Ist “The Ballad of Songbirds and Snakes” ein gutes Prequel?

Manchmal sind meine Podcast-Skripte nur Stichwortsammlungen, manchmal sind sie fast echte Texte. Im letzteren Fall habe ich mich entschieden, sie auch hier zu veröffentlichen für Leute, die keine Podcasts hören. Sie sind aber natürlich trotzdem darauf ausgelegt, gesprochen (und während des Sprechens verknüpft) zu werden und enthalten evtl. Fehler.

“The Ballad of Songbirds and Snakes”, Erschienen am 19. Mai 2020, Scholastic Press
  • Suzanne Collins, die Autorin unter anderem der “Hunger Games”-Trilogie, hat ein neues Buch geschrieben, das in der gleichen Welt spielt: Panem, ein postapokalyptisches Nordamerika, das von einem Bürgerkrieg zerrissen wurde. Panem wird zentralistisch vom “Capitol” aus regiert, der Rest des Landes ist in Distrikte eingeteilt, die jeweils verschiedene Rohstoffe produzieren müssen, Distrikt 13, gelegen im heutigen Neuengland, wurde in einem Krieg der Distrikte gegen das Capitol per Atombombe ausgelöscht.
  • Das neue Buch heißt “The Ballad of Songbirds and Snakes”, deutsch “Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange”, und spielt rund 60 Jahre vor den Ereignissen der ersten Trilogie, die ja auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.
  • Hauptfigur ist Coriolanus Snow – in der Originaltrilogie ist er der Präsident von Panem, hier ist er ein Teenager, der kurz davor steht, die Schule abzuschließen.
  • Der Krieg liegt erst ein gutes Jahrzehnt zurück, Snows Familie hatte ihr Vermögen in Fabriken in Distrikt 13 und ist seitdem verarmt – aber zeigt es nicht nach außen, Vater und Mutter sind gestorben, Snow lebt mit seiner Cousine und Großmutter zusammen und muss alles daran setzen, den Namen der Familie irgendwie zu ehren.
  • Die Hungerspiele gibt es bereits, im Buch steht Ausgabe 10 im Mittelpunkt, aber sie sind noch deutlich primitiver als zu Zeiten von Katniss, der Heldin aus der Trilogie – die Tribute, Kinder aus den Distrikten, prügeln einfach in einem alten Stadion aufeinander ein bis nur noch eins am Leben ist.
  • Erstmals gibt es Mentoren, die die Tribute begleiten, Schüler aus dem Capitol. Snow ist einer von ihnen, und sein Tribut stammt aus Distrikt 12 (der gleiche Distrikt aus dem Katniss später stammt), eine Musikerin mit schillernder Persönlichkeit.
  • Die Handlung des Buchs beginnt und endet nicht mit den Hungerspielen, sie geht darüber hinaus und bemüht sich, eine Abhandlung über die Natur des Menschen (Rousseau vs Hobbes) auf Young-Adult-Niveau zu sein – also recht plakativ, aber, wie ich finde, ganz gut gemacht.
  • Suzanne Collins interessiert sich für das Motiv des “gerechten Krieges”, hat sie in einem Interview gesagt, das ich gelesen habe, und wollte hier eben diese Facette erforschen, inwiefern die Prägung von Menschen in ihr Bild von Krieg und Vergeltung mit hineinspielt
  • Wie gesagt, ich fand das Buch insgesamt – wie schon die anderen Panem-Bücher auch – ziemlich gut, vor allem in diesem Aspekt, wie sich das Leben als Teenager in dieser Reality-TV-Inszenierung spiegelt
    • Das Gefühl, ständig abwägen zu müssen, was man von sich Preis gibt, abhängig zu sein von der Außendarstellung und Außenwahrnehmung
    • Die inneren Monologe dazu sind manchmal etwas anstrengend, aber auch zutreffend
    • Generell aber auch das Thema Krieg und Leid in medialer Inszenierung, was uns daran gleichzeitig fasziniert und abstößt, welche Mechanismen dahinterstecken, fängt sie immer wieder ganz gut ein.
  • Wer also nichts gegen diesen YA-Stil hat, dem würde ich das Buch empfehlen
  • Mich hat es aber noch aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus interessiert, wie üblich, nämlich aus Franchise-Sicht und speziell aus der Perspektive des Buchs als Prequel. Also: Ein Buch, das innerhalb der Handlungswelt vor bereits beschriebenen Ereignissen spielt, aber außerhalb – also in unserer Welt – danach geschrieben wurde.
  • Innerhalb des ganzen Franchise-Apparats sind Prequels ein ganz besonders kniffliges Biest, insbesondere wenn es nicht üblich ist, dass in einer künstlichen Welt Geschichten mal hier mal da, mal jetzt mal später spielen, sondern wenn es einen Urtext gibt, der auch noch eine besonders große Strahlkraft hat.
  • Also: Prequels stecken in dieser merkwürdigen Situation, dass sie durch Ereignisse begrenzt sind, die in der diegetischen Welt noch gar nicht passiert sind. Wir als Konsumenten kennen diese Ereignisse aber bereits und wissen wo alles enden wird – wir wissen das umso besser, je näher das Prequel zeitlich am Ursprungstext angesiedelt ist – zum Beispiel wissen wir dann, welche Charaktere nicht sterben können, weil sie ja später noch am Leben sind
  • Prequels betreiben also oft so eine Art Reverse Engineering. Sie zerlegen ein bereits existierendes Ding in seine Bestandteile, untersuchen diese und zeigen oft, wie diese dann wieder zusammengesetzt werden
    • Zum Beispiel: Die Sequenz am Anfang von “Indiana Jones and the last Crusade” zeigt wie Indie seine Angst vor Schlangen, seinen Hut und seine Peitsche bekommt
    • Die Star Wars Prequels zeigen, wie Anakin Skywalker zu Darth Vader wurde und das Imperium entstand
  • Darin steckt aber auch gleichzeitig die Gefahr: Anders als aber bei echtem Reverse Engineering muss man sich nämlich nicht auf die Teile beschränken, die man dem Original entnommen hat, sondern kann beliebig viel dazuerfinden
  • Autor*innen lassen sich aber gerne davon beschränken, weil sie dramatische Ironie lieben
  • D.h. sowohl sie als auch die Konsument*innen sind Mitwisser*innen und können deswegen die Charaktere in Situationen bringen, deren Tragweite diese selbst nicht ahnen können, denn anders als wir wissen sie ja nicht, was noch passieren wird. Im letzten Podcast habe ich ja darüber gesprochen, dass Geschichte ja immer erst im Nachhinein Geschichte wird, und erstmal nur aus Ereignissen besteht.
  • Wenn dieses Verlassen auf Bekanntes aber zu viel passiert, kann das auch dazu führen, dass die gesamte fiktionale Welt sehr klein erscheint, und viele weitreichende Ereignisse am Ende nur mit wenigen Charakteren zu tun haben
    • Beispiel: Star Wars Prequels
  • Was also macht ein Prequel zu einem guten Prequel. Mit Bezug auf Dawn of the Planet of the Apes habe ich damals drei Merkmale herausgearbeitet:
    • Ein gutes Prequel verweigert sich der Zirkellogik, in der sich alles nur auf vorher Veröffentlichtes bezieht und öffnet die Welt, um neue Anknüpfungspunkte auch für die Zukunft zu bieten
    • Seine Verwandtschaft zum Ur-Text beweist der Film statt durch direkte erzählerische Bezüge lieber durch Motive, die wie Echos durch die ganze Saga hallen
    • Den direkten Bezug findet der Film, indem er nach entscheidenden Momenten sucht, die sozusagen die Timeline der Welt endgültig in Richtung des Originaltextes ausrichtet.
      • “Dawn” macht das, in dem es den Moment markiert, in dem die Affen beginnen, einander zu töten und damit auch ihren pazifistischen, zurückgezogenen Lebensstil aufgeben und sich gegen die Menschen richten
  • Wie sieht das in Bezug auf “Songbirds and Snakes” aus? Ab jetzt werde ich das Buch naturgemäß ein wenig spoilern.
  • Beim ersten Punkt, würde ich sagen, ist das Buch so in der Mitte. Es macht zum Beispiel keinerlei neue Schauplätze auf, die wir nicht aus den Originalbüchern kennen und bietet wenig Neues, das man in Zukunft noch weiter erforschen könnte. Die gesamte Handlung dreht sich nur um die Hungerspiele und um das Leben in Distrikt 12, wie schon zuvor. Am neusten ist noch die Organisation der Peacekeeper und das Leben der Menschen im Capitol, was wir früher nur aus der Außensicht kannten.
  • Allerdings enthält die Handlung auch nur zwei Charaktere, die in den späteren Büchern ebenfalls vorkommen, und dort auch nicht als Hauptfiguren – Coriolanus Snow und seine Kusine Tigris
  • Direkte Bezüge zum Ur-Text gibt es generell wenige, am prominentesten wahrscheinlich das Lied “The Hanging Tree”, zu dem hier eine Ursprungsgeschichte geschaffen wird; es gibt auch einen etwas nervigen direkten Bezug auf Katniss – dieser Art von Insider-Witzen zum Publikum scheint sich kein*e Autor*in entziehen zu können
  • Motive aber sind einige da, wie oben erwähnt, und tatsächlich sucht sich Collins auch einen “Sündenfall”-Moment als Dreh- und Angelpunkt des Romans aus – der Punkt nämlich, in dem die Hungerspiele von einem barbarischen Bestrafungsritus zu einem medialen Ereignis werden. Für meinen Geschmack passieren hier ein bisschen viel Entwicklungen (Mentoren, Sponsorships, Wetten, Abenteuer-Arena, Victor Village) auf einmal, aber es ist ein interessanter Gedanke, sich zu überlegen, dass es diesen Pivot Point irgendwann gab und wie sehr er half, die Macht des Capitols zu zementieren.
  • Also: Das Prequel erfüllt meine damals festgelegten Kriterien nur zum Teil, es ist doch recht stark an seinen Urtext gebunden. Und genauso ambivalent fühle ich mich ihm gegenüber auch.
    • Einerseits erzählt es trotz allem eine sehr eigenständige Geschichte anhand eines neues Hauptcharakters und gibt dieser Geschichte genug Raum und Tiefe, damit sie interessant ist
    • Andererseits psychologisiert sie damit viele Ereignisse aus den vorhergehenden Büchern im Nachhinein auf eine vielleicht unnötige Art – muss Coriolanus Snow wirklich eine verlorene Liebe in Distrikt 12 haben, damit ihn Katniss 60 Jahre später provoziert? Am blödesten fand ich eigentlich die finale Enthüllung des Buchs zu den Ursprüngen der Hungerspiele, die das Universum von Panem wie oben beschrieben ziemlich klein werden lässt – die reale Welt ist doch irgendwie chaotischer und komplexer
    • Im Interview hat Collins gesagt, dass sie beim Schreiben der Originaltrilogie schon eine vage Vorstellung der Hauptfiguren dieser Geschichte hatte, es ist also zumindest alles kein großer Retcon.
  • Schlechte Prequels geben einem immer Antworten auf Fragen, die man gar nicht haben wollte. Ich würde sagen: “Songbirds and Snakes” hängt ein bisschen dazwischen. Einige seiner Antworten sind gut, andere nicht so sehr – und es verschenkt ein wenig die Chance, die Welt zu öffnen und zum Beispiel mal andere Distrikte zu besuchen. Aber auf einer Metaebene verhandelt es eben auch genau diese Fragen – wie werden wir zu dem, der wir sind, welche Entscheidungen treffen wir warum? und das fängt die schlechten Antworten meiner Ansicht nach etwas auf.

Schluss mit der Kinderarbeit

Ein tödliches Labyrinth haben sie bereits gemeistert, jetzt müssen sie auch noch durch eine Brandwüste. Die Helden der Filmreihe Maze Runner sind nur eine von mehreren Gruppen junger Menschen, die gerade im Kino die Welt retten. Nebenan kämpft Jennifer Lawrence im Hunger Games-Franchise gegen Machthaber, die zur Festigung ihres Regimes regelmäßig Kinder in Gladiatorenkämpfen antreten lassen. Und Shailene Woodley lehnte sich zuletzt in Insurgent gegen ein diktatorisches Kastenregime auf, das Menschen unveränderbar in Lebensentwurfschubladen stecken möchte.

Das Strickmuster dieser im Kielwasser von Potter und Twilight entstandenen Verfilmungen sogenannter Young-Adult-Romanserien ist immer gleich: In einer dystopischen Zukunft trägt ein Großteil der Menschen grobe Leinenkleidung und hat sich einer Big-Brother-mäßigen Diktatur unterworfen. Hoffnung gibt es bloß in Gestalt einiger, unter all dem Endzeitstaub immer noch verdammt gut aussehenden Teenager, die den Status quo nicht hinnehmen wollen.

Nun mag es solche Helden in Jugendbüchern und -filmen schon seit Jahrzehnten geben, sie taugen einfach als Identifikationsfiguren für junge KonsumentInnen. Aber wollen, können, dürfen wir wirklich die ganze Arbeit den Kindern überlassen? Ihre Unschuld und ihr Hang zum Out-of-the-Box-Denken mögen ja ganz niedlich sein – ein bisschen Lebenserfahrung wäre als Ergänzung jedoch nicht schlecht. Auf die »Erwachsenen« im Film kann man sich leider auch nicht mehr verlassen. Die meisten von denen sind emsig damit beschäftigt, ihr eigenes inneres Kind wiederzuentdecken und sich wie »Mitte zwanzig« zu fühlen. Der Rest, das sind diese kalkulierenden Fatalisten, die man in den Young-Adult-Filmen um Konferenztische sitzen sieht.

Weiterlesen auf “epd-film.de” oder in epd Film 10/2015

Warum uns Mockingjay mehr in Erinnerung bleiben wird als Interstellar

© Warner, StudioCanal

Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen in unbeobachteten Momenten ist es, vorherzusagen, an was wir uns als typisch erinnern werden, wenn wir in zwanzig Jahren auf unsere jetzige Zeit zurückblicken (übrigens auch einer der Gründe, warum ich unbedingt beim Techniktagebuch mitmachen wollte). Wenn man beobachtet, wie zurzeit auf die 90er zurückgeblickt wird, ob mit Liedern oder “Buzzfeed”-Listen merkt man doch, dass nicht unbedingt die Dinge im Gedächtnis bleiben, die man damals für wichtig hielt.

Lenkt man die Zeitgeistforschung auf die aktuelle Kinolandschaft und dort spezieller auf die Blockbuster der letzten Wochen, fallen einem zwei Filme auf. Christopher Nolans Interstellar hat alles, was es für einen “großen Film” braucht: einen visionären Regisseur von solchem Kaliber, dass sein Name ausreicht, um Zuschauer ins Kino zu ziehen, ein massives Kinoereignis, ein Originalstoff und mindestens einige Effekt-Oscars am Horizont. Auf der anderen Seite erscheint Mockingjay – Part 1 wie der typische massenproduzierte Plastikblockbuster von der Art, wie sie Hollywood inzwischen am laufenden Band raushaut. Die letzte gedrehte Performance von Philip Seymour Hoffman genügt mit Sicherheit nicht, um ihn zu etwas Besonderem zu machen.

Und doch ist Interstellar aus Zeitgeist-Sicht ein Film, der genau wegen seiner Alleinstellungsmerkmale überhaupt nicht in unsere Zeit passt. Fast schon ein Relikt ist er, mit seiner Fetischisierung von Filmmaterial und seiner Besinnung auf konservative Werte wie die Kernfamilie und den einzelnen “Great Man“, den Pionier, der die Menschheit ins neue gelobte Land führt. Mockingjay – Part 1 hingegen ist voll und ganz ein Produkt seiner Zeit und wird in zwanzig Jahren als so typisch für die erste Hälfte der 2010er gelten können, wie kaum ein anderer Film. Warum? Ich bin froh, dass ihr fragt.

1. Er spielt in einer dystopischen Zukunft

Ja, Interstellar auch. Aber während Nolans Film seine vage und wenig erklärte Öko-Katastrophe nur als Mittel zum Zweck nutzt, um seine Hauptfiguren auf den Weg zu einer neuen Frontier zu schicken, ziehen die “Hunger Games”-Verfilmungen ihre graumelierte Zukunftsvision knallhart durch. Und eine gesellschaftliche Spaltung in Haber und Nicht-Haber, bei der die Nicht-Haber zu einem Leben in Staub und Knechtschaft verdammt sind, ist nicht nur in Panem Programm, sondern in großen Teilen der Mainstream-Science-Fiction – auch im Kino, von Elysium bis Snowpiercer. Die Arizona State University hat sogar ein Programm namens “Hieroglyph” aus der Taufe gehoben, um wieder hoffnungsvollere Visionen zu produzieren, die die Forscher der Zukunft inspirieren sollen. So gut es uns teilweise im Moment noch geht, wir blicken alle in den Abgrund, der sich vor uns auftut.

2. Er ist Teil eines Franchises

Genau die Eigenschaft, die Mockingjay – Part 1 zu einem generischen Stücken Hollywood-Schlock zu machen scheint, macht ihn auch zu einem typischen Produkt unserer Zeit. Die 2010er-Jahre werden die Dekade der Franchises und des seriellen Erzöhlens sein. Seit Harry Potter und die Lord of the Rings-Filme bewiesen haben, dass ein treues Publikum brav alle paar Jahre wieder in die Kinos schlappt, um der Weitererzählung einer nicht abgeschlossenen Geschichte beizuwohnen – die oft nicht viel mehr ist als die Bebilderung eines ohnehin erfolgreichen Buches – gibt es bei der Franchisisierung in Hollywood kein Halten mehr. Nicht nur durch den Aufbau von Shared Universes wie bei Marvel und Co, sondern durch das Auswalzen einer Story auf mehrere Filme. Mockingjay – Part 1 ist nur das jüngste Beispiel dieser merkwürdigen “Penultification” (Dan Kois), die durch den Erfolg von seriellen Fernseherzählungen (und jetzt auch Podcasts) nur befeuert wird. Ich gehe schwer davon aus, dass diese Welle in zwanzig Jahren ein wenig abgeflaut ist.

3. Es geht um Medien

Interstellar ist ein altmodisches Forscherabenteuer – es zählt nur, was man mit den Händen berühren kann. Zentrale Plotpunkte des Films basieren darauf, dass Pioniere und Heimatbasis nur eingeschränkt miteinander kommunizieren können und natürlich muss die Raumfähre auf jedem Planeten, den es zu erforschen gilt, landen, statt aus der Luft zu sehen, dass es da unten nur Wasser und turmhohe Wellen gibt. In Mockingjay und den anderen “Hunger Games”-Filmen spielt Kommunikation eine der Hauptrollen. Vom zentralen Plotpunkt der Reihe, den titelgebenden Hungerspielen, die im Grunde eine Weiterentwicklung von Reality Shows wie “Survivor” oder “Big Brother” sind – bis hin zu den Propaganda-Videos, die Katniss im jüngsten Teil drehen muss: Medien und mediale Inszenierung stehen im Mittelpunkt der Handlung. Was könnte besser passen zu unserem Informationszeitalter voller Selfies und sozialer Netzwerke, voller YouTube-Stars, die aus dem Nichts geboren werden, und Überwachungsstrukturen, die uns vielleicht schon bald dazu zwingen, unser tägliches Leben noch mehr zu inszenieren, um nicht unter Verdacht zu geraten? Mockingjay mag eine “Young Adult”-Version der Zukunft sein, in der die wichtigste Bezugsperson der eigene Kostüm- und Makeup-Designer ist, aber der Film trift damit genau die brachliegenden Nerven unserer Zeit.

© StudioCanal

4. Die Hauptfigur ist eine Frau

Fuck yeah! Die 2010er werden hoffentlich die Dekade sein, an die wir uns erinnern, wenn es darum geht, dass 150 Jahre Feminismus endlich soweit im Mainstream angekommen sind, dass selbst der dümmste Studioboss einsehen muss, dass die wichtigsten Mover und Shaker einer Welt, auch einer fiktionalen Welt, nicht Männer sein müssen. Katniss Everdeen ist der weibliche Superheld, der Hollywood auf den Pfad von Wonder Woman, Frozen und Captain Marvel geführt hat, die Anti-Bella, die ihr verdammtes Schicksal selbst in die Hand nimmt. Als zu großen Triumph sollte man das jetzt noch nicht feiern, dafür ist noch zu viel zu tun, aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Zum Vergleich: Interstellar

5. Es geht um eine Revolution

Hiermit schließt sich der Kreis zu Punkt 1. Auch wenn Occupy Wall Street und der arabische Frühling schon wieder verebbt scheinen, erreichen uns auch 2014 immer wieder Nachrichten von Aufständen und Protesten auf der ganzen Welt, von Hong Kong über Ferguson bis Bangkok, wo Mockingjay nicht gezeigt wurde, weil Protestierer den Drei-Finger-Gruß des Films als Zeichen annahmen. Revolution liegt in der Luft – vielleicht nicht in Deutschland, dafür geht es uns noch zu gut, aber im globalen Zeitgeist definitiv. In zwanzig Jahren werden wir wissen, ob diese Stimmung der Anfang einer großen Umwälzung war oder doch nur ein Blip auf dem Radar des großen Weiter-als-wäre-nichts-gewesen.

Lege ich Mockingjay eine Last auf, die der Film nie im Leben tragen kann? Ist Interstellar vielleicht doch kein Relikt sondern nur seiner Zeit voraus? In die Kommentare, bitte.

Sind enge literarische Adaptionsserien wie Hunger Games Transmedia?

Der zweite Film nach den Hunger Games-Büchern von Suzanne Collins, Catching Fire, scheint auf dem besten Weg zu sein, ein ebenso großer Erfolg zu werden wie sein Vorgänger. Und obwohl die Filme fast durch die Bank von Kritikern gemocht werden – was zu einem großen Teil auch der Beliebtheit und schauspielerischen Qualität von Hauptdarstellerin Jennifer Lawrence zu verdanken ist – regen sich trotzdem hier und da kritische Stimmen. Im /filmcast zu Catching Fire fanden sich mit David Chen und Jeff Cannata gleich zwei Menschen, die vom Franchise weniger angetan waren. Beide rechtfertigte seine Abneigung unter anderem damit, dass ihm die Filme zu wenig Eigenständigkeit haben, das von ihnen sogenannte “Harry-Potter-Syndrom”. Cannata ließ sich dann zu dieser Aussage hinreißen, die ich so noch nicht gehört hatte:

I think this is transmedia at its finest, and this is why these novels are being gobbled up and put on screen so fast. This is a handshake between different media properties. You are not meant to just watch this movie. You are meant to go to this movie and then, when you leave it, want to go buy the book, or buy the book and then want to go to the movie. They are not meant to work without one another.

Schielen auf die Verfilmung

Hat Cannata recht? Von einem inhaltlichen Standpunkt aus sicher nicht. Suzanne Collins’ Trilogie existierte als Ganzes bevor der erste Film entstand. Und auch wenn die Bücher in ihren Handlungs-Beats teilweise recht kinematisch sind, hängt das wohl eher mit ihrem medienkritischen Thema zusammen, als mit dem Schielen auf eine mögliche Verfilmung. Dies ist sicher kein Fall, wo das Wissen um eine laufende Verfilmung einer noch nicht abgeschlossenen Geschichte den Autor in seiner Erzählung beeinflusste (wie es etwa Bryan Lee O’Malley für Scott Pilgrim vs. the World zugegeben hat). Wahrscheinlich ist Suzanne Collins, die ihre Karriere als Drehbuchautorin im Kinderfernsehen begann, einfach nur eine Schreiberin mit visuellen Stärken, wie dutzende andere Crossover-Autoren vor ihr – von Dashiell Hammett über Michael Crichton bis George R. R. Martin.

Ich kann ihm auch nicht so recht zustimmen, dass die Hunger Games-Filme nur Bebilderungen einer literarischen Geschichte sind, wie es bei den Harry-Potter-Filmen zwischen Teil vier und sechs, oder bei einem Film wie The Golden Compass teilweise stark der Fall war. Collins’ Bücher sind schlank und verbringen viel Zeit mit Beschreibungen, ihre Dramatis Personae sind überschaubar. In den Filmen wird keine Zeit mit “Fan Service” verschwendet, etwa mit unwichtigen Figuren, die nur auftauchen, weil sie bei den Lesern beliebt sind, und dann wieder verschwinden. Vielmehr haben die Filme entschieden, die limitierte Ich-Erzählperspektive der Bücher, in denen Hauptfigur Katniss sich viele Informationen nur zusammenreimen oder als Mauerschau im Nachhinein erfahren kann, durch Dialogszenen aufzubrechen, von denen Katniss gar nichts wissen kann.

Keine selbstständige Vision

Cannata hat insofern recht, dass die Filme dennoch keine mutigen, freien Adaptionen sind, die die Handlung zusammenraffen, wie es ihnen passt, Charaktere streichen oder zusammenlegen und der Vision des Buchautors eine selbstständige, filmische Vision eines Regisseurs entgegensetzen, wie es gerade bei Science-Fiction-Adaptionen lange Zeit der Fall war. Auch aus Marketingsicht profitieren Buch- und Filmreihe natürlich voneinander. Bei mir, zum Beispiel, hat das Prinzip “Ersten Film sehen, deswegen Bücher lesen, deswegen zweiten Film sehen” wunderbar funktioniert. Einen “Handschlag” zwischen den Mediengattungen mag ich dennoch nicht erkennen, zumal Scholastic, der Verlag der die “Hunger Games”-Bücher in den USA verlegt, nicht Teil eines Filmstudio-Medienkonglomerats ist.

Richtig ist auch, allgemein gesprochen: Der Aufstieg des fantastischen Kinos und der damit zusammenhängenden Fankultur im 21. Jahrhundert, besonders von “Harry Potter”, hat eine enge Adaptionsstrategie der Filmstudios begünstigt, die darauf abzielt, die Fans der Bücher als Kern-Multiplikatoren zu erreichen. Im Fall der Hunger Games scheinen die Filme aber auch bei einem breiten Publikum zu funktionieren, das sicherlich nicht in seiner Gesamtheit auch die Bücher gelesen hat. In diesem Zusammenhang aber den Begriff “Transmedia” zu gebrauchen, selbst in einer sehr liberalen Auslegung, finde ich aber falsch. Das erste “native” Transmedia-Projekt, das Blockbuster-Romane mit Blockbuster-Filmen kombiniert, wird mit Sicherheit kommen, ist wahrscheinlich bereits in Entwicklung und der Young-Adult-Markt scheint dafür das perfekte Segment zu sein, vorgeprägt wie er ist durch transmediale Marken von Pokémon bis Star Wars: The Clone Wars. Aber den Tributen von Panem schenke ich fürs erste mal noch den Zweifel für den Angeklagten.

(Liebe Leser. Bitte entschuldigt die mangelnde Bebilderung und Durchlinkung dieses Artikels, der offline geschrieben und dann mit einer sehr langsamen Internetverbindung ins Blog gehoben wurde. Mehr steht mir in den nächsten paar Wochen leider nicht zur Verfügung.)