “Originals”, die man dort schauen kann.

Ist es also abwegig, zu glauben, dass in der Zukunft journalistischer, wissenschaftlicher etc. Content direkt für die KI fabriziert wird? Content, den das LLM direkt in seine Trainingsdaten einarbeiten und nach Bedarf ausspucken kann. Zumindest bis die KI in der Lage ist, selbstständig Ereignisse wahrzunehmen, einzuordnen und zu verarbeiten. Welche Form müsste dieser Content haben, damit er möglichst LLM-tauglich ist? Ein Datenaggregat aus Fakten und reproduzierbaren Formulierungen? Welche Journalist:innen bräuchte es, um solchen Content zu fabrizieren?

Ich gebe zu: die dystopische Lesart ist eine Art Moloch-Szenario, in der Menschen nur noch direkt für die Maschine arbeiten, die sie am Ende des Tages durchgewalkt wieder ausspuckt. Auf der anderen Seite hat nichts die Film- und Fernsehbranche in den letzten zwölf Jahren so befeuert wie die Produktionsbudgets der Streamer. Who knows.

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Ich habe den weit und breit gefeierten Film In die Sonne schauen von Mascha Schilinski gesehen und mich danach wie schon lange nicht mehr in der (für mich) unangenehmen Situation befunden, mit meinem Eindruck gegen den kritischen Konsens zu stehen. Ich fand In die Sonne schauen, in dem es um transgenerationale (und auch einfach allgemein verbreitete) Traumata von Frauen auf einem Bauernhof von der Kaiserzeit bis heute geht, eine gute Stunde lang ziemlich gut.

In den restlichen anderthalb Stunden verspielte der Film sein Karma bei mir allerdings Stück für Stück, weil ich immer mehr das Gefühl hatte, dass eine Behauptung von Bedeutsamkeit und künstlerischem Eigensinn an die Stelle der eigentlichen Dinge trat. Im Laufe der Zeit ging mir in dem, was andere Beobachter:innen als geniale Verknüpfung begriffen, zunehmend die Nuance verloren, dazu kamen recht plakative Symbole und Erklärungen, zu viele Enden. Die letzte Handlung, die eine der Hauptfiguren vollzieht, erschloss sich mir gar nicht mehr.

Andere mögen sich mit einer solchen Dissonanz zum Kritik-Mainstream bestätigt fühlen, in mir löst es meist doch Unbehagen aus. Einmal mehr natürlich, weil ich ein Mann bin und es im Film um die Erfahrungen von Frauen und Mädchen geht. Geholfen hat mir wie so oft der Podcast “Fashion the Gaze“. Wenn Vera und Freya berichten, welche Teile des Films in ihnen wiedergeklungen haben, kann ich zumindest nachvollziehen, warum andere Leute den Film mochten. Auch Thomas Grohs Formulierung “Weird hypnagogic ambient cinema” hat mir eröffnet, wie man den Film begreifen kann. Vielleicht passten Sonne und ich einfach nicht zusammen.

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Ich habe im Sommer Jane Austens Emma gelesen und anschließend die Verfilmung mit Gwyneth Paltrow von 1996 und mit Alicia Silverstone von 1995 geschaut. Ich war erstaunt, wie sehr die Lebendigkeit und zeitlose emotionale Resonanz eines Romans verloren gehen kann, wenn man ihn relativ “werktreu” verfilmt, während seine komische und beißende Essenz in einer modernisierten Adaption viel besser erhalten bleibt.

Foto von Birgit Steven-Lahno auf Unsplash

Unsortierte Gedanken – Juni 2025 (2)

Blog as if no one is watching

In Arbeitskontexten wird viel Material produziert. Als jemand, der viel im öffentlichen Sektor gearbeitet hat, kenne ich vor allem die Textschlachten von Anträgen und Projektberichten. Vor kurzem habe ich aus dem Beratungsbereich den gräßlichen Ausdruck “Slides schrubben” gelernt, also das Produzieren von vielen Folien für Powerpoint-Decks.

Dahinter steckt leider ganz oft die Simulation von Produktivität, um Rechenschaft abzulegen. Es wird viel Zeit und werden viele Phrasen darin versenkt, dem Geschäftspartner zu beweisen, dass sein Geld sinnvoll angelegt ist, weil ja viel produziert wurde, und seien es nur Worte.

LLMS erleichtern genau diese eigentlich leere Arbeit. Sie können aus Stichpunkten und anderem Rohmaterial viel schneller Texte in der verlangen Form produzieren als ein Mensch das könnte. Meine These ist aber: Die genannten Texte und Präsentationen werden genauso ungerne gelesen wie sie geschrieben werden. Es ist also davon auszugehen, dass die Empfänger die erhaltenen Dokumente ihrerseits wieder in ein LLM werfen und sie sich von diesem zusammenfassen lassen.

Die eine Seite lässt schreiben, die andere lässt lesen. Ist das die Zukunft des Berichtswesens? Oder war das im Grunde schon immer so, es wird nur jetzt erst sichtbar. Ich frage mich vor allem: Was sagt es über die “wahre” und “notwendige” Form von Informationen aus? Wann werden wir aufhören, Informationsgehalt durch Masse zu ersetzen?

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Ich habe festgestellt, dass ich eine merkwürdige Liebe für Songs habe, die sich selbst beschreiben. Meine früheste Erinnerung ist “Memphis Soul Stew” von King Curtis (wenn auch in der Version “Springfield Soul Stew” vom kuriosen Musikalbum der Simpsons), das seine Instrumentalparts wie Zutaten in einem Kochrezept beschreibt (“give me about half a teacup of bass”). Ich höre auch immer wieder gerne Music Instructor’s Cover von Ultravox’ “Hymn”, das genau beschreibt, wie es gemacht ist (“Let’s see how it sounds when we pitch it five notes up”).

Ein weiteres Beispiel: der Song “Poppa’s Blues” aus Andrew Lloyd Webbers Starlight Express, dessen erste zwei Zeilen “The first line of the blues is always sung a second time” lauten. Oder auch den großartigen “Fountains of Wayne Hotline” von Robbie Fulks, in dem der Erzähler die titelgebende Nummer anruft, um sich bei der Komposition helfen zu lassen (“Get a split bar of 4 in there, and push the one. and then we’ll slather the holy hell out of the thing with a semi-ironic Beach Boys vocal pad”). Die Ärzte spielen mit diesem Werkzeug auch immer mal wieder, zum Beispiel im Song “Richtig schön evil” (“Lass dich nicht so häng’ / dies ist der Refrain / richtig schön evil, abartig und pervers / wird’s erst wieder im Vers”).

Kennt ihr noch mehr solche Songs? Es gibt sicher dutzende.

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Ich habe Alanis Morissette live gesehen, Open Air in der Zitadelle in Berlin Spandau. Das Konzert war sehr schön, denn Alanis Morissettes Musik bedeutet mir viel, aber ich habe auch wieder mal gemerkt, dass ich Konzerte dieser Größe nicht leiden kann, insbesondere Open Air. In der Rückschau (Queen bei Live Aid, Robbie Williams in Knebworth) wirken sie immer beeindruckend, aber vor Ort bekommt man, wenn man nicht ewig vor Beginn da ist, einfach nur matschigen Sound mit wummernden Bässen und fehlenden Mitten und keinerlei echte Verbindung zwischen Künstler:in und Publikum, was nach meinem Dafürhalten immer noch der Zweck von Konzerten sein sollte.

Das liegt nicht nur an den Künstler:innen, die mit Kameras statt mit Menschen interagieren und auf ihren riesigen Bühnen so verloren wirken, dass jede Menge Visuals im Hintergrund aufgefahren werden müssen, um von dieser Tatsache abzulenken. Auch Teile des Publikums sind (vor allem bei Mainstream-Künstlern, wenn sie nicht gerade ihre drei größten Hits spielen) zwischendurch über lange Strecken mit anderen Dingen beschäftigt. Irgendwie schade.

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Ich habe Aiki Miras (gerade noch) neuesten Roman Proxi gelesen, eine “Endzeit-Utopie”, jüngst ausgezeichnet mit dem Kurd-Laßwitz-Preis, die mir wie schon zuvor bei Neongrau auf der Ideen-Ebene sehr gut gefallen hat, aber mit deren Sprache ich gekämpft habe.

Postapocalypse Now!

Photo by frank mckenna on Unsplash

Ich habe angefangen, Nevil Shutes Roman On the Beach von 1957 zu lesen, und die ersten Kapitel begeistern mich. Sie zeigen einen postapokalyptischen Alltag, den ich so viel interessanter finde, als alles andere, was ich bisher gesehen habe.

Das Setting des Buchs: Die Nordhalbkugel hat sich per nuklearem Krieg gegenseitig ausgelöscht, aber in Australien sind keine Raketen gelandet und deswegen geht dort das Leben vorerst relativ normal weiter. Strom wird aus Kohlekraft erzeugt, nur Öl gibt es nicht mehr. Also fahren die Menschen seit einigen Jahren kein Auto mehr, sondern Zug, oder sie sind wieder auf Pferdekarren und Fahrräder umgestiegen.

Alle erwarten, dass der Fallout schon irgendwann auf die Südhalbkugel driften wird und auch in Australien alles vergiftet, aber das dominante Gefühl ist ein “neues Normal”. Amerikanische Soldaten, die zufällig in Australien stationiert waren, und jetzt ihrer Heimat und ihren verstorbenen Frauen hinterherweinen, werden eher als nerviges Ärgernis gesehen.

Das typische postapokalyptische Setting von Mad Max bis The Walking Dead gefällt sich eher darin, die Menschen auf ein urtümliches Niveau zurückzuwerfen, um zu verhandeln, ob unsere Spezies im Kern sozial oder eigennützig ist. Solche Szenarien eignen sich auch dafür, individuellen Heroismus wieder stärker ins Zentrum zu rücken und spannende Abenteuergeschichten zu erzählen. Als alternatives postapokalyptisches Setting ist im digitalen Zeitalter noch das Matrix-Szenario dazugekommen: Die Menschheit entflieht ihrer desolaten realen Welt durch fantastische virtuelle Welten.

Ich habe noch nicht viel Cli-Fi gelesen, aber gerade im Jugendbuch wird die Welt nach der Klimakatastrophe häufig eher als Kulisse für die genannten Abenteuergeschichten genutzt.. So verhält es sich etwa bei Sarah Raischs All That’s Left und bei Ursula Poznanskis Cryptos. Auch Paolo Bacigalupis The Windup Girl hat zwar ein sehr fantasievolles Worldbuilding, erzählt aber im Kern eine klassische Sci-Fi-Geschichte. Kim Stanley Robinsons The Ministry for the Future hat noch einmal einen anderen Ansatz und schreibt die Chronik der abgewendeten Katastrophe, oft eher aus der Vogelperspektive.

Die vergangenen Jahre haben eines noch einmal deutlich gezeigt: Wenn es wirklich zur Katastrophe kommt, egal ob durch Klima oder Atomkrieg, werden die meisten Menschen versuchen, ihr bisheriges Leben so nahtlos wie möglich aufrechtzuerhalten, bis es zu spät ist. Dieser Limbus-Zustand einer unverbesserlichen Menschheit, zu träge für echte Veränderungen, fasziniert mich.

Ich würde gerne mehr aus solchen Zwischenzukünften lesen, in denen die Welt leicht verschoben ist, aber die Menschen sich einfach an ein neues Normal angepasst haben. Wie eben während einer Pandemie, eines Extremwetter-Zeitalters oder während einer Energiekrise. Wir befinden uns schon fast in einer postapokalyptischen Welt. Wenn wir in ein paar Jahren die Gradziele des menschgemachten Klimawandels gerissen haben, werden wir dort endgültig angekommen sein. Und es wird eben keine Mad Max-Wüstenei sein, sondern die gleiche Erde wie zuvor, nur deutlich unangenehmer.

Ich habe erst wenige Kapitel von On the Beach gelesen und weiß noch nichts darüber, wie das Buch weiter- und ausgehen wird. Angesichts der Tatsache, dass die Hauptfigur ein Marineoffizier ist, der drauf und dran ist, in einem U-Boot aufzubrechen, befürchte ich Schlimmes und Tragisches. Aber der Anfang dieses 65 Jahre alten Romans beschreibt das Gefühl unserer nahen Zukunft besser als alles, was ich bisher kannte. Plus ça change.

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