Deutschland, eine Sommerpause

Eine aktuelle Plakatkampagne der Telekom wirbt damit, dass sie einem jetzt das Netz “IN ECHTZEIT” in die heimischen vier Wände transportieren. Überhaupt ist das Echtzeitweb ja derzeit ein schönes Angeberwort, denn es passt ja zu der althergebrachten Weisheit, dass sich die Welt immer schneller dreht, dass wir jetzt alles immer überall haben; morgens mit den Aktienkursen aus Tokio aufwachen (wenn wir nicht kurz schon mal Nachts gecheckt haben); die Wikipedia vom Zahnarztstuhl aus editieren; während des ersten Dates kurz ein lustiges Katzenbild retweeten; Antworten auf SMS und Mails innerhalb von Sekunden erwarten und jeden neuen Bekannten erstmal googlen.

All diejenigen, die das am meisten erschreckt, die sich deshalb regelmäßig darüber beschweren, die aus der Autobahn einen Parkplatz machen wollen und immer wieder gerne “Entschleunigung!” rufen, waren wahrscheinlich lange nicht mehr zwischen Mitte Juli und Mitte August in Deutschland.

In dieser Zeit nämlich schrumpfen Firmenbelegschaften auf einen Bruchteil ihrer Standardmasse zusammen. Telefonisch erreicht man Anrufbeantworter, per Mail eine automatisch generierte “Bin weg”-Nachricht. In der Mittagspause muss man die Speisekarte der Dönerbude von oben nach unten durchprobieren, weil Kantine, Suppenbar und Nachbarschaftsmetzger geschlossen haben. Wenn nicht gerade mal wieder ein CDU-Politiker zurücktritt, passiert auch auf der politischen und wirtschaftlichen Bühne nichts von Belang, weshalb die Medien entweder auf Sommerlochthemen zurückgreifen oder über das Sommerloch selber berichten. Und wo immer man anruft (und sogar wenn man selbst angerufen wird), die Antwort ist häufig die gleiche: “Das können wir erst nach der Sommerpause bearbeiten.”

Ich finde das ja einerseits ganz schön – unter anderem auch, weil man in diesen Zeiten endlich mal die Ruhe findet, um lange liegengebliebene Projekte in Ruhe anzugehen. Andererseits finde ich aber auch, dass ein Land, dass es sich leisten kann, mehrere Wochen im Jahr quasi sein komplettes Uhrwerk auf weniger als halbe Geschwindigkeit zu drosseln, sich wirklich keine Sorgen machen sollte, dass es irgendwann vor lauter Schnelligkeit explodiert. Wenn man sich selbst langsam bewegt, wird “Echtzeit” gewissermaßen zu einem relativen Begriff.

Worte zur Wochenmitte

Journalismus ist keine exklusive Profession mehr. Journalismus ist zu einer Aktivität geworden, die nur noch von einer Minderheit professionell ausgeübt wird. Ob ein Journalist professionell ist, bemisst sich nicht mehr daran, ob er mit seiner Arbeit Geld verdient, sondern allein daran, ob er professionelle Standards einhält, etwa in der Sorgfalt und Fairness seiner Recherche und der Qualität seiner Sprache.

Wolfgang Blau , sueddeutsche.de
// Es geht erstaunlich gut

Worte zur Wochenmitte

Irgendein Amateur hätte das Handyfoto vermutlich einfach bei Twitpic hochgeladen mit der Unterschrift: „Heute am Kemnader See Baumstamm Krokodil entdeckt”. Oder als Leserfoto an „Bild” geschickt, die nach eingehender Prüfung festgestellt hätten, dass es sich nicht um ein Krokodil handelt, sondern ein Alien.

Stefan Niggemeier , stefan-niggemeier.de
// Journalisten machen Kemnader See unsicher

Wir leben in Deutschland, nicht in Syrien. Das bedauere ich bisweilen, wenn ich aufs Wetter schaue, aber ich hatte schon das Vergnügen, in Damaskus mit Journalisten zu arbeiten und kann sagen: Deutschland ist ein Paradies im Vergleich zu Syrien, wenn es um die negative Pressefreiheit geht.

Matthias Spielkamp , kress.de
// “Journalisten nicht wie Bittsteller behandeln”

They’re calling it “social micropayments,” which has people mentioning Scott McCloud and Penny Arcade and old arguments long since passed by. I think this is unfortunate, because not only isn’t this a micropayment system, it does the concept of micropayments a disservice.

Eric Alfred Burns , Websnark
// By the way? The Soonr™ web services ending in ‘r’ stop dropping the ‘e’ before that r, the Bettr™.

Pulling off a wish like this one required a big story, and a lot of heart. And so, with a note of panic in his voice, Spider-Man explained the dilemma: “Dr. Dark” and “Blackout Boy” had imprisoned the Seattle Sounders in a locker room at Qwest Field. Only Electron Boy could free them.

Katherine Long , Seattle Times
// Local boy with cancer turns into a superhero for a day

Wenn die Scheiße den Ventilator trifft: Von Sascha Lobo zu Chris Tookey

Sascha Lobo hat auf der re:publica vor einigen Wochen einen Vortrag zum Thema How to Survive a Shitstorm gehalten, den es sich anzugucken durchaus lohnt – wenn man auf Lobos etwas schnodderigen und gleichzeitig pseudo-wissenschaftlichen Stil steht.

Denn: Wie ein Kommentator ganz richtig feststellte: Lobo erzählt eigentlich wenig Neues, er bereitet althergebrachte Weisheiten aus der Risikokommunikation und Öffentlichkeitsarbeit bei Verleumdungskampagnen für das Netz neu auf. Wobei ich ihm glaube, dass seine Erkenntnisse durchaus genuin sind, also dass er selbst drauf gekommen ist und sie nicht nur irgendwo abgeschrieben hat.

Der oben schon erwähnte pseudo-wissenschaftliche Stil macht zumindest Theoretikern aus Leidenschaft wie mir Freude: Lobo studiert Trolle als wären Sie eine biologische Spezies und er kriert Begriffe wie “Mikroöffentlichkeit”. Wer es pragmatischer mag: Tim Ferriss hat bei Mashable eine Liste zusammengestellt, die im Prinzip den gleichen Inhalt hat wie Lobos Vortrag, das ganze nur etwas kompakte (und eben weniger meta-theoretisch) zusammenfasst.

Jüngstes Opfer eines Shitstorms im sonst vermutlich eher harmlosen Bereich Filmjournalismus war wohl Chris Tookey, Kritiker der Daily Mail. Er hatte am 2. April in seiner Kritik zur Comicverfilmung Kick-Ass (den ich leider noch nicht selbst gesehen habe) geschrieben, dass der Charakter des 11-jährigen “Hit Girl”, die im Film fröhlich herumflucht und brachiale Gewalt austeilt, ein Musterbeispiel für die Sorte Figur ist, an der sich auch Pädophile aufgeilen könnten. Matthew Vaughns Film vermittle, so Tookey “a perniciously sexualised view of children and glorifies violence, especially knife and gun crime, in a way that makes it one of the most deeply cynical, shamelessly irresponsible films ever.”

Dass Comic-Fans, und besonders Kick-Ass-Fans, nicht gerade sanftmütig sind, bekam Tookey im Anschluss zu spüren. Er erhielt einen Berg von Hatemail voller persönlicher Beledigungen, die ihn vor allem auch selbst als Pädophilen bezeichneten.

Tookey scheint den Shitstorm überstanden zu haben. In einem ausführlichen Blogeintrag hat er den Prozess anschließend sachlich geschildert und analysiert, seine Meinung noch einmal fundiert dargelegt und die Gefahren von Cyber-Bullying aufgezeigt. Der Beitrag ist lang, aber auch sehr lesenswert.

Tookeys Taktik ist also eine andere: Statt wie Lobo Theorien aufzustellen und mit Guerillawaffen wie dem öffentlichen Outing von Trollen zurückzuschlagen, versucht er seine Gegner mit Argumenten auszuhebeln und eine öffentliche Diskussion anzustoßen (der Blogeintrag erschien in gekürzter Form auch in der Mail). Ich bin in den meisten Punkten seiner Meinung, allerdings bezweifle ich, dass seine Methode die richtigen Adressaten findet. Vor weiteren Shitstorms wird wohl keiner der beiden gefeit sein, was aber auch sowohl Lobo als auch Tookey wissen dürften.

Der dritte Weg, gegen Internet-Hater vorzugehen ist am teuersten und aufwändigsten, bringt aber wohl auch am meisten Befriedigung mit sich. Es ist der Weg von Jay und Silent Bob.

Worte zur Wochenmitte

Zwei Funktionen von Journalismus kommen im Netz zu kurz. Internetpublizistik ist vom Prinzip her lustgetrieben: Wer Spaß hat, über ein Thema zu schreiben, tut das, wenn er keine Lust mehr hat, hört er auf. Und wenn gerade andere Dinge wichtiger sind, sind andere Dinge eben wichtiger. Was dem professionellen Journalismus deshalb ein Alleinstellungsmerkmal verschaffen könnte, sind Recherchen, die lästig sind, die lange dauern, die Geld kosten und Nerven – also mehr als nur erste Gedanken. Ein zweites Alleinstellungsmerkmal wäre die absolut verlässliche Unabhängigkeit der Informationen. Denn auch da hat das Netz Schwächen.

Eva-Maria Schnurr , der Freitag
// Wie der Blauflossenthunfisch

[I]t is claimed that the directive to ban English acronyms was actually issued by the almighty State Administration of Radio, Film, and Television. The supreme irony is that this powerful agency of the PRC (!) government is known everywhere as SARFT! That’s certainly a lot easier to write than 国家广播电影电视总局 Guójiā Guǎngbō Diànyǐng Diànshì Zǒngjú!

Victor Mair , Language Log
// A Ban on Roman Letter Acronyms?

We’re not going to pay you for fixing our sink – but we will tell our neighbors what a great job you did

Tom Tomorrow , This Modern World
// If real life were more like the Internet
[via The Film Doctor]

It’s not hard to imagine a near future when a movie opens simultaneously on the global market to satisfy its most devoted public before moving in a very few weeks to DVD, VOD, iTunes, and other digital platforms. It then snuggles into hundreds of thousands of hard drives around the world, ready to be awakened when somebody feels the urge to watch. These seem to be the two poles we’re moving toward: the brief big-screen shotgun blast, and the limbo of everlasting virtual access. You can argue that the very success of home video, cable, and the internet have irredeemably cheapened our sense of a movie’s identity.

David Bordwell , Observations on film art
// Festival as repertory

Worte zur Wochenmitte

Da sind Journalisten wie jener J. (was wohl für Johannes steht) Boie von der „Süddeutschen Zeitung“. Für den Leser quälend trieft durch ihre Zeilen der Neid, dass da Leute das gleiche Handwerk betrieben wie sie: schreiben. Und das tun sie einfach so, als Hobby. Sie schreiben nicht über das, was ihnen Ressortleiter, Chefredakteure oder die Tagesaktualität diktieren – sie schreiben über das, was sie interessiert. Dabei sagen sie auch noch deutlich ihre Meinung. Und dafür ernten sie dann auch noch Leserkommentare, Resonanz und dürfen auf einem Kongress stehen und Bier trinken.

Thomas Knüwer , Indiskretion Ehrensache
// Re-Publica 10: der Neidfaktor

Was jemand da Marco Schreyl auf die Moderationskarten geschrieben hat, ist nicht nur erschütternd in seiner Zeitschinderei, es ist nicht nur bekannt, falsch, dumm oder albern (all das ist es auch). Es feiert seinen eigenen Sadismus, einen brutalen Ausleseprozess, einen menschenverachtenden Sozialdarwinismus, auf eine Art, die man kaum anders als faschistoid nennen kann.

Stefan Niggemeier , Fernsehblog
// “Der Verlierer steht für immer im Schatten”: Das Weltbild von DSDS

I remain convinced that in principle, video games cannot be art. Perhaps it is foolish of me to say “never,” because never, as Rick Wakeman informs us, is a long, long time. Let me just say that no video gamer now living will survive long enough to experience the medium as an art form.

Roger Ebert , Chicago Sun Times
// Video games can never be art

Apple-style secrecy may help drive some sales, but ultimately it’s the usefulness, durability, affordability, and availability of a product that play the greatest roles in sales. Being a rational man who appreciates the scientific method, Steve Jobs might want to consider dumping the pixie dust for one product cycle and see if that strategy increases sales.

Jack Shafer , Slate
// The Apple Secrecy Machine

Warum muss mit Journalismus Geld verdient werden?

Über Rivva habe ich mitbekommen, dass bei Meedia schon wieder jemand (Stefan Winterbauer) Jeff Jarvis gebasht hat. Na ja, was soll’s. Das kann er ab und dass er ein Selbstdarsteller ist, ist eigentlich eine Binsenweisheit, denn Selbstvermarktung ist schließlich das, was er verkauft.

Mich hat aber vor allem der letzte Absatz gestört:

Wer von Jarvis wissen will, wie er denn die vielen Leute, die Gebäude, die Dienstleister, die ganze Infrastruktur mit der Link-Ökonomie bezahlen soll, der erhält zur Antwort, man müsse “Wege finden”, die Aufmerksamkeit zu monetarisieren. Immer wenn’s ans Eingemachte geht, verdrückt sich Jarvis ins Ungefähre und eilt zum nächsten Vortrag. Nur: Würde man Jarvis mit seinen radikalen Thesen ernst nehmen, könnten die meisten Medienhäuser von heute auf morgen dicht machen.

Erstens schießt die Kritik am Ziel vorbei: Jarvis hätte überhaupt nichts dagegen, wenn die meisten Medienhäuser von heute auf morgen dichtmachen. Seiner Ansicht nach liegt die Zukunft des Journalismus eben nicht in großen Häusern, sondern in kleinen Zellen.

Zweitens stört es mich, dass hier wie schon an hundert Orten radikale Ideen einer Neuordnung des Mediensystems damit abgetan werden, man könne damit kein Geld verdienen. Selbst wenn das stimmen würde (und das tut es nicht zwangsläufig, denn es gibt Menschen, die mit der Link-Ökonomie Geld verdienen und ihre Aufmerksamkeit beispielsweise durch Beraterverträge etc. in Geld umwandeln) – wäre das so schlimm?

Werner D’Inka hat auf einem Vortrag mal den Vergleich gebracht, er würde sich ja gerade noch von einem Bürgerfriseur die Haare schneiden lassen, aber nicht mehr von einem Bürgerchirurgen den Blinddarm rausnehmen lassen. Dieser Vergleich wird bemüht, wann immer es darum geht, dass möglichst ALLE Journalisten ZWANGSLÄUFIG gut bezahlte Profis sein müssen.

Mal ganz abgesehen davon, dass weder heutzutage noch jemals alle Journalisten ordentlich bezahlt wurden oder dass ordentliche Bezahlung keine Garantie für fehlerlose Arbeit ist – stimmt das überhaupt?

Ich habe schon öfter (auch hier) gesagt, dass ich glaube, dass in der Zukunft sehr viel Journalismus von Amateuren produziert werden wird. Von Journalismus-Amateuren, wohl gemerkt, nicht von Idioten. Rechtsanwälte, Wirtschaftskenner, Politik-Kenner, Kultur-Kenner, die in anderen Berufen ihr Geld verdienen, aber nebenher auch gerne noch über ihr Fachgebiet schreiben möchten, wie es sie immer schon gegeben hat.

Warum sollte ich diesen Menschen weniger vertrauen als einem bezahlten Journalisten? Wegen der Unabhängigkeit, könnte man jetzt als Argument anbringen, und das stimmt. Aber die journalistische Unabhängigkeit ist auch nur ein Idealbild, der die Realität durch Druck von Anzeigenkunden oder einfach durch persönliche Überzeugung ohnehin hinterherhinkt. Das Gesetz der großen Leser-Zahlen wird in einer demokratisch geprägten Gesellschaft schon zeigen, wen es sich lohnt zu lesen, und wer nur schlecht geschriebene Propaganda von sich gibt. Relevanz treibt nach oben.

Und was soll das überhaupt mit dem Vertrauen in den Bürgerchirurgen? Deutschland ist das Land des Ehrenamtes, die ARD hat diesem Thema sogar jüngst eine Themenwoche gewidmet. Wir lassen uns von Nicht-Profis aus brennenden Häusern retten, wir vertrauen ihnen unsere Alten, Kranken und Kinder an. Wir Deutsche lassen uns sogar von Amateuren in hochkomplizierten Sportarten wie – sagen wir mal – Dreisprung oder Biathlon auf internationalen Sportwettbewerben vertreten und freuen uns mit wenn “unsere” Sportler gewinnen. Menschen, die nebenher noch Zahnarzthelfer oder Rechnungsprüfer sind.

Aber wir wollen den Journalismus diesen Menschen nicht anvertrauen? Nicht ausschließlich diesen Menschen (das ist ja bei der Feuerwehr auch nicht so), aber auch diesen Menschen? Da muss unbedingt Geld fließen, damit gute Arbeit geleistet werden kann? Ich warte immer noch drauf, dass mir das mal jemand richtig erklärt.

Erfolgsstory Internet? – Kirstin Bernert und die Cyberloxx

Als ich diese Serie plante, war mir von Anfang an klar, dass ich ein Interview führen muss mit einem Profiteur des Long Tail. Schließlich musste an Chris Andersons Buch ja irgendwas dran sein.

Über einen Suchaufruf auf dem Selbermach-Forum Natron und Soda fiel mir tatsächlich die perfekte Geschichte in die Hände: Kirstin Bernert verdient einen Teil ihres Geldes mit einer verrückten Idee: Sie verkauft künstliche Haarteile in den grellsten Farben über das Internet, die sich sowohl in der Dark-Wave- und Industrial-Szene, aus der sie stammt, als auch bei Kostümbildnern auf der ganzen Welt großer Beliebtheit erfreuen – dabei ist sie keine gelernte Maskenbildnerin. Eine kleine Nischengruppe von Interessenten und die grenzenlose Erreichbarkeit des Internets reichen aus, um aus einem Liebhaberprojekt ein funktionierendes Geschäftsmodell zu machen, mittlerweile sogar mit eigenem Laden.

Wie Kirstin allerdings im Interview auch erzählt ist sie mit ihrer Handarbeit keinesfalls Millionärin geworden. Wie bei selbstständigen Handwerkern der Old Economy, gehört auch im Internetzeitalter eine Menge Leidenschaft und die Bereitschaft, mit wenig zufrieden sein, zum Erfolg dazu. Und interessant ist auch, dass jemand, der sich selbst aus dem Amateurbereich hochgearbeitet hat, sich jetzt manchmal über Amateure ärgert, die ihre Arbeit unter Wert verkaufen. Der Streit zwischen professionellen Journalisten und Bloggern lässt grüßen.


Real Virtuality: Kirstin, du hast dich auf meinen Aufruf gemeldet, in dem ich Internet-Erfolgsstories aus der Selbermach-Szene gesucht habe. Sind die Cyberloxx eine Internet-Erfolgsstory?

Kirstin Bernert: Ich denke schon. Ohne das Internet und meine Teilnahme in diversen Do-it-Yourself-Foren hätte ich wohl auch nie entdeckt, wie kreativ ich sein kann. Zudem wäre es wohl ohne Internet auch sehr schwer gewesen an Hersteller aus Übersee zu kommen oder erste Schritte in Richtung Marketing zu versuchen.

Jetzt vertreibst du deine Haarteile und Accessoires über eine Webseite und hast einen Laden in Duisburg, aber wie kam es dazu?

Entwickelt hat sich das ganze aus einem Hobby. Da ich nicht von Natur aus mit einer wallenden Mähne ausgestattet bin, habe ich mich immer schon für Kunsthaar interessiert. Das ganze wurde aber schnell langweilig und ich habe mich nach Alternativen umgesehen. Diese Polyesterschläuche waren so schrill, bunt und super zu verarbeiten. Daher passten die super zu meinen schrillen Outfits. Als ich dann Reste bei eBay verkaufte, habe ich schnell gemerkt, dass es viele Leute gibt, die auf solch ausgefallene Haarteile gewartet hatten.

Wenn das ganze nur ein Hobby war, was hast du denn davor gemacht?

Buchhaltung! Seit 15 Jahren in derselben Firma… da sucht man nach einem kreativen Ausgleich.

War die Gründung des Internet-Shops ein schwieriger Schritt für dich oder erschien es dir als die logische Konsequenz?

Der Internet-Shop war notwendig. eBay schluckte mir zuviel Gebühren und außerdem wollte ich unabhängig sein und ordentliche Werbung machen können. Als ich dann zufällig mit meiner Schwiegermutti beim Quiztaxi einen ordentlichen Betrag zusammengespielt habe, war das Grundkapital für die ersten Überseelieferungen da. Eine Freundin aus dem Web-und Grafikdesignbusiness half mir dann bei der Umsetzung des Webstores.

Wenn ich das richtig sehe, kannst du von Herstellung und Verkauf deiner Produkte jetzt leben. War das immer abzusehen, oder war es manchmal auch hart?

Es sieht nur von außen so aus, als könnte man von dem Verkauf eines Nieschenproduktes leben. Mein Mann arbeitet Vollzeit. Ich arbeite immer noch 20 Stunden wöchentlich als Buchhalterin. Nebenbei führe und verwalte ich den Onlineshop und den Store in Duisburg. Viele unserer Produkte produziere ich außerdem in Handarbeit. Meine Woche hat 60 Stunden und Wochenenden kenne ich schon lange nicht mehr. Ich lebe für meine Arbeit und es macht riesigen Spaß zuzusehen, wie die eigene Idee wächst. Es ist manchmal hart, aber ich will nichts anderes machen.

Muss man diese Leidenschaft haben, wenn man Selbstgemachtes verkaufen will?

Ich denke schon. Erfolg fällt einem nicht in den Schoß. Auch nicht im Netz. Dafür muss man schon was tun.
Ich dachte eigentlich immer, man arbeitet um zu leben und nicht anders herum. Doch wenn man einmal einen Job hat der einem massig Spaß macht, denkt man anders darüber.

Die Cyberpunk-Industrial-Mythologie pflegt ja so eine Art Hassliebe mit der totalen Vernetzung, wie ist das bei dir?

Das Bundesverfassungsgericht hat ja zum Glück entschieden, dass die Vorratsdatenspeicherung verfassungswidrig ist. Ich denke das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich selbst stehe dem Thema auch sehr kritisch gegenüber. Und es ist wirklich erstaunlich, wie wir heute mit Themen jonglieren, die William Gibson in seinen Cyberpunk-Romanen schon in den 80ern beschrieben hat. Ich selbst musste mich im Internet auch erst rantasten und lerne täglich dazu. Ich habe auch sehr viel Glück, dass ich viele Freunde in der Branche habe. Egal ob Webdesign oder Probleme mit dem PC: Ich habe immer jemanden zur Hand, der helfen kann.

Ist das Internet also für dich nur eine Vertriebsplattform oder irgendwie auch ein Ort, eine Lebenseinstellung?

Ich glaube, ich lebe halb online. Meine E-mails rufe ich per Blackberry überall ab. Mit UMTS ist man auch mit dem Notebook online. Ein halber Tag ohne Internetzugriff ist schon eine Herausforderung… Ja, ich glaube es ist tatsächlich eine Lebenseinstellung.

Und deine Helfer: Sind das Leute, die du auch über das Internet kennengelernt hast, oder Menschen aus deinem direkten Umfeld?

Sowohl als auch. Ich habe mittlerweile viele gute Freunde, die ich irgendwann mal über Foren oder MySpace kennengelernt habe.

Wie waren die Reaktionen bei deinen Kontakten – Sowohl als du dich entschieden hattest, deinen Plan in die Tat umzusetzen, als auch als du dann damit Erfolg hattest? Gab es auch Neider?

Oh ja, Neider gibt es genügend. Kritik auch. Wobei das eher mit dem Erfolg kam. Am Anfang haben mich die wenigsten ernst genommen. Ich habe Anfangs selbst geglaubt nach einem Jahr will die Cyberloxx keiner mehr sehen. Kritik bekomme ich heute oft aus der DIY-Szene. Viele halten Cyberloxx für zu kommerziell und vergleichen uns mit großen Szenelabels, weil wir sehr bekannt sind. Aber die wenigsten wissen, dass wir alles selbst machen und bisher nicht mal Angestellte haben. Mein Mann und meine Freunde unterstützen mich sehr, aber den Großteil der Arbeit erledige ich allein.

Meinst du, dass es einen Unterschied machen würde, wenn du diesen “HANDGEMACHT”-Aspekt noch weiter in den Vodergrund rücken würdest?

Ich bin mir da nicht sicher. Mit “handgemacht” rutscht man heute auch schnell in die Amateurliga ab. Daher würde ich wohl immer eher den Begriff “Designerware” bevorzugen. Das drückt Individualität und Professionalität aus.

Wiredhatte im Februar eine Titelstory über die “New Industrial Revolution”, in der beschrieben wurde, dass sich Herstellungsprozesse durch die weltweite Vernetzung vereinfacht haben, so dass man eben auch bei kleineren Verkaufmengen Gewinn machen kann. Wie siehst du diese Gesamtentwicklung vom “Internet-Mittelstand”, sozusagen? Hast du das Gefühl, du bist eine Art Revolutionär, ein Guerilla in einer Welt der Massenvermarktung?

Es ist in der Tat einfacher an Materialien oder an Herstellungsbetriebe zu kommen. Google ist was das angeht mein bester Freund. Aber um in die Großproduktion zu gehen braucht man auch heute noch Beziehungen oder viel Durchhaltevermögen. Ich strebe aber sowieso keine Massenvermarktung an. Ich sehe mich eher als Designer. Mir ist wichtig, dass alles eine individuelle Note hat.

Hast du Konkurrenten? Wie stehst du als Profi inzwischen zur Selbermachszene?

Selbstverständlich habe ich mittlerweile auch Konkurrenz. Viele halten mein Konzept für eine schnelle und einfache Art, Geld zu verdienen. Ich möchte mich aber von solchen Geschäften unterscheiden. Ich bin mit Leidenschaft bei der Sache, und das Feedback gibt uns da auch Recht: Die Leute wollen Service, Individualität und 1A-Beratung und ich denke, das bekommen sie bei uns.

Ohne Natron und Soda wäre ich wohl nie auf diese Idee gekommen. Ich verdanke der Community wirklich sehr viel, und ich bin da sicherlich nicht die einzige! Ich finde es schön, wie viele junge Leute wieder selber Dinge herstellen und wie kreativ manche sind. Es ist auch gut, dass sie jetzt auf Plattformen wie Etsy diese Dinge verkaufen können. Als Unternehmer stört mich natürlich auch ab und zu, dass so oft Handwerk in großem Stil unter Wert verkauft wird. Das macht uns natürlich auch manchmal die Preise kaputt.

Das musst du mir kurz mal genauer erklären.

Jemand, der hobbymäßig einen Pullover strickt, kann diesen zu ganz anderen Preisen anbieten als der Großhersteller, der vom Erlös noch Steuern und andere Fixkosten bezahlen muss. Und viele der sogenannten “Hobbybastler” machen so viel Umsatz, dass man es fast professionell nennen kann.

Was hättest du gemacht, wenn es das Netz nicht gäbe?

Ich glaube, ohne das Netz wäre das alles nicht möglich gewesen. Die Cyberloxx sind jetzt auch kein Produkt, das man in einem Laden in der Fussgängerzone an alle Passanten verkaufen kann. Es wäre einfach zu schwierig gewesen. Über das Internet erreiche ich ja meine Kunden in ganz Europa.

Was ist das Coolste, was ist das Unangenhemste, das dir im Zusammenhang mit cyberloxx.de bisher passiert ist?

Das coolste war wohl ein Auftrag vom Finnischen Staatstheater in Helsinki. Die haben tatsächlich eine echt durchgeknallte Kollektion an Perücken für eine Produktion bestellt. Das war aufregend. Unangenehm sind bisher nur Streitigkeiten mit der Konkurrenz gewesen. Ich gönne jedem Erfolg und Geld, aber ich habe hart für meine Marke gearbeitet. Bei Markenrechtsangelegenheiten werde ich echt böse, und gerade bei eBay wird mein Markenname gerne für die Beschreibung von anderen Cyberhaarteilen hergenommen. Da Cyberloxx eine rechtsgültige Marke ist, bestehe ich dann auf der Unterlassung dieser Beschreibungen. Das gibt oft Streit, weil viele Konkurrenten nicht verstehen, dass es in Deutschland tatsächlich ein Gesetz dafür gibt. Ich finde das manchmal seltsam…. es würde ja auch keiner selbstgestrickte Schuhe als Adidas-Treter verkaufen.

Was unternimmst du, um dich und deinen Webshop zu vermarkten?

Wir schalten Anzeigen in Szenezeitschriften. Da wir aber auch für den Karneval und für Theater arbeiten, schalten wir auch hier Anzeigen oder besuchen Messen. Die Internetvermarktung ist auch sehr wichtig. Gerade durch Netzwerke wie MySpace ist der Kunde auch ganz nah dran. Die Kunden sind so Teil einer Clique. So bekommen wir auch immer wieder Feedback zu unseren Produkten und können uns verbessern.

Glaubst du, dass das etwas ist, was im Special-Interest-Bereich generell so ist, oder ist das etwas Besonderes im Netz?

Ich glaube es ist generell einfacher, im Netz seine Meinung zu äußern.

Welche Rolle spielst du als Person im Cyberloxx-Gefüge?

Ich selber spiele keine Rolle bei der Vermarktung. Ich bin nur Person hinter dem Produkt. Und das Modeln für die Flyer und Anzeigen überlasse ich den jüngeren Damen.

Ist es für dich etwas anderes, Dinge im Internet oder im Laden zu verkaufen?

Ich bin ein sehr kontaktfreudiger Mensch. Daher fällt mir auch der persönliche Umgang mit dem Kunden nicht schwer. Ich berate gerne und ausgiebig. Das gleiche gilt aber auch für den Internetkunden. Ich beantworte jede E-Mail persönlich und umgehend.

Würdest du irgendwas an der Art und Weise ändern wollen, wie das Internet funktioniert?

Wenn ich könnte, würde ich es sicherer machen.

Dieser Beitrag ist Teil 4 der Serie Erfolgsstory Internet?
Sie spricht mit Menschen, in deren Leben sich durch das Internet etwas verändert hat, über das Internet.

Erfolgsstory Internet? – Ly, Gomeck, Manu und Iris

Die besten Pläne von Mäusen und Menschen gehen oft daneben. Die dritte Folge meiner Interview-Serie über Internet-Erfolgsstories, das war mir von Anfang an klar, sollte von zwei Menschen erzählen, die ich selbst übers Internet kennengelernt habe, die einander über das Internet kennengelernt haben und die seit vier Jahren ein Paar sind und seit drei Jahren zusammen wohnen. Das Internet-Paar: Eine klassische Erfolgsstory.

Doch schon bei meiner ersten Frage wurde ich korrigiert: Die beiden sind kein Internet-Paar, sagen sie. Das Internet hat zwar den ersten Kontakt ermöglicht, lieben gelernt haben sie sich aber von Angesicht zu Angesicht – über einen längeren Zeitraum hinweg. Fort war also meine schöne These, doch das Interview fand dennoch einen interessanten Kern, der in diesem Kontext die Betrachtung durchaus wert ist.

Denn Iris und Manu – oder, wie ich sie kennnengelernt habe: Ly und Gomeck – sind Vertreter einer Spezies, über die nur noch selten gesprochen und geschrieben wird (obwohl Hanspeter Heß auch Anzeichen davon aufiwies: Sie sind Web 1.0-Menschen: Pioniere des Internets, die viele seiner Funktionen schon ausgiebig nutzten, als man dafür noch einiges an Computerkenntnissen brauchte. Die sich aber eigentlich weigern, die jüngste Permutation des globalen Netzwerks vom Kommunikationsmittel zum öffentlichen Lebensraum mitzumachen.

Daraus ergibt sich ein merkwürdiges Paradoxon: Wildfremde Menschen, die man nur “schriftlich” und als einen Spitznamen kennt, ohne “Vorsichtsmaßnahmen” im echten Leben zu treffen, ist normal. In sozialen Netzwerken den eigenen Alltag permanent transparent zu machen erscheint absurd: Eine andere Seite der Erfolgsstory, die das Internet immer schon war.

Diese Interviewserie entblättert langsam aber sicher auch meine Netzvergangenheit. Wer mein Blog liest, merkt, dass Fantasy und Science Fiction besondere Steckenpferde von mir sind. Es dürfte also nur milde überraschen, dass ich lange ein sehr aktives Mitglied der Weltenbastler war, etwa von 1999 bis 2004. Daher kenne ich Manu (Gomeck) und Iris (Ly).


Real Virtuality: Ihr habt euch über das Internet kennen und lieben gelernt, lange bevor das Web 2.0 so richtig eingeschlagen hat. Findet ihr das eigentlich normal?

Ly: Ob das normal ist?! Fragst du das wirklich uns? Vielleicht kann man das bei uns nicht so wirklich sehen. Wir kannten uns viele Jahre, bevor es zwischen uns gefunkt hat. Und in dieser Zeit haben wir uns oft von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden. Insofern würde ich nicht sagen, dass wir uns ‘über das Internet’ lieben gelernt haben – das war schon in Fleisch und Blut… und noch dazu nicht wirklich beabsichtigt.

Gomeck: Es fühlte sich zumindest total normal an. Aber das liegt vielleicht daran, dass ich von Anfang an die Community, in der wir uns kennengelernt hatten, als eine echte Gemeinschaft kennengelernt hatte, und auch sonst keine Berührungsängste mit dem Internet hatte. Klar, man kannte sich nur online, aber mit dem ersten Real-Treffen der Community-Mitglieder war man dann definitiv festes Mitglied einer eingeschworenen Gruppe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es unnormal ist, online mit den Leuten zu kommunizieren, die man auch live und in Farbe kennt. Iris habe ich ja auch erst später dort kennengelernt, und auch erst freundschaftlich. Zu einer Beziehung kam es ja erst viel später… und auch nicht wirklich übers Netz, auch wenn es sehr hilfreich war, in ständigem Kontakt und Austausch über die Entfernung zu sein.

Erzählt doch nochmal kurz, wie es dazu kam.

Gomeck: Puh, das trifft einen wunden Punkt: mein Gedächtnis! Ich weiß nicht mehr, wie es genau angefangen hat…

Ly: Frag mich was leichteres! Im einem Moment war Gomeck einfach nur der lustige, große Kindskopf – im nächsten Moment ein äußerst attraktiver und anziehender Mann. Er war der erste, der mich damals bei den Weltenbastlern wahrgenommen und mich in die Community gezogen hat. Danach waren wir lange gute Freunde, die das gleiche Hobby teilten und dann … keine Ahnung!

Gomeck: Das ist zum Beispiel so etwas, was ich gar nicht mehr so genau in Erinnerung hatte, dass ich da wohl eine aktive Rolle an ihrer Community-Zugehörigkeit gespielt hatte. Wir hatten uns ja damals auch öfters mal getroffen. Eines Tages rief sie mich während der Arbeit an, sie sei in der Nähe, und ob man sich nicht abends treffen könne. Wir saßen dann Ewigkeiten beim Kaffee in der Hotelbar und haben endlos gequatscht – zu reden hatten wir damals schon viel. Aber wie gesagt, das war lange, bevor es tatsächlich “funkte”.

Würdet ihr also sagen, eure Beziehung ist eine Internet-Erfolgsstory?

Gomeck: Hm, ich glaube, wir sind nicht so wirklich das typische Beispiel von Pärchen, die sich über das Internet kennengelernt haben. Eine Erfolgsstory ist es trotzdem! Das kann man rückblickend wohl tatsächlich sagen.

Ly: Mit Sicherheit! Wir haben ein Jahr 800km überbrückt, bevor ich aus meinem geliebten München ins Aachener Exil gezogen bin – und jetzt wohnen wir schon gut drei Jahre zusammen. Und es klappte und passte von der ersten Minute an.

Gomeck: Ohne das Internet wäre die erste Zeit nicht leicht geworden. Es ist schon so viel wert, wenn man zumindest abends per Webcam das Gesicht des anderen sieht und nicht nur die Stimme hört. Allerdings hatte ich zu der Zeit auch irgendwie ziemlich wenig Schlaf, weil ich mich so ungern vom Rechner trennen wollte!

Wie reagieren Leute, die ihr heute kennenlernt, wenn sie erfahren, dass ihr eigentlich ein Internet-Paar seid?

Gomeck: Ich sage eigentlich nicht, “Ich habe meine Freundin übers Internet kennengelernt”, außer, wenn ich besondere Reaktionen hervorrufen möchte –  da denkt doch jeder direkt an eine Kontaktbörse. Nicht dass das schlimm wäre – einer unserer besten Freunde hat seine jetzige Frau in einer Kontaktbörse gefunden. Viel interessanter sind dann doch eher die Reaktionen, wenn ich sage, dass ich sie bei den “Weltenbastlern” kennengelernt habe!

Ly: Als Informatikerin hat man bei mir irgendwie nicht viel nachgedacht. Klar wurde hinterfragt, ob das gut gehen kann, wenn man auf einmal zusammen zieht, wenn man sich vorher immer nur kurz gesehen hat. Heute haben sich die Leute so sehr dran gewöhnt, dass ich immer nur höre, “Ja, dass habe ich jetzt schon öfter gehört”. Es wird also ‘normal’ – dass wir schon einige Zeit früher ein Paar wurden sei mal dahingestellt.

Gomeck: Ich glaube, früher hatten die Leute schon noch eher erst mal geguckt und nachgefragt, heutzutage dürfte das immer normaler werden, oder? Hinterfragt hat das eigentlich niemand, schließlich kannte ich Iris ja schon einige Jahre, auch persönlich, bevor es überhaupt erst gefunkt hat.

Ly: Da Manu lange Zeit alleine einen Haushalt geschmissen hat, konnte ich mir ziemlich sicher sein, dass ich ihm nicht alles hinterher tragen muss, wenn wir zusammenziehen. Das ist in meinen Augen eigentlich das größte Gift für eine Beziehung.

Seid ihr beide Internet-Junkies der ersten Stunde?

Gomeck: Könnte man fast sagen, ja. Ich hatte als ersten Rechner einen 486er für stolze 1000 DM von einem Freund der Familie gekauft und noch auf DOS-Ebene rumgefrickelt, seitdem habe ich eigentlich immer die Entwicklung mitgemacht. Mit dem Internet zum ersten Mal in Berührung gekommen bin ich in Berlin bei einem Bekannten, puh, wann war denn das? 1997? 1996? Also ziemlich am Anfang. Zum ersten Mal so richtig damit zu tun hatte ich dann 1999 bei der Arbeit. Mit dem ersten richtig verdienten Geld konnte ich dann endlich auch zu Hause ins Internet, aber die Firmenrechner waren so unendlich viel schneller, dass ich da einige Nachtstunden eingeschoben habe.

Das war auch die Zeit, in der ich meine erste eigene kleine Homepage machte, bei FortuneCity. Es sah schrecklich aus, aber ich habe auch damals schon den Quelltext, den das automatisierte Programm erstellte, genauer angeschaut, und alleine vom Draufschauen das grundlegende HTML gelernt. Zu Hause habe ich dann recht bald komplexere Webseiten gebastelt, irgendwann kamen die ersten eigenen Domains.

Ja, und das Wort “Junkie” kommt dem schon gefährlich nahe – ich denke, ich bin durchaus in der Gefahr, mich und die Zeit da schnell zu vergessen. Das hat sich eigentlich erst hier mit dem Zusammenziehen mit Iris gelegt, denn jetzt gibt es andere Verpflichtungen, denen man nachkommen muß, wenn man zu Hause ist. Seitdem liegen übrigens auch meine (und ihre) ganzen Webprojekte ziemlich brach *schäm*

Ly: Ich war ein Internet-Junkie – definitiv! Ich bin auch nach wie vor der Überzeugung, dass mir das Internet das Leben gerettet hat und mich zu der gemacht hat, die ich heute bin … oder die Leute, die ich im Internet getroffen habe. Ich hatte im “echten Leben” nie viele Freunde, die mich ernst genommen habe. Im Internet war das schon was anderes – da gehörte ich relativ bald einfach dazu. Und das hat mir die Kraft gegeben, außerhalb des Internets zurecht zu kommen.

Gomeck: Das war bei mir zum Glück nicht so. Ich hatte damals in Düsseldorf auch schon noch ein ziemlich aktives Leben neben dem Netz, vor allem in sportlicher Sicht. Insofern war ich damals entweder am Rechner, bei der Arbeit oder am Klettern an der Felswand.

Auf den üblichen Web 2.0-Seiten habe ich euch nicht gefunden. Hat sich das Netz für euch im Laufe der Zeit verändert?

Gomeck: Oh, das ist so nicht ganz richtig. Bei Facebook bin ich und Iris inzwischen auch … zu meiner Schande muß ich gestehen, dass ich allerdings alleine aus dem Grund dort eingestiegen bin, weil meine ganzen Brüder und viele aus meiner alten Heimat, zu denen ich sonst echt wenig Kontakt habe, dort vertreten sind. Weil sie mir von einem bestimmten Spiel vorgeschwärmt haben und wir Brüder uns immer schon gerne gemessen haben, musste ich mich natürlich dort anmelden, wenn auch nicht unter meinem echten Namen. Wer mich und mein Umfeld ein bißchen kennt, dürfte mich dort vermutlich auch finden. Aber sonst halt niemand. Twitter hab ich nie so richtig verstanden. Was interessieren mich diese Satz-Schnipsel? Keine Ahnung, wofür das gut sein soll. Information wird so beliebig, man muß auch immer mehr aufpassen, was man glauben kann.

Ly: Wir sind noch nicht lange bei Facebook, aber irgendwann erwischt es dann doch jeden. Ich sträube mich ein bisschen gegen all diese Web 2.0-Technologien, weil nicht jedem mein Leben was angeht – abgesehen davon, lebe ich mittlerweile mehr außerhalb des Internets, als im Internet. Ich verbringe zu Hause kaum mehr Zeit am Rechner, wenn ich den ganzen Tag in der Arbeit programmiere. Das bisschen Forum lesen und chatten zählt schon fast gar nicht mehr – ich würde sagen, ich bin geheilt.

Gomeck: Ich bin auch wesentlich weniger am Rechner als noch vor unserem Zusammenziehen. Es gibt eigentlich ständig irgendwas zu tun. Heute nutze ich das Netz vor allem zur Kontaktpflege mit allen möglichen Leuten, zum bequemen Shoppen, zur Recherche und natürlich für die Weltenbastler.

Ist das Netz der Ort, an dem ihr euch kennengelernt habt, oder das Werkzeug, das euch zusammengebracht hat?

Gomeck: Ich würde sagen, es ist nur das Werkzeug, das Mittel zum Zweck. Allerdings bin ich froh, dass es das gegeben hat, denn wie sonst hätte ich die 800km entfernte Iris kennenlernen sollen? Das Internet ist kein “Ort”. Ich bin auch gegen Virtual Reality (Hoffentlich nicht gegen Real Virtuality, Anm. d. Bloggers), Second Life oder auch Spiele wie World of Warcraft. Das ist natürlich faszinierend, aber irgenwie sollten die Leute wirklich wieder lernen, mit ihrem realen Leben fertig zu werden. Exzessives Zeitverbringen in diesen “Orten” ist eigentlich in meinen Augen fast immer eine “Flucht”.

Ly: Ich sage auch: Werkzeug. Als Informatikerin finde ich die Idee des virtuellen Raumes zwar faszinierend, aber ich weigere mich, diesen Raum wirklich wahr werden zu lassen. Ich möchte in unserer Welt leben – nicht zwischen Bits und Bytes.

Im Web hängt ja viel davon ab, wie man sich selbst darstellt. Man kann viel oder wenig von sich selbst preisgeben, eine virtuelle Persönlichkeit erschaffen, die viel oder wenig vom “stofflichen” Selbst hat. Wie sieht das bei euch aus?

Gomeck: Ich hatte eigentlich von Anfang an nicht so viel Scheu, etwas von mir preiszugeben. Meine erste persönliche Homepage war ja auch entsprechend früh am Start. Allerdings trotzdem unter einem Spitznamen, den ich schon in der Schule hatte – und das ist bis heute auch so geblieben. Inzwischen bin ich vorsichtiger geworden mit dem, was ich preisgebe – auch ein Nebeneffekt vom immer noch wachsenden Erfolg des Netzes. Naja, aber nicht übervorsichtig. Wer eifrig sucht, findet sogar interessante Fotos von mir.

Aber dass ich in Communities oder Chats bewußt eine andere Persönlichkeit vorgegaukelt hätte, das kam, bis auf ganz anfängliche, aufregende Versuche, mich in irgendwelchen Chatrooms als Frau auszugeben, für mich nie in Frage. Das wäre nicht ehrlich, und Ehrlichkeit hat einen hohen Stellenwert bei mir.

Ly: Zu jeder Zeit war meine virtuelle Persönlichkeit immer die meine – die Frage ist nur, wie viel jemand davon gesehen hat. Sicher böte die virtuelle Realität alle Möglichkeiten, ein anderes Ich zu kreieren, aber wozu? Ich nehme mein Gegenüber genauso ernst, wie ich ernst genommen werden will und da hat Verarschung keinen Platz – außerdem sehe ich es als Zeitverschwendung, wenn ich nonstop Blödsinn erzähle.

Gomeck: Und wenn man es wirklich nicht aushält, dann soll man sich eben in Forenrollenspielen verlustieren! Da ist es ausdrücklich erwünscht, einen anderen Charakter zu spielen.

Ist bei eurem inneren Bild des jeweils anderen noch etwas übrig geblieben von der virtuellen Person, oder ist die virtuelle Person vollständig von der realen Person ersetzt worden?

Gomeck: Hm, ich habe noch sehr lange immer Ly zu ihr gesagt. Das wurde dann irgendwann von “Schatz”, “Maus” oder ähnlichen Ersatzbegriffen ersetzt. Erst seit wir dann tatsächlich zusammengekommen sind, sage ich dann auch mal ganz bewußt ihren Namen. Ich muß allerdings zugeben, dass es mir tatsächlich eher liegt, sie mit Kosenamen zu belegen.

Ly: In meinem Kopf ist Manu niemals wirklich Gomeck gewesen. Ich bemühe mich eigentlich jeden liebgewonnenen Menschen mit seinem richtigen Namen und seinem richtigen Gesicht abzuspeichern, weil wir Menschen sind und keine Avatare.

Gomeck: Unsere Avatare im Forum haben wir ja früher nach Herzenslust geändert! Und was meinen Nickname angeht: mit dem wurde ich ja schon vor jedem Internet ganz real gerufen. Deshalb hab ich auch kein Problem damit, wenn andere mich Gomeck rufen. Und bei Weltenbastler-Treffen erwarte ich es eigentlich fast sogar!

Einige eurer Bekannten aus der Community kennen euch wahrscheinlich nach wie vor nur als Nicks und Avatare, wissen vielleicht gar nicht, dass ihr ein Paar seid. Wie geht ihr innerhalb der virtuellen Gemeinschaft mit eurem Paardasein um?

Gomeck: Inzwischen eigentlich recht offen. Wir binden es allerdings nicht jedem sofort auf die Nase, und ich habe auch kein Stress damit, wenn es manche gar nicht wissen. Wir machen allerdings kein Geheimnis draus. Also wer es rausfinden will, der hat kein Problem damit.

Ly: Ich denke, wir machen es immer wieder deutlich genug, dass wir ein Paar sind. Ich fände es unfair, die anderen darüber im Unklaren zu lassen.

Was müsste sich eurer Meinung nach im Netz noch ändern?

Gomeck: Unfairer Abmahnwahn müsste strafbar werden! Ansonsten fällt mir da nix ein. Die Nutzer müssen sich ändern, es ist schon teilweise extrem leichtsinnig, wie im Netz mit persönlichen Daten umgegangen wird und was die Leute von sich preisgeben.

Ly: Ich finde auch eher, dass sich die Menschen wieder ein bisschen mehr ändern sollten – ich finde die Einstellung, die derzeit herrscht, sehr merkwürdig. Ich könnte gezielt nach so manchem Namen suchen und wüsste innerhalb von 30 Minuten seine gesamte Lebensgeschichte und was er gestern gegessen hat und mit wem er heute ins Bett steigt.

Und da beschweren sich die Leute, wenn öffentliche Kameras installiert werden – wozu? Einmal gesurft und ich weiß eh, wo derjenige steckt. Selbst Mörder lassen sich über Facebook fangen, so wie gerade in Italien geschehen – wie dämlich ist das bitte? Nee, nee! Am Netz ist soweit alles in Ordnung – nur die Nutzer sind gerade sehr seltsam.

Dieser Beitrag ist Teil 3 der Serie Erfolgsstory Internet?
Sie spricht mit Menschen, in deren Leben sich durch das Internet etwas verändert hat, über das Internet.

Erfolgsstory Internet? – Hanspeter Heß und The Healing Road

Das Internet hat die Musikindustrie nicht nur durch illegale und legale Downloads verändert. Die Talentbörsen der Gegenwart sind immer häufiger MySpace und YouTube. Weil in dieser Interviewserie aber nicht die großen, sondern die kleinen Erfolge beleuchtet werden sollen, folgt nun weder ein Interview mit den Arctic Monkeys noch mit Lily Allen, sondern mit Hanspeter Heß alias The Healing Road.

The Healing Road wandelt mit seinen teils sphärischen, teils knallenden, Keyboard-getriebenen Stücken vor allem auf den Spuren von Mike Oldfield – nicht die Art von Musik, mit der man heute noch Stadien füllt, aber für einen kleinen Kreis von Liebhabern durchaus interessant. Interessant dabei auch: Hanspeter Heß ist 43 und hat bis 2005 noch nie öffentlich Musik gemacht. Inzwischen verlegt der französische Special-Interest-Vertrieb Musea seine drei Alben und in der kleinen Szene ist der Winnender durchaus ein bekannter Name.

Ich habe mit Hans über die späte Erfüllung eines Traums gesprochen und musste dabei feststellen, dass er zum Internet durchaus eine konservative Haltung einnimmt.

Ich kenne Hans, weil uns die gemeinsame Liebe zur amerikanischen Progrock-Band Spock’s Beard verbindet. Ich bin auch ein Mitglied der Community, in der Hans seine ersten Schritte gemacht hat, und ich war am The Bearded’s Project beteiligt.


Real Virtuality: Würdest du sagen, dass The Healing Road eine Erfolgsstory ist?



Hanspeter Heß: Ich werde dadurch nicht reich oder berühmt und ich bekomme keine Preise dafür verliehen. Aber subjektiv empfinde ich die 5 Jahre seit dem Beginn des Projekts durchaus als Erfolg. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, zum ersten Mal in meinem Leben eigene Musik aufzunehmen, andere Musiker einzubinden, weltweit Alben zu veröffentlichen und in bescheidenen Mengen zu verkaufen, ganz ohne Kontakte zur hiesigen Musikerszene, ohne Beziehungen und ohne dafür mein Leben neu zu organisieren und andere Dinge zu vernachlässigen.

Ich bin einfach seit jeher ein riesengroßer Musik-Fan und als solcher ist es natürlich ein Traum, einmal ein eigenes Album in Händen halten zu dürfen und es darüberhinaus sogar zu verkaufen. Wenn mir ein Freund Fotos schickt von einem Open Air auf der Loreley, wo am Verkaufsstand ein Album von mir angeboten wird, macht mich das glücklich. 



Erzähl doch nochmal kurz, wie das Ganze aus deiner Sicht seinen Anfang nahm.



2005 habe ich mir aus Neugier einen kleinen Apple-Rechner gekauft und darauf zufällig “Garage-Band” gefunden. Ich schloss also ein altes Keyboard an und nahm, fasziniert von den Möglichkeiten so einfacher Software, ein bisschen Musik auf. Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend 10 Jahre lang Klavierunterricht, somit war ein gewisses Fundament vorhanden. Eher aus Spaß präsentierte ich das Ergebnis bei thebearded.de. Ein paar Leute mochten es, machten Mut, mich damit intensiver zu beschäftigen und hatten die Idee, über moderne Recording-Software mal eine Zusammenarbeit übers Internet zu versuchen. Das war die Geburtsstunde von The Bearded’s Project, einer 2007 erschienenen Doppel-CD der The Bearded-Community für die Kinderhilfe Afghanistan, an der fast die gesamte Gemeinschaft irgendwie beteiligt war, als Musiker, Cover-Designer, PR-Aktivist oder auch durch Ansporn und Kritik.

Es war eine unwahrscheinlich spannende und fruchtbare Zeit und ich hätte nie gedacht, dass man so etwas fast ausschließlich über’s Internet realisieren kann. Eine Begleiterscheinung dabei war, dass ich nun Schritt für Schritt verfolgen konnte, wie man ein Album macht und nach und nach meine Ahnungslosigkeit diesbezüglich verlor. Ich nahm nebenher neue eigene Musik auf und stieg auf professionelle Software (Logic) und einen stärkeren iMac um. Ich meldete mich außerdem bei MyOwnMusic an und bekam dort viel positives Feedback, unter anderem auch die eine oder andere Anfrage, ob es von mir ein Album zu kaufen gibt. Also hatte ich irgendwann rund 60 Minuten Musik beisammen und wusste, was zu tun ist, um ein passabel klingendes Ganzes daraus zu machen. Die Erfüllung eines alten Traums war plötzlich zum Greifen nah und das Debüt Anfang 2007 fertig. Danach hatte ich richtig Blut geleckt. Die erste CD war noch überwiegend am Keyboard entstanden. Nun wollte ich mehr Musiker dabei haben, mehr echte Gitarren, Drums und Bässe hören. Meine Musiker-Freunde von The Bearded und neu hinzugekommene Gastmusiker aus My Own Music leisteten wertvolle Beiträge, ich hatte zwei sehr kreative Jahre und es entstanden die Nachfolgealben Timanfaya und Tales from the Dam. Letzteres konnte ich als LP mit beigelegter CD umsetzen, was mich als Kind der Siebziger sehr gefreut hat.



Und wie kam es dann zu dem Deal mit Musea?



Anfang 2008 hatte ich Timanfaya fertig und war schon am dritten Album. Ich war fasziniert von der Idee, das als LP zu veröffentlichen. Weil das ein relativ kostspieliges Unterfangen ist, von der Pressung bis hin zum teureren Versand, versuchte ich ohne große Hoffnungen einfach mal, ein Label zu kontaktieren. Ich wusste, dass Musea Records für einen Teil der The Bearded’s Project-Alben den Vertrieb übernommen hatte. Ende Juli 2008 schrieb ich denen also eine Mail und schickte per Post Timanfaya und das frisch gemasterte dritte Album als Hörproben hinterher. Dann ging alles recht schnell: Sie waren wunderbarerweise nicht nur bereit, Tales from the Dam tatsächlich als LP mit beigelegter CD zu vertreiben, sondern auch, mir den Selbstvertrieb von Timanfaya abzunehmen. Ich bekam Mitte September die Vertragsentwürfe geschickt und nahm sie zum Studium mit in den Urlaub, um sie danach zu unterschreiben. Sechs Wochen später hatte Musea Timanfaya bereits in ihrem Webshop und den Vertrieb von Tales übernahmen sie von Anfang an.



Verdienst du Geld mit deiner Musik?



Ich könnte, wenn ich nicht so sehr auf Alben mit opulentem Artwork stehen würde. Mit den bisher verkauften Alben wäre ich schon in der Gewinnzone, wenn ich Timanfaya und Tales from the Dam in einer kostengünstigen Standard-Pressung hätte machen lassen. Aber für Timanfaya wollte ich unbedingt ein hochwertiges 12seitiges Booklet mit Infos zu den Stücken und Bildern des Malers Herbert Wanderer, außerdem habe ich das Album von einem Profi mischen lassen. Und was die kombinierte LP-/CD-Pressung von Tales finanziell bedeutet, kann man sich denken. Es geht mir nicht um’s Geld verdienen, das tue ich tagtäglich im Büro. Ich will mir Träume erfüllen, kreativ sein.

Ist das zum Beispiel auch der Grund, warum http://www.thehealingroad.de nicht existiert?

Sicher. Eine professionell gestaltete und regelmäßig aktualisierte Homepage unter einem griffigen Namen wäre natürlich hilfreich und verkaufsfördernd. Aber das würde mich viel Zeit kosten, die ich nicht habe. The Healing Road ist nach wie vor das Hobby eines Berufstätigen mit fester Beziehung, der sein Leben sortiert halten muss.

Das klangliche und optische Endergebnis steht immer über dem Gewinnstreben und deshalb arbeite ich auch nach wie vor hartnäckig der Kostendeckung entgegen. Ich habe auch das große Glück, viele Idealisten an Bord zu haben. Keiner der Musiker wollte Geld, auch das Cover-Design, die Schriftzüge, die Fotos und Malereien in den Artworks der Alben, steuerten Leute bei, die das nicht für Geld tun, sondern um am Ende Teil des Ganzen zu sein. Ohne sie könnte ich meine Musik nicht in dieser Form verwirklichen und präsentieren, dann gäbe es nur eine Download-Version bei iTunes.



Welche Rolle spielt das Internet in deiner Funktion als Musiker für dich jetzt?



Mir als Amateur, der sein Geld nicht mit Musik verdienen muss, bietet das Internet grenzenlose Möglichkeiten. Ich kann mir auf der ganzen Welt Mitmusiker suchen und Dateien mit ihnen austauschen, es gibt unzählige Plattformen, wo man umsonst seine Musik präsentieren und Hörer finden kann. Ohne das Internet würde ich keine Musik aufnehmen, es gäbe keine CDs von mir. Das Internet ist für mich die Möglichkeit, mit anderen Musikern zu interagieren, ohne dabei durch geographische Distanz oder Zeitprobleme behindert zu werden. Ich bin 43, viele meiner Mitmusiker bei The Healing Road sind in einem ähnlichen Alter. Wir leben verstreut über ganz Deutschland, einige haben Kinder, jeder seinen Job und seine Verpflichtungen. Das Internet gibt uns die Möglichkeit, zusammen Musik zu machen, die es ohne dieses Medium nie gäbe. 



Du und das Internet, war das Liebe auf den ersten Blick?



Ich habe mich ungefähr 1990 über Compuserve vernetzt und war spontan fasziniert. Das WWW war damals noch eher eine Randerscheinung. Abends eine Mail an einen Freund in Kanada zu schreiben und am nächsten Morgen die Antwort abzurufen, fand ich sensationell. Damals war alles noch nicht so werbeverseucht, es war durchaus Liebe auf den ersten Blick.



Wie ist dein Verhältnis zu dem Medium heute?



Es ist ein zwiespältiges Verhältnis. Oben habe ich ja beschrieben, dass mir das Internet das Ausüben eines sehr schönen und erfüllenden Hobbys ermöglicht, das weiß ich zu schätzen. Auch die Erfahrung von The Bearded’s Project, die Tatsache, dass eine Internet-Community eine gemeinsame kreative Anstrengung unternimmt, an deren Ende gar nicht virtuelle, sondern sehr reale 7000 Euro für einen guten Zweck zusammenkommen, zeigen mir, dass man das Medium konstruktiv und bereichernd nutzen kann. Andererseits gibt es Dinge, die ich für bedenklich halte: Die grenzenlose Kommerzialisierung, das Mobbing via Internet, das kaum kontrollierbare Sammeln von Daten, zu viele “soziale Netzwerke”, zu viele virtuelle Freunde usw. Ich denke, sobald das Internet zum Selbstzweck verkommt, sollte man sich Gedanken machen. 



Welche Plattformen nutzt du?



Ich bin mit meiner Musik auf MySpace und MyOwnMusic und schaue hie und da für ein paar Kontakte zu Schul- und Studienfreunden bei Stayfriends rein. Kein Twitter und kein Facebook bisher.



Musstest du mit Höhenflügen klarkommen, als The Healing Road plötzlich zu einem kleinen Erfolg wurde und du rezensiert und interviewt wurdest?



Natürlich ist es schmeichelhaft, wenn man “stattfindet” – wenn Internet-Radios im Ausland plötzlich meine Musik spielen oder sich neben den einschlägigen Online-Rezensions-Seiten auch mal das eine oder andere halbwegs bekannte Printmagazin zu einer positiven Rezension hinreißen lässt. Ich hatte da durchaus eine Phase der Euphorie. Das habe ich genossen, aber ich denke, ich bin schon zu alt, um mich davon blenden zu lassen. Probleme tauchen dadurch aber dennoch auf, und zwar dann, wenn man nach solchem Feedback neue Musik aufnehmen will. Plötzlich ist die Unschuld weg, man werkelt nicht drauf los, sondern macht sich auf einmal Gedanken, wie das beim Hörer wirkt, wie die Erwartungen sein könnten, evtl. auch was an den letzten Alben moniert wurde. Das ist keine gute Voraussetzung, um Musik zu machen und es braucht ein wenig Zeit, sich daran zu gewöhnen und diese Hintergedanken zu verdrängen.



Betreibst du aktiv Werbung für deine Musik, promotest du sie?



Ich bin ein miserabler Promoter. Ich habe schon ein wenig Werbung in zwei oder drei einschlägige Foren gepostet, meist Fan-Communities von Bands, die musikalisch verwandt mit oder Vorbild für meine Musik sind. Ich bin aber sehr froh, dass sich darum jetzt Musea Records kümmert.



Was macht Musea denn für dich? Nutzen die die Fan-Gemeinschaft im Internet?

Musea scheint einen sehr aufmerksamen und musikhungrigen Kundenkreis zu haben, der sich vorrangig übers Internet informiert. Die müssen gar nicht teuer in Print-Magazinen inserieren. Es reicht, wenn sie ihre PDF-Flyer per Rundmail verschicken und ihre Internet-Connections nutzen. Gerade im Progressive Rock – Bereich scheint sich eine Art Subkultur im Internet entwickelt zu haben, die von den herkömmlichen Vermarktungswegen getrennt und nicht abhängig ist. Da läuft viel über Mund- bzw Mailpropaganda und Rezensions-Seiten.

Welche Rolle spielt dabei die Vermarktung deiner Person und Geschichte?



Beim ersten Album spielte das noch eine nennenswerte Rolle, weil alles noch so frisch und gerade erst passiert war. Mittlerweile erwähne ich es nicht mehr, ich schreibe dann eben, dass es das Projekt nun seit 5 Jahren gibt und 2007 das erste Album erschien. Auch Musea stellt mich da nicht sonderlich heraus, ich werde lediglich als Schöpfer und Chef des Projekts genannt.

Glaubst du denn trotzdem, dass es sowas wie einen Underdog-Charme bei The Healing Road gibt?

Zumindest anfangs gab es den ganz sicher. Ich habe neulich auf MySpace einen Künstler gefunden, der gar angab, dass die Entstehunsgeschichte meines Projekts ihm den Mut gab, sich selbst an etwas ähnlichem zu versuchen. So jemand kauft die CD nicht vorrangig wegen des perfekten Sounds, sondern weil ihm diese Geschichte irgendwie sympathisch ist.




Was ist deine Zielgruppe, falls du so etwas hast? Bekommst du Rückmeldungen?



Das bisherige Feedback lässt vermuten, dass es einen Peak der Käuferanzahl bei Männern zwischen 30 und 50 gibt, nicht untypisch für Musik dieser Art. Längerfristiger Kontakt hat sich mit ein paar Radio-DJs ergeben, das sind oft die selben Musik-Freaks wie ich einer bin. Das läuft eigentlich alles in normal-freundschaftlichem Ton auf Augenhöhe ab und nicht “von Künstler zu Hörer”. 



Hast du auch negative Erfahrungen gemacht?

Es gab bisher keine Kritiken unter der Gürtellinie. Ich denke, dafür ist das Ganze noch in zu harmlosen Dimensionen. Diese Auswüchse entstehen meist, wenn wirklicher Neid existiert oder der Erfolg eines Projekts manchem unangemessen und unverdient erscheint. Dafür bin ich einfach zu unbekannt, denke ich.

Hast du irgendwelche Ziele, was du mit The Healing Road noch erreichen möchtest?



Noch ein Album machen, das besser ist als die ersten drei.



Allgemein gesprochen: Wie, würdest du sagen, hat das Internet dein Leben verändert?



Es hat vieles einfacher gemacht. Es hat den Kontakt zu Freunden erleichtert, hat verhindert, dass ich Leute aus den Augen verloren habe, es macht es mir leicht, mich über Musik oder Literatur zu informieren, Bildungslücken zu schließen, mich mit Gleichgesinnten auszutauschen, mal eben den Kontostand abzufragen, ohne zur Bank zu müssen und so weiter. Meine Leidenschaft für die Musik konnte ich dank des Internets vom reinen Konsum auf das Veröffentlichen eigener Alben ausweiten. 



Und genauso allgemein gesprochen: Was könnte im Internet noch besser laufen?



Ich denke, es liegt an jedem einzelnen User selbst, was er daraus macht. Man könnte es oft etwas umsichtiger und wohldosierter nutzen, weniger konsumieren, aktiver daran teilnehmen. Es hat bei aller Kommerzialisierung enormes Potenzial, das man nur erkennen und nutzen muss.

Dieser Beitrag ist Teil 2 der Serie Erfolgsstory Internet?
Sie spricht mit Menschen, in deren Leben sich durch das Internet etwas verändert hat, über das Internet.