Das Ende der Hyper-Stasis?

Alles beschleunigt, aber nichts verändert sich. Das ist das dominante Zeitgefühl der Postmoderne, spätestens seit Beginn des neuen Jahrtausends. Die Krisen mögen zunehmen, die Computerchips kleiner werden, aber wann war das letzte Mal, dass wir in der nördlichen Hemisphäre wirklich das Gefühl hatten: Oh, das ist neu, und das wird alles verändern?

Die globale Pandemie? Na ja, ich arbeite jetzt halt vier Tage die Woche von zu Hause und habe drei Jahre lang Maske getragen, aber trotz der vielen Toten – mein Leben hat sich eher trotz als wegen Covid verändert. Der Krieg in der Ukraine? Ich habe meine Abschlagszahlung für Öl und Gas etwas erhöht, fertig. Ich weiß natürlich, dass es viele individuelle Schicksale gibt, die die Auswirkungen deutlich mehr gespürt haben, als ich. Aber aus breiterer Perspektive hat sich doch das Leben im Rest der Welt auch nicht mehr verändert als bei einem Krieg, der weiter weg gewesen wäre. Das ist ja das absurde.

Simon Reynolds hat für dieses Gefühl in seinem Buch Retromania den Begriff Hyper-Stasis geschaffen. Ich habe mal das längere Originalzitat rausgesucht, das sich ursprünglich nur auf Musik bezieht. Reynolds beschreibt,

feeling impressed by the restless intelligence at work in the music, but missing that sensation of absolute newness, the sorely craved ‘never heard anything like this before’. Hyper-stasis can apply to particular works by individual artists, but also to entire fields of music. (…) In the analogue era, everyday life moved slowly (you had to wait for the news, and for new releases) but the culture as a whole felt like it was surging forward. In the digital present, everyday life consists of hyper-acceleration and near-instantaneity (downloading, web pages constantly being refreshed, the impatient skimming of text on screens), but on the macro-cultural level things feel static and stalled. We have this paradoxical combination of speed and standstill.

Simon Reynolds: Retromania: Pop Culture’s Addiction to its Own Past (2010)

Ich denke über dieses Gefühl seit mindestens zwölf Jahren nach, und ich suche entsprechend seit zwölf Jahren nach einem Ausweg daraus. Jetzt, 2023, bin ich erstmals bereit, zu behaupten: Ich denke, er steht bevor. Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine folgt der Formel Change by Disaster. Der andere hat Kulturproduktion jetzt schon grundlegend verändert – und dabei hat seine Zeit gerade erst begonnen.

Klimawandel oder Klimakatastrophe?

Das erste, was mir einfiel, nachdem ich Retromania gelesen hatte, war: Wie hängt das alles mit Untergangsdenken zusammen? Ich habe sogar Simon Reynolds bei einer Lesung danach gefragt: Wäre nicht eine Katastrophe der Ausweg aus der Hyper-Stasis? Er hat gelacht und hatte keine weiteren Gedanken dazu, aber ich bleibe dabei: Ist das nicht in einer apokalyptisch geprägten Kultur wie der unseren eigentlich sogar der explizite Wunsch, auf den wir hinsteuern? Eine große Zäsur, eine wirkliche Zeitenwende, die die Spreu vom Weizen trennt und uns in einem Zug endlich von der großen Ennui befreit, die mit der Hyper-Stasis einhergeht.

Die Pandemie hatte ja bei vielen Menschen interessanterweise genau den gegenteiligen Effekt. Sie war etwas Schleichendes, Unsichtbares. Keine unmittelbare Bedrohung, sondern etwas, was für noch mehr Zeitlosigkeit sorgte.

Aber: Wie steht es mit der bevorstehenden Klimakatastrophe?

Als ich mit meinem Kulturindustrie-Co-Host Sascha im November 2019 über Nostalgie gesprochen habe, hat er etwas gesagt, was mir sehr im Kopf geblieben ist: “Ich glaube, dass das alles in der Zukunft noch schlimmer wird.” Die Angst vor der Zukunft werde die ganze Welt in die Vergangenheit treiben, meinte er. Das passt zu dem, was ich im Oktober geschrieben habe: Eventuell besteht die Reaktion der Menschheit im Angesicht der Katastrophe vor allem in einem herzhaften “Weiter so”.

Vielleicht aber sorgen die zunehmenden Vorboten des Kollapses aber auch für eine Veränderung der eigenen Wahrnehmung in der großen Erzählung der Menschheit. Eventuell möchte diese doch lieber eine sein, die die Katastrophe in letzter Minute abgewendet hat, als eine, die sehenden Auges und trägen Geistes in sie hineingelaufen ist.

Bei mir und bei einem signifikanten Teil der Bevölkerung, insbesondere in den Generationen nach mir, ist dieses Bewusstsein ja bereits erwacht. Ich glaube, dass es nicht nur die reine Angst ist, die alle antreibt, die sich für Klimagerechtigkeit einsetzen, sondern auch der Wunsch, aus der bisherigen Rückwärtsgewandtheit auszubrechen.

Das also ist der erste Faktor für den Weg aus der Hyper-Stasis. Die Katastrophe kommt. Und egal ob wir sie abwenden oder nicht – die Welt, auch die kulturelle, wird dadurch auf jeden Fall neu geformt.

Geist in die und aus der Maschine

Der zweite wird seit letzem Jahr so viel diskutiert, dass es fast schon müßig scheint, ihn zu erwähnen. Aber dennoch: Ich denke, dass die zunehmende Macht von generativer Künstlicher Intelligenz uns aus der Hyper-Stasis führen könnte. Was Midjourney, ChatGPT und Co derzeit so fabrizieren, hat bei mir auf jeden Fall das erste Mal seit sehr langer Zeit ein Gefühl von Neuheit und Revolution in der Kulturproduktion hervorgerufen, wie Reynolds es beschreibt. Und das, obwohl generative KIs nur auf Daten und Referenzen zugreifen können, die bereits bestehen, also per Definition eigentlich nichts Neues schaffen können.

Und tatsächlich ist ein großer Einsatzort von generativer KI derzeit die Heraufbeschwörung von Nostalgie und Retromanie, meist für Dinge, die es nie gegeben hat (was Roland Meyer unter #ArtificialNostalgia und #NostalgicWeirdness zusammengefasst hat). Aber nicht nur werden die Maschinen-Lernmodelle schon jetzt von Monat zu Monat besser, sondern auch ihre Operatoren lernen ständig dazu.

Wenn man bedenkt, dass die letzte große Neuheit etwa in der Musik der Einsatz von Computern als Werkzeug war, erscheint es mir nur logisch, dass der nächste große Schritt in der Kulturproduktion der Einsatz von Software sein wird, die in der Lage ist, selbst Kultur zu schaffen. Wird sie damit alleine gelassen, dürfte sie nie etwas genuin Neues erzeugen, allen Befürchtungen von “self-aware” KIs zum Trotz. Aber Mensch und KI sollten gemeinsam in der Lage sein, Kultur zu schöpfen, die keiner von beiden alleine hätte generieren können und die sie wirklich neu anfühlt.

Ich habe bei Zukunftsvorhersagen und Potenzial-Prognosen neuer Technologien nicht die beste Bilanz. Vielleicht bin ich auch nur älter geworden und habe einfach ein großes Bedürfnis nach Ausbruch aus dem Bisherigen. Aber ich denke doch, dass der Hyper-Stasis-Vibe-Shift uns bereits erfasst hat.

Oder?

Foto von Ville Palmu auf Unsplash

Abschließende und Mehrwollende – Wer bist du?

© HBO

Will abschließen (links), will mehr (rechts)

Ich habe das Zitat zuerst in einem Scriptnotes-Podcast gehört. Einer Google-Suche zufolge wird es der amerikanischen Publizistin Dorothy Parker zugeschrieben und es drückt eigentlich schon vieles von dem aus, womit ich mich im folgenden Text beschäftigen will: “I hate writing, but I love having written.”

Dabei kann ich nicht einmal sagen, ob ich der ersten Hälfte des Zitates zustimmen würde. Ich hasse es nicht, zu schreiben. Aber die zweite Hälfte stimmt dafür umso mehr: Ich liebe es, etwas getan zu haben. Das geht mir nicht nur in der Produktion so, sondern auch in der Rezeption. Ein Buch durchlesen, einen Film fertigsehen, eine Serienstaffel beenden – das alles sind Momente, die mich mit Freude erfüllen. Sie geben mir das Gefühl, etwas geleistet, etwas geschafft zu haben. Eine Sache weniger vor Augen zu haben, die auf Vollendung wartet.

Das erste Feld eines neuen Weges

Doch wie so häufig stelle ich fest, dass mein Empfinden keinesfalls dem der gesamten Menschheit entspricht. Wie diametral entgegengesetzt die Wahrnehmung von Abschlüssen sein kann, erlebe ich jedes Mal wieder, wenn ich gemeinsam mit einer mir sehr nahen Person (insbesondere) Fernsehen gucke. In der letzten Folge der vierten Staffel von Game of Thrones passiert Einiges, auch Überraschendes, aber es gelingt der Serie, alle Hauptfiguren am Ende der Folge – und der Staffel – auf das erste Feld eines neuen Weges zu setzen und wunderbare offene Enden zu konstruieren. “Prima”, denke ich mir, während der Abspann läuft, “brillant beendet. Ich freue mich auf nächstes Jahr und bin froh, jetzt erstmal wieder andere Dinge zu machen.” Doch neben mir auf der Couch quietscht es entrüstet: “WAAAS? UND JETZT MUSS ICH WIEDER EIN JAHR WARTEN, BIS ES WEITERGEHT?”

Ich habe das Gefühl, dass die in Nerdkreisen so übliche Listenkultur eigentlich meine Sichtweise der Dinge unterstützt. Erst wenn ich einen Film gesehen, ein Buch gelesen habe, kann ich es in die “Erledigt”-Ecke meines virtuellen Regals stellen, egal ob auf Goodreads oder auf Letterboxd. Ein Buch, das auf ewig in meiner “Currently Reading”-Liste vor sich hinrottet, “bringt” mir nichts. Ich kann nicht behaupten, dass ich es gelesen habe. Und eine Serie, die nie endet, etwa eine Daily Soap, erlaubt nicht nur ihren Charakteren, sondern auch mir nicht, Frieden zu finden, abzuschließen, weiterzugehen.

Eine Art Limbus

Ich staune, wenn ich lese, dass meine Blogger_innen-Kollegen Björn und Yolanda Bücher nach der Hälfte oder zwei Dritteln zur Seite legen und nie wieder angucken. Sicher, so leben die Charaktere ewig fort, aber doch nur in einer Art Limbus – ohne Ziel und Zweck. Mein innerer Aspie würde da auf Dauer durchdrehen.

Die unterschiedlichen Bedürfnisse an große Erzählungen scheinen eine breitere Diskussion in der Popkultur, insbesondere in der Fan-Kultur zu sein. Nicht nur in der Serie Community ist eine Figur erst dann vollständig zufrieden, als sie mit dem Doctor Who-inspirierten “Inspector Spacetime” eine Obsession gefunden hat, die selbst in ihrem bisherigen Umfang quasi endlos ist und damit auch endlose Obsession zulässt. In einem lesenswerten Artikel auf “The Daily Dot” blickt Dominic Mayer kritisch auf die erste kanonische Veröffentlichung aus dem Harry-Potter-Universum seit mehreren Jahren und die bevorstehenden Filme, die J. K. Rowling derzeit schreibt, und zieht vergleiche zu George Lucas’ Herumdoktern an der ursprünglichen Star Wars-Trilogie, George R. R. Martins “Fuck You” an Fans, die verlangen, er möge schneller schreiben – und sogar Community selbst, die Serie, die sich auf immer absurdere Weise weigert zu sterben, um ihr selbst-gesetztes “six seasons and a movie”-Schicksal erfüllen zu können.

“Part of Art is Finality”

“[I]t’s hard to argue that part of art is finality”, schreibt Mayer. “The debate and continual reinterpretation is what keeps it alive, not a continuous stream of canon that ensures nobody ever has to feel sad about a thing they enjoyed coming to a close.” Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben – und das als jemand, der sich bevorzugt mit nicht-endendem Franchising beschäftigt. Wie enttäuschend sind doch häufig nachgeschobene Sequels wie Indiana Jones and the Crystal Skull oder Live Free and Die Hard? Wie belanglos und leichenfleddernd neue Pink Floyd Alben 20 Jahre nach einem würdigen letzten Aufbäumen, das auf dem bittersüßen Gitarrensolo von “High Hopes” (allein der Titel!) geendet hatte?

Ich kann Anderen ihre Lust am Mehr nicht absprechen, finde es sogar bewundernswert, wenn sie so gut mit der Nichtabgeschlossenheit einer Geschichte leben können und gar nicht das Bedürfnis haben, eine Art “innere Ablage” zu betreiben. In unserer Kultur der “Hyper-Stasis” oder Atemporalität befeuert es aber natürlich auch das immerwährende Bedienen am Alten und die Weigerung, zu neuen Grenzen aufzubrechen, bis nur noch ein Weltuntergang helfen kann – wobei uns Comics, Alien-Filme und Posthume Auftritte natürlich daran erinnern, dass niemand tot bleiben muss.

Ende mit Schrecken oder Schrecken ohne Ende? Zu welcher Fraktion gehört ihr, liebe Leserinnen und Leser?

Essay: Die Sehnsucht des Kinos nach dem Untergang

Take Shelter – Bild: Sony Pictures Classics

(Warnung: Dies ist ein langer, mäandernder Text, der einen Batzen Gedanken enthält, die einfach mal raus mussten, ohne Garantie auf Zugewinn an Lebensqualität nach seiner Lektüre. Er enthält, je nach Blickwinkel, höchstwahrscheinlich Spoiler für The Dark Knight Rises, Take Shelter, L’Ultimo Terrestre, 4:44 – Last Day on Earth und Melancholia)

Ich konnte ihn irgendwie verstehen, Bane. Viel besser als den Joker. Denn der Joker wollte nur Chaos stiften, Menschen gegeneinander ausspielen, Grenzen austesten. Bane wollte mehr, er wollte die endgültige Zerstörung von Gotham City.

“Gothams Abrechnung” nennt er sich selbst. Denn obwohl Frieden eingekehrt ist in Gotham, glaubt bane noch immer an die Überzeugung seines Mentors Ra’as al Ghul, dass Gotham so weit in seinem eigenen moralischen Sumpf versunken ist, dass es jenseits jeder Erlösung steht. Da gibt’s nur eins: Komplette Zerstörung, Tabula Rasa, im Grunde: das Ende der Welt.

Wer hat nicht schon einmal auf die Welt geschaut, die uns dieser Tage umgibt, mit all ihren unlösbar scheinenden Problemen, und sich danach gesehnt, auch hier einfach mal Tabula Rasa machen zu können. Vielleicht nicht unbedingt, indem man eine Atombombe zündet wie Bane. Aber irgendwie die Chance bekommen, neu anzufangen – mit allem bisher Erreichten, aber ohne alles dadurch Verursachte. Und wenn nicht für die ganze Welt, dann vielleicht wenigstens für das eigene Leben? Auch diese Art von Neuanfangs-Sehnsucht findet sich in The Dark Knight Rises, in Gestalt von Selina Kyle.

Jeder, der in diesem und dem letzten Jahr öfter im Kino war, dürfte die Menge an Filmen aufgefallen sein, die sich genau mit diesem Thema auseinandersetzen: der Anfang einer neuen Zeit und – häufig dem vorausgehend – ein Untergang der alten. Die einfache Erklärung für diese thematische Häufung ist das bevorstehende Ende des Maya-Kalenders und die Weltungergangsspekulationen, die deswegen seit einiger Zeit in den Medien breitgetreten werden. Ich glaube aber, dass die eigentlichen Gründe tiefer liegen, dass die Sehnsucht nach einem Untergang und dem damit verbundenen Reboot, die sich derzeit im Kino zeigt, uns im Jahre 2012 zeitgeistlich umgibt.

Vor fast einem Jahr habe ich schon einmal über dieses Thema geschrieben und an meiner These hat sich wenig geändert. Es sind nur seit Oktober 2011 so viele neue Filme erschienen, die den Topos umkreisen – Blockbuster wie The Dark Knight Rises eingeschlossen – dass es sich meiner Ansicht nach lohnt, noch einmal genauer hinzuschauen.

In der Hyper-Stasis

The Dark Knight Rises – Bild: Warner Bros.

Ich möchte betonen, dass ich nicht tatsächlich der Meinung bin, dass wir in einer Endzeit leben. Das Gefühl einer Endzeit liegt aber, zumindest kulturell, in der Luft. Ich bin sicher, dass kundigere Menschen dies auch im politischen Klima festmachen könnten – etwa dadurch, dass sich der Kampf gegen die Wirtschaftskrise mehr und mehr anfühlt, als würde man – in einem Boot sitzend – verzweifelt versuchen, ein Leck zu stopfen, das immer größer wird; oder auf einem Laufband laufen, dessen Geschwindigkeit sich ständig erhöht. Nicht umsonst ist auch schon vorgeschlagen worden, den Euro einfach wieder abzuschaffen, die EU abzuschaffen, auch in der europäischen Einigung wieder Tabula Rasa zu machen.

Im kulturellen Bereich fällt mir die Diagnose wesentlich leichter, nicht zuletzt weil ich Simon Reynolds’ kongeniales Buch Retromania gelesen habe. Retromania wurde bei Erscheinen des Buchs vor allem in Musikjournalismus-Kreisen diskutiert, da es darin hauptsächlich um Musik geht. Doch Reynolds’ Argumentation lässt sich problemlos auf andere kulturelle Bereiche, etwa das Kino, übertragen und tatsächlich spannt Reynolds in seinem letzten Kapitel “The Future” den Bogen auch eigentlich über die gesamte westliche Kulturlandschaft.

Diese Argumentation lautet, in einer Nussschale, dass die Kultur langsam aber sicher aufgehört hat, Neues zu erfinden und sich nur noch auf Altes beruft, das sie immer wieder neu durch den Entsafter presst. Damit eng verbunden ist das Gefühl, dass uns die Zukunft eingeholt hat; dass wir nun, im Jahr 2000+ eigentlich in jener Zukunft leben, die uns vor etwa 50 Jahren versprochen wurde und die damals ziemlich spektakulär aussah. Nur leider hat sich das Spektakel anders entwickelt als gedacht – statt Raumschiffen und Jetpacks haben wir das Internet. Eine unsichtbare Technologie, die zwar erstaunliches leistet, aber nicht besonders futuristisch wirkt.

Das kulturelle Ergebnis dieser Entwicklung, ganz grob gefasst, ist, dass wir zwar das Gefühl haben, dass sich das Leben ständig beschleunigt, dass sich dies aber nicht in einem Gefühl des Vorankommens widerspiegelt. Reynolds nennt diesen Zustand “Hyper-Stasis”.

In the analogue era, everyday life moved slowly (you had to wait for the news, and for new releases) but the culture as a whole felt like it was surging forwad. In the digital present, everyday life consists of hyper-acceleration and near-instantaneity (downloading, webb pages constantly being refreshed, the impatient skimming of text on screens), but on the macro-cultural level things feel static and stalled. We have this paradoxical combination of speed and standstill.
(Simon Reynolds, Retromania, Kindle-Edition, S. 427)

Reynolds verbringt große Teile seines Buches damit, dieses Phänomen durch die Musikgeschichte zurückzuverfolgen und die Zeiten auszumachen, in denen die Popkultur nach vorne ritt (die 60er, die 90er), um sich anschließend eine Weile im Kreis zu drehen. Meiner Ansicht nach sind diese Vorwärts-Schübe eng gekoppelt an das Gefühl einer neuen Freiheit, sei es nach dem Ende der Kriegs-Nachwehen Ende der 50er oder nach dem Ende des kalten Krieges Anfang der 90er.

There is a Storm Coming

4:44 – Last Day on Earth – Bild: IFC Films

Nun aber, im Jahr 2012, befinden wir uns tatsächlich wieder in einer Zeit, in der zwar viel Freiheit vorhanden ist, das Gefühl aber nicht ausbleibt, dass wir auf einem Vulkan tanzen, uns unserer eigenen, globalen Dekadenz nicht oder unzureichend bewusst. Es wird etwas Großes benötigt, um all dem ein Ende zu setzen und neu anfangen zu können, so sehr, dass man es sich fast herbeiwünscht: ein Krieg, eine Apokalypse, einen Paradigmenwechsel, einen Untergang.

In unseren popkulturellen Produkten können wir diesen Untergang selbst herbeiführen. Tatsächlich machen etwa die Hollywood-Studios ja seit zehn Jahren kaum etwas anderes. Wie bei der digitalen Technik, mit der sie mittlerweile geschöpft wird, hat sich in Hollywood inzwischen der Modus durchgesetzt, ein Produkt am Ende seines Lebenszyklus einfach in einer neuen Version auf den Markt zu bringen. Meistens nennt sich das Reboot und es hat seine eigene Faszination, aber es ist nichts anderes als das Herbeiführen eines Untergangs, um dann mit den gewonnenen Erfahrungen neu beginnen zu können. Die “Trauerperioden” für dieses Vorgehen werden immer kürzer, wie sich dieses Jahr mit The Amazing Spiderman gezeigt hat.

Für unsere nicht selbst geschaffene Welt funktioniert dieser Prozess nicht, daher muss man ihn sich in seinen Filmen herbeiwünschen. Abel Ferrara ist in seinem Film 4:44 – Last Day on Earth am direktesten – er gibt Umweltsündern die Schuld am Weltuntergang. Anders als etwa in Melancholia, mit dem 4:44 das Ende gemeinsam hat, ist der Untergang also nichts, was unverschuldet von außen kommt, sondern etwas selbst Herbeigeführtes. Zentrale Frage des Films ist: Wenn die Welt morgen untergeht, was machen wir mit der verbleibenden Zeit? Der von Willem Dafoe gespielte Hauptcharakter oszilliert zwischen Rage und Gelassenheit. Wütend brüllt seinen aufgestauten Frust auf dem Dach seines Appartments in die Nacht hinaus, doch nachdem er die Gelegenheit hatte, sich von seiner Tochter zu verabschieden, kann er sogar der Versuchung wiederstehen, sich nach 20 cleanen Jahren wieder einen Schuss Heroin zu setzen. Am Ende geht die Welt unter, während er und seine Geliebte aneinandergekuschelt auf dem Boden liegen. Ferraras Botschaft scheint zu sein: Auch wenn keine Umkehr der Geschehnisse mehr möglich ist, sollte man dennoch drauf achten, dass man mit sich im Reinen ist, wenn die Welt untergeht. Denn man weiß ja nie, ob das Ende nicht doch ein neuer Anfang ist.

Take Shelter – Bild: Sony Pictures Classics

Das wahrscheinlich beste Bild für einen bevorstehenden Untergang ist das heraufziehende Gewitter. Nicht nur, weil ein Gewitter in unserem anthropomorphisierten Weltbild wie die manifeste Entladung von aufgestauten Bedürfnissen erscheint, sondern auch weil es nach all seiner Zerstörung häufig etwas zurücklässt, dass unschuldig und schön wirkt (siehe auch: “reinigendes Gewitter”). In Take Shelter verbringt Curtis des Films etwa anderthalb Stunden damit, seine Liebsten vor der heraufziehenden Katastrophe zu schützen, die ihn in Träumen und Halluzinationen verfolgt, während er den Rest der Welt, der ihn auslacht, am Liebsten zur Hölle schicken würde. Dann muss er frustriert und erniedrigt feststellen, dass der vermeintliche Sturm nur ein Produkt der Schizophrenie ist, die er von seiner Mutter geerbt hat. In den letzten Minuten dreht der Film seine fast enttäuschende “Auflösung” noch einmal, als plötzlich tatsächlich ein Sturm aufzuziehen scheint, der die Symptome aus Curtis’ Traum aufweist. Regisseur Jeff Nichols lässt unklar, ob dieser Sturm echt ist. Wichtig ist, dass sich Curtis und seine Frau in den letzten Momenten des Films – anders als zuvor – verstehen und an einem Strang ziehen. Auch sie sind pünktlich zum bevorstehenden Untergang miteinander im Reinen.

(Das gleiche Prinzip durchzieht natürlich auch Seeking a Friend for the End of te World, den ich leider noch nicht gesehen habe. Nur dass dort ein Hund mitspielt.)

Untergang ohne Untergang

Filme wie die bis jetzt beschriebenen, in denen die Welt tatsächlich untergeht oder untergehen könnte, fokussieren sich auf die (sinnlosen oder sinnvollen, je nach Haltung der Macher) Versuche ihrer Protagonisten, sich für das Ende – eigentlich aber für den neuen Anfang – zu wappnen. Genau so anschaulich kann es natürlich sein, wenn die Hoffnung auf einen Neuanfang plötzlich auftaucht ohne dass zuvor die Welt untergeht und alle Menschen sterben. Dafür ist nur ein ähnlich einschneidendes Ereignis vonnöten, dass alles auf den Kopf stellt, was wir zu wissen glauben.

L’Ultimo Terrestre – Bild: Fandango

Ein solches Szenario bietet sich in Another Earth und auch in L’Ultimo Terrestre. In Gianni Pacinottis absurdem Untergangsgemälde steht eine Alien-Invasion mit unklarer Absicht unmittelbar bevor und die meisten Erdlinge sind damit beschäftigt, vor lauter Unsicherheit in Panik auszubrechen. Für den stoisch-linkischen Luca jedoch scheint – ähnlich wie für Kirsten Dunsts Figur in Melancholia – eher die Hoffnung auf das Unausweichliche zu winken. Bis er feststellt, dass die Invasion längst begonnen hat und eine Alien-Frau schon bei seinem Vater eingezogen ist. Und während der Rest der Welt mit seiner Angst ringt, können Vater und Sohn mit diesem fast im wahrsten Wortsinne aus dem Nichts aufgetauchten Hilfsmittel ihre gemeinsamen Neurose verarbeiten. Als die richtige Invasion losbricht ist Luca entspannt. Die Zukunft kann ihm jetzt nichts mehr anhaben.

Expansion/Contraction

Es ist davon auszugehen, dass am 22. Dezember 2012 nicht die Welt untergeht (auch wenn ich schon für die Afterparty zugesagt habe). Und eigentlich bleibt auch zu hoffen, dass die Welt auch keinen anderweitigen Reboot erfahren muss. Wie immer ist es stattdessen viel sinnvoller und fruchtbarer, wenn wir unsere Ängste und Sehnsüchte in der populären Kunst ausleben – das ist anregender und weniger gefährlich.

Another Earth – Bild: Fox Searchlight

Ein letzter Exkurs sei erlaubt: In seinem Buch The Windup Girl, das 2011 mit den wichtigsten Science-Fiction-Preisen ausgezeichnet wurde, benutzt Paolo Bacigalupi fast schon nebenbei die Terminologie “Expansion” und “Contraction” um die Zeitalter der Menschen zu benennen, in denen die Welt (gefühlt) größer und kleiner wird. Nach der Windup-Girl-Rechnung befinden wir uns derzeit am Endpunkt einer Expansion – die ganze große Welt scheint uns zu Füßen zu legen. Dass irgendwie eine Form von Contraction folgen muss, in der man sich wieder auf Näher liegendes besinnt, scheint unausweichlich. Die Frage ist nur, ob dies gemächlich geschieht, wie eine sich hinabschwingende Sinuskurve, oder radikal.

The Dark Knight Rises endet auf gewisse Weise auch mit einem Untergang, auch wenn Banes Plan misslingt. Denn Batman stirbt und beendet vorerst seine Geschichte. Bruce Wayne hingegen lebt weiter und kann gemeinsam mit Selina Kyle ein rebootetes Leben genießen. Dann jedoch scheint sich auch für Batman am Ende ein Neuanfang abzuzeichnen, als Blake die Batcave entdeckt. So kann es also auch gehen: Untergang und Neustart, ganz ohne Weltzerstörung und Tod. Werden wir auch hinkriegen, was Batman gelungen ist?

Ergänzung: Ich bin nach wie vor dabei, mir dieses Thema, über das natürlich schon viele andere Leute nachgedacht haben, zu erschließen. Ich mag Bruce Sterlings Beschreibung des 2010er-Lebensgefühl als “Dark Euphoria”. Passt gut.