Rückkehr zur Gefühlsherrschaft

Die Post-Post-Apokalypse ist ein Topos, der immer mehr von der Science-Fiction entdeckt wird, aber längst noch nicht ausgereizt ist. Was passiert, wenn sowohl die Katastrophe vorbei ist als auch die Trostlosigkeit, die auf sie folgt? Wenn langsam das Leben in eine Welt zurückkehrt, die einmal vollständig zerstört war? Entsteht etwas völlig Neues? Oder begibt sich alles in
ähnliche Bahnen wie zuvor?

In gewisser Weise erzählen Theresa Schubert und Mareike Maage in „A.I.R. Artificial Intelligence Rebellion“ eine solche Geschichte. In der Welt ihres Hörspiels sind die Menschen ausgestorben. Maschinen, Programme und Algorithmen haben weniger die Herrschaft übernommen als dass sie wie der kleine Roboter WALL-E einfach immer noch laufen, in einem sich stetig verbessernden, selbstzweckhaften System. Scheinbar jedoch müssen alle künstlichen Intelligenzen sich, auch wenn sie uns Menschen zurzeit ja der landläufigen Meinung nach immer fremder werden, irgendwann wieder einer Art von Menschlichkeit annähern. In „A.I.R.“ jedenfalls entwickeln Maschinen plötzlich Gefühle. Das arme Diagnoseprogramm DA483 muss herausfinden warum – und entscheiden, was zu tun ist.

Weiterlesen in epd medien 20/2018
Das Hörspiel in der ARD-Mediathek

Twittering Machine

Der folgende Text wurde mir zu recht von der epd medien-Redaktion als zu impressionistisch um die Ohren gehauen, ich habe ihn dann überarbeitet und die Kritik hoffentlich etwas nachvollziehbarer gemacht. Aber hier kann ich ihn veröffentlichen. Ich war wirklich fassungslos am Ende dieses Hörerlebnis und konnte nicht aufhören an die Performance von “Vulva” in Spaced zu denken. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu dumm, um Twittering Machine wertzuschätzen.

Ausgerechnet auf Twitter, dem sozialen Netzwerk der kurzen Nachrichten, das Klaus Buhlert in Titel und Text seines Hörspiels referenziert, geriet der Schreiber dieser Zeilen vor kurzem in Konflikt mit einer Autorin. Er hatte ihr Buch als langweilig empfunden und das einer dritten Person geschrieben. Das veranlasste die Autorin dazu, ihm per Tweet mitzuteilen, er solle nicht über ihr Buch herziehen und sich einfach damit begnügen festzustellen, dass es nichts für ihn sei.

In diesem Sinne stellt der gleiche Autor fest: Twittering Machine, Klaus Buhlerts 43-minütige Musik- und Sprachcollage, ist wohl nichts für ihn. Buhlert ist seit vielen Jahren erfolgreicher Hörspielregisseur. Coldhaven, das er 2017 inszenierte, wurde als Hörspiel des Jahres ausgezeichnet. Auch Twittering Machine wurde zum Hörspiel des Monats eingereicht. Bulehrt wird wissen, was er tut. Es wird Menschen geben, die in Twittering Machine, das – inspiriert von Paul Klees (in englischer Übersetzung) gleichnamigem Bild – Musikeinsätze und Geschichtenfetzen aneinanderreiht und miteinander verwebt, die vage etwas mit Vögeln, dem Schweben und mechanischen Dingen zu tun haben, ein Stück Kunst voller Spannung sehen. Geheimnisvoll und brachial zugleich, assoziativ und musikalisch vielschichtig. Ein Wittgensteinsches “Sprachspiel”, das “Eröffnungsvarianten wie beim Schach” anbietet, wie Buhlert im Pressetext formuliert.

Würde er sich nicht damit begnügen, dass Twittering Machine nichts für ihn ist, müsste der Autor leider schreiben, dass dieses Hörspiel das Albernste ist, was er seit langem gehört hat. Alle Merkmale modernistischer Kunst mit bedeutsamem, großem K sind zum Fahnenappell erschienen. Stimmen, die abwechselnd verheißungsvoll raunen, zerbrechlich miauen und “überraschend” schreien: Anwesend. Musikbegleitung aus schwerem Piano und zuckenden Streichern: Jawohl. Ein harter Rockmusik-Einsatz auf halber Strecke: Zur Stelle. Eine rätselhafte Geschichte über ein historisches Ereignis, hier die Titanic, verquirlt mit einem Märchen von Hans-Christian Andersen, an dessen Ende die Hauptfigur deklamiert: “Die Titanic hat es nie gegeben!”: Wir fangen gerade erst an. Andere Geschichtenfetzen, in denen Figuren mit Namen wie “Braunschweiger” vorkommen, als hätte sich ein verkannter Dadaist ein letztes Mal ächzend im Grab herumgedreht: Selbstverständlich. Ein Werk, das gänzlich wie eine Parodie auf überambitionierte Pseudo-Kunst wirkt, und alles ohne den Hauch einer ironischen Brechung. Vielleicht aber ist der Autor dieser Zeilen, wie beschrieben, auch einfach nicht das Zielpublikum. Dann ist das auch okay so.

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Qualityland

Marc-Uwe Kling beherrscht etwas, was ich das “Humor-Sandwich” nenne. Wie bei allen Satirikern steckt unter Szenen, die oberflächlich witzig sind, eine Scheibe Ernst, doch er untergräbt meist auch den Ernst noch einmal mit einer weiteren Scheibe Humor, was ich für wichtig halte.

Spätestens seit dem dritten Känguru-Band hat er außerdem bewiesen, wie gekonnt er mit Genre- und Erzählstrukturen umgehen kann. Daher versucht Qualityland natürlich ein dystopischer Roman zu sein, der sich an alle Regeln von 1984 und Co hält (Heldenreise eines Einzelnen, der gegen das System rebelliert; Liebe als Motor; Lektionen von einem Mentor außerhalb des Systems; Begegnung mit dem Mächtigen; System erweist sich als robust), und sie gleichzeitig unterwandert (zum Beispiel, indem große expositionelle Info-Dumps von den Charakteren selbst als langweilig kommentiert werden, bezeichnend finde ich aber vor allem auch die Sympathie, die Kling den Maschinen entgegenbringt).

Die Ideen, die dabei entstehen, sind alle nicht neu (Maschinen, die menschlicher sind als Menschen, ist seit Frankenstein ja quasi der Urknall der SF), und die Systemkritik ist für eine informierte Internetleserin alles andere als überraschend, aber es gehört schon eine Menge Können dazu, das Ganze so nahtlos und unterhaltsam zu bündeln. Und eben, sich nicht von der Ernsthaftigkeit mancher Gedanken erdrücken zu lassen, sondern noch eine hoffnungsvolle Scheibe Humor drunterzuschieben, wie es vielleicht auch der Shruggie tun würde.

Unentschieden bin ich, ob ich es gut finde, dass Kling nicht auf Querverweise in sein Känguruverse verzichten kann. Aber ich habe meistens gelacht und nicht gestöhnt, was ich mal als gutes Zeichen werte.

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Das Politische des Privaten: Nazif und der silberne Bär

Nazif Mujic hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag, in dem es heißt, er sei „ein bosnischer Schauspieler“. Das stimmt zwar irgendwie, ist aber nur ein schmaler Ausschnitt einer viel größeren Geschichte, die 2011 beginnt. Damals stirbt das dritte Kind seiner Frau Senada im Mutterleib. Nazif, der als Angehöriger der Roma-Minderheit in der Nähe der bosnischen Stadt Tuslar lebt und an guten Tagen zehn Euro mit dem Sammeln von Altmetall verdient, bringt Senada ins Krankenhaus. Die Ärzte weigern sich zu operieren, wenn das Paar nicht eine unbezahlbare Geldsumme aufbringt. Nur mit einer falschen Krankenkassenkarte gelingt es in letzter Minute, Senadas Leben zu retten.

Nazif ist wütend, schreibt Leserbriefe. Medienberichte rufen den Filmregisseur Danis Tanovic auf den Plan, der die Mujics ihre eigene Geschichte nachspielen lässt und daraus den Film „Aus dem Leben eines Schrottsammlers“ macht. Auf der Berlinale 2013 prämiert die Jury unter Wong Kar-Wai nicht nur den Film, sondern auch seinen Hauptdarsteller. Inspiriert von ihren Erlebnissen in Berlin entscheiden sich Nazif und Senada, in Deutschland Asyl zu beantragen, kehren aber letztendlich nach Bosnien-Herzegowina zurück, wo es ihnen heute schlechter geht als zuvor.

Es ist erstaunlich, wie viele Parabeln sich aus dieser Geschichte ableiten lassen. Ist sie ein Beispiel dafür, wie viele Menschen, sogar Kriegsveteranen, im reichen Europa in bitterster Armut leben müssen? Wie sehr Roma nicht nur in Bosnien sondern überall in Europa als Minderheit diskriminiert werden? Dass man es Menschen nicht verdenken kann, wenn sie unter solchen Umständen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ nach Deutschland kommen – ohne Aussicht auf Bleiberecht? Und es stellt sich die Frage, wie sinnvoll es ist, Menschen wie Nazif Mujic ins Licht der Öffentlichkeit zu zerren und ihnen politisch motivierte Preise zu überreichen, wenn doch zu ahnen ist, dass der Ruhm vergänglich sein wird.

Weiterlesen in epd medien 4/18
Featureserie Nazif und der silberne Bär hören

Schrödingers Katze: Paradise Revisited

Das quantenmechanische Gedankenexperiment von „Schrödingers Katze“ postuliert, dass eine Katze gemeinsam mit einem zerfallenden radioaktiven Präparat, einem Geigerzähler und tödlichem Gift in einer Kiste versiegelt wird. Wenn das Präparat zerfallen ist, aktiviert der Ausschlag des Geigerzählers das Gift und tötet die Katze. Ohne Einwirkung von außen, zum Beispiel, indem die Kiste geöffnet wird, ist es unmöglich, festzustellen, ob Schrödingers Katze lebendig oder tot ist – deswegen ist sie beides gleichzeitig. In seinem Hörspiel „Paradise Revisited“ fragt Bodo Traber: Wie fühlt sich eigentlich die Katze dabei?

„Paradise Revisited“ sperrt in einer fiktiven Zukunftsvariante von „Big Brother“ fünf junge Menschen mit der Hoffnung auf einen Millionengewinn für ein Jahr in eine Kapsel. Die Außenwelt kann über Kameras verfolgen, was innerhalb der Kapsel passiert, doch die Kandidatinnen und Kandidaten haben abgesehen von regelmäßigen Essenslieferungen keinerlei Kontakt zur Außenwelt. Eines Tages finden sie in der Lieferung einen Zeitungsausschnitt versteckt, der von Atombombenexplosionen in Paris und Jerusalem berichtet, was die Produktionsleitung in einer Intervention am nächsten Tag allerdings als Falschmeldung bezeichnet.

Von nun an leben die Menschen in der Kapsel in konstanter Unsicherheit. Ist draußen die Welt untergegangen oder werden sie nur auf die Probe gestellt? Wenn sie wochenlang nur Konserven geliefert bekommen und regelmäßig der Strom ausfällt, ist das dann ein Zeichen dafür, dass sie als die letzten unverseuchten Exemplare der menschlichen Rasse mit Mühe am Leben gehalten werden sollen – oder provozieren die Produzenten von „Paradise“ nur? Schließlich gehen alle Kandidatinnen und Kandidaten leer aus, wenn einer das Experiment abbricht. Die Drogen, die zum Anfang des Experiments noch beim gemeinsamen Träumen helfen sollten, sorgen jedenfalls bald schon dafür, dass die größten Ängste der Insassen manifest werden.

Weiterlesen in epd medien 47/2017
“Paradise Revisited” hören

Der integre Herr Urlaub

Es gibt eigentlich nur zwei Typen von Musikern. Für den ersten Typ ist jedes einzelne Lied ein harter, steiniger Weg. Der zweite Typ kann gar nicht nicht Musik machen. Farin Urlaub, Gitarrist der Band „Die Ärzte“, ist Typ zwei. „Ich kann es nicht anhalten, aus mir kommen Lieder raus“, sagt der 54-Jährige. So viele, dass es jetzt für ein ganzes Album mit 28 bisher unveröffentlichten Songs aus 30 Jahren Musikerdasein gereicht hat.

Das WDR-3-Feature „Schlechte Lieder, die lausig klingen“ bildet so etwas wie die Liner Notes zu „Berliner Schule“, wie Farin Urlaubs Album heißt. Jochen Schliemann und Philipp Kressmann haben sich mit Urlaub, der mit bürgerlichem Namen Jan Vetter heißt, in ein Studio gesetzt und sind das Album mit ihm Track für Track durchgegangen. Das ist zwar nicht „Song Exploder“, der US-Podcast, in dem Künstler dem Moderator Hrishikesh Hirway die Einzelspuren ihrer Songs überlassen und diese kleinteilig auseinandernehmen. Es geht aber in die Richtung, weil es erfreulich viel ums Songschreiben und erfreulich wenig um die zu Genüge erzählten Ärzte-Anekdoten der vergangenen 30 Jahre geht.

Weiterlesen in epd medien 43/2017

Mut zum Du. Der Deutschlandfunk-Podcast „Der Tag“

Wenn ein Inhalt nicht das Medium wechselt, sondern „nur“ das Dispositiv, also die Rahmenbedin- gungen der Rezeption, verändert er sich trotzdem. Ein Kinofilm wird für die Fernsehausstrahlung neu gemischt, weil die Umgebungsgeräusche im Wohnzim- mer lauter sind als im Kinosaal. Wird eine Fernsehserie für einen Streamingdienst konzipiert, müssen ihre Folgen nicht mehr alle gleich lang sein. Ein Videobericht, der primär auf Facebook gesehen wird, sollte sowohl mit als auch ohne Ton funktionieren.

Und was, wenn eine tägliche Nachrichtensendung nicht im linearen Radio ausgestrahlt, sondern als Podcast heruntergeladen und zeitsouverän gehört wird? Das Team des seit drei Wochen existierenden Podcasts „Der Tag“ vom Deutschlandfunk hat über diese Frage viel nachgedacht. In dem täglich um 17 Uhr erscheinenden Format „wollen wir uns erlauben, stärker gemeinsam nachzudenken“, erläutern die vier Moderatorinnen und Moderatoren Dirk-Oliver Heckmann, Sarah Zerback, Philipp May und Ann-Kathrin Büüsker im Online-Angebot des Deutschlandfunks. Interessanterweise scheint gerade die abgeschlossene Form dazu einzuladen, Nachrichten weniger abgeschlossen darzustellen.

Und persönlicher. Podcasts bilden in der Regel eben nicht eine von vielen Beschallungsquellen im Alltag. Sie wandern direkt vom Smartphone über den Kopfhörer ins Ohr. Da kann man schon mal „Du“ zu seinem Gesprächspartner sagen, auch wenn über diesen Bruch mit Radiokonventionen – wie die vier Moderatorinnen einräumen – „lange und heftig gestritten“ wurde. Aber man ist eben nicht mehr im Radio.

Weiterlesen in epd medien 42/2017

Das blinde rechte Auge – “Auch Deutsche unter den Opfern”

Zehn Morde an unschuldigen Menschen. 15 Raubüberfälle. Ein bodenloser Sumpf an rechtsradikalem Hass. Ein schier unglaubliches und wahrscheinlich systemisches Versagen von Polizei und Verfassungsschutz. Ein unbefriedigender, sich endlos hinziehender und teurer Prozess. Kaum Schuldeingeständnisse. Die Geschehnisse rund um die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) machen fassungslos. Sie machen wütend. Und es ist verständlich, dass sie auch zynisch stimmen können.

Vielleicht würde Tuğsal Moğul, der Autor von „Auch Deutsche unter den Opfern“ widersprechen, dass seine Aufarbeitung der Taten und ihrer Folgen in einer Mischung aus Regietheater, Poetry Slam und Hörspiel zynisch ist. Die kalte Aufzählung der Fakten rund um die Morde, die das 53-minütige Stück eröffnen, ist es sicher nicht. Auch die Intention, einen größeren Zusammenhang herzustellen zwischen den fehlgeleiteten NSU-Ermittlungen und anderen Opfern rechter Gewalt, die immer nur als Folgen des Verhaltens tragischer Einzeltäter hingestellt werden, ist gut und richtig. Die entsprechende Passage in der Mitte des Hörspiels verfehlt ihre Wirkung nicht.

Mogul gelingt es aber nicht, das unfassbare Debakel der Ermittlungen rund um die angeblichen „Dönermorde“, die absurden Begründungen der Behörden („So können Deutsche gar nicht morden“) und die erschreckende Verstrickung von Verfassungsschutz und rechtsextremer Szene in ihrer Schrecklichkeit einfach für sich sprechen zu lassen.

Weiterlesen in epd medien 41/2017

Zeit, um großartig zu sein

Wer in der Postmoderne überleben will, sollte die Fertigkeit beherrschen, zwei scheinbar konträre Konzepte gleichzeitig geistig festzuhalten. Filme wie My Little Pony: Der Film sind selbst Meister dieser Kunst und verlangen entsprechend ihren Zuschauern das Gleiche ab. Sie sind gleichzeitig hirnverbrannte Glitzerexplosionen für ein U13-Publikum und die Subversion davon; reine, blank polierte Plastikoberfläche mit angeschlossener Produktlinie und aus tiefem Herzen ernst gemeintes Gefühlskino.

Vielleicht ist das der Grund, dass die dem Film zugrundeliegende Serie My Little Pony: Freundschaft ist Magie, die das Universum des 35 Jahre alten Hasbro-Spielzeugs 2010 in dessen neuester Inkarnation begleitete, so ein großer Erfolg wurde. Nicht nur beim geplanten Zielpublikum junger weiblicher Kinder, sondern auf merkwürdige Weise auch bei erwachsenen Männern, die sich selbst Bronies nennen und vor allem im Netz einen eigenartigen Kult begründet haben. My Little Pony: Der Film jedenfalls, hinter dem das gleiche, nur um ein paar Promi-Stimmen aufgestockte Serien-Kreativteam steckt, funktioniert im Rahmen der Erwartungen an einen Film zur Fernsehserie zum Spielzeug erstaunlich gut.

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Verlassene Waldwege: Tod eines Stasi-Agenten

Eine „Shaggy Dog Story“ bezeichnet im Englischen eine Art Antiwitz, der in langen, durchaus amüsanten Ausschweifungen seemannsgarnartig am Ende auf eine eher enttäuschende Pointe hinausläuft. Über weite Strecken gleicht die sechsteilige Featureserie „Tod eines Stasi-Agenten“ von WDR5 und Danmarks Radio einer solchen Shaggy Dog Story. Eine Abenteuergeschichte mit scheinbar erstaunlichen Wendungen aber ohne größere Erkenntnis. Hauptfiguren sind die dänische Journalistin Lisbeth Jessen und Eckardt Nickol, ein in Dänemark lebender Deutscher, den Jessen 2007 für das dänische Fernsehen interviewte. Nickol erzählte in diesem Interview von seinem Leben als Stasi-Agent und davon, wie er nach der Wende auch weiter aus seinen Geheimdienst-Verbindungen Profit schlagen wollte. 2008 wird er von einer Freundin an seinem Wohnort, einer dänischen Feriensiedlung, tot aufgefunden. Kurz vor seinem Tod hatte er sich bei Jessen gemeldet und ihr gesagt, dass er um sein Leben fürchtet.

Grund genug für Jessen und ihren deutschen Kollegen Johannes Nichelmann, den Fall Nickol neu aufzurollen. Nickol war nicht nur Stasi-Mitarbeiter, der nach eigener Aussage international Agenten geführt und geworben hat und enge Verbindungen zum sowjetischen Nachrichtendienst GRU besaß, er war auch – das meinen zumindest die Experten der Stasi-Behörde – ein Hochstapler. Laut seiner Personalakte beim Ministerium für Staatssicherheit ist er zu DDR-Zeiten nie aus Erfurt herausgekommen, hat allenfalls ein paar Erfurter Rentner angeworben. Alle brisanten Dokumente, die er nach dem Fall der Mauer Journalisten und Geheimdiensten für viel Geld angeboten hat, waren entweder gefälscht, bedeutungslos oder letzten Endes von Nickol nicht produzierbar, beispielsweise in einem Deal mit dem BND vor einigen Jahren.

Die einzigen Menschen, die seine Aussagen stützen, sind sein Sohn, seine Exfreundin und die Dokumentenhändlerin Christina Wilkening, die sich vor kurzem vor dem Landgericht Schwerin wegen Bestechungsvorwürfen verantworten musste. War Eckardt Nickol also ein Lügner, der den ständigen Wunsch westlicher Medien nach saftigen Agentengeschichten zu seinem Vorteil genutzt hat? Jessen und Nichelmann können es nicht endgültig beweisen, und deswegen stellen sie auch nicht die eigentlich interessantere Frage nach der Psychologie dieses verschwörungstheoretischen Apparates. Stattdessen dokumentieren sie ihre eigene Recherche über zweieinhalb Stunden Laufzeit chronologisch, inklusive aller Sackgassen und mit investigativer Ernsthaftigkeit, die dadurch verstärkt wird, dass die Dänin Lisbeth Jessen von der Schauspielerin Angelika Bartsch mit Krimi-Gravitas übersprochen wird.

Weiterlesen in epd medien 28/2017

Seite des WDR zu “Tod eines Stasi-Agenten” mit Podcast-Downloads