Mixtape 2016

In den vergangenen Jahren habe ich in diesem Blog immer nur auf Filme und Persönliches zurückgeblickt und mein musikalisches Jahr in andere Social-Media-Reiche verbannt. 2016 bin ich aber der Meinung: Wer dieses Blog regelmäßig liest, der verkraftet es auch, mit meinem Musikgeschmack konfrontiert zu werden.

Das Besondere am Jahr für mich war, dass ich es erstmals vollständig im Streamingland verbracht habe. Was das für mein Hörverhalten bedeutet hat, steht seit August im Techniktagebuch. Ich glaube außerdem, dass sich dieses Jahr endgültig mein Musikgeschmack so verändert hat, dass mich Bands, die ich vor zehn Jahren noch für die Krönung der Schöpfung hielt, mit ihren Alben nicht mehr begeistern können.

Stattdessen: dieses Mixtape. Die Reihenfolge ist nicht als Wertung, sondern als vorgeschlagene Hörreihenfolge zu verstehen.

A-SEITE

1. Bloc Party – The Love Within

Bloc Party zurück nach längerer Pause mit einem spirituellen Album, das nach wie vor die beiden Pole hymnenhaftigkeit (so heißt es auch, “Hymns”) und weirdness großartig miteinander verschränkt, wie dieser Track zeigt. The love within is moving upward / sweeter than any drug, das sollten wir uns merken.

2. Laura Mvula – Overcome (feat. Nile Rodgers)

When you’re heart is broken down / and your head don’t reach the sky / take your broken wings and fly, so beginnt dieser vielschichtige Song, nachdenklich-lieblich, aber mit Wumms, und definitiv zugänglicher als der Rest des Albums “The Dreaming Room”. Entdeckt durch die Nominierung für den Mercury Prize, jedes Jahr eine exzellente Quelle für neue Musik.

3. AURORA – Conqueror

“Running with the Wolves” ist wahrscheinlich der bekanntere Song der jungen Norwegerin, aber ich mag “Conqueror”, wie ich ja offene Lovesongs generell mag. I’ve been looking for a conqueror / but he don’t seem to come my way.

4. Paul Simon – The Werewolf

Paul Simons jüngere Alben hatten einen großen Klangcollagen-Faktor und “Stranger to Stranger”, dessen Opener “The Werewolf” ist, bildet keine Ausnahme. Im Interview erzählt Simon, aus wie vielen Komponenten dieser Werwolf zusammengesetzt ist. Die Kombination aus ironisch-leichten Texten (They eat all the nuggets, then they order extra fries) und einer sich zunehmend aufbauenden Drohkulisse gefällt mir an diesem Song.

5. Shearwater – A Long Time Away

Das Album “Jet Plane and Oxbow” ist vermutlich mein Lieblingsalbum des Jahres. Es lässt sich wunderbar von vorne bis hinten durchhören und findet genau die richtige Songmischung. “A Long Time Away” ist der dynamischste und besste Song des Albums.

6. Julien Baker – Sprained Ankle

Wenn es mal richtig richtig weinerlich werden darf, dann doch gerne so. Entdeckt in der “NPR Music Austin Top 100”.

7. Tiger Lou – You Town

Tiger Lou gehört zu den Bands, die ich Anfang der 2000er entdeckt habe, aber deren Werk für mich immer etwas im Vakuum hing. Dieses Jahr war ich dank Apple Musics “Neue Musik”-Playlist zur Stelle als ein neues Album erschien und konnte dann im Dezember sogar auf ein Konzert gehen. Das ganze Album lohnt sich sehr.

8. Archive – Driving in Nails

“False Foundation” ist wahrscheinlich Archives bisher düsterstes Album. So düster, dass ich es bisher noch nicht am Stück gehört habe. Die Vorabsingle “Driving in Nails” beweist das eindrücklich.

9. 65daysofstatic – Asimov

Vor zwei Jahren habe ich hier im Blog als einer der ersten berichtet, dass 65daysofstatic eventuell am Soundtrack zum Videospiel No Man’s Sky beteiligt sein könnten. Dieses Jahr sind Soundtrackalbum und Spiel endlich erschienen. Das Soundtrackalbum zumindest enttäuscht nicht.

B-SEITE

10. Ryley Walker – The Great and Undecided

Ryley Walker hat mich mit seinem Folk-Rock-Pop schon letztes Jahr begeistert, sein neues Album ist fast noch besser.

11. KT Tunstall – All or Nothing

KTs Album “KIN”, das im Herbst erschien, gehört zu den vergessbareren Releases des Jahres. Bei mir hat es bisher nicht einmal für einen zweiten Hördurchlauf gereicht. Aber auf der vorab erschienenen EP “Golden State” fand sich diese B-Seite, die an ihre besten Zeiten erinnert. Vor allem diese Woah-Yeah-Bridge zum Ende des Songs hat es in sich.

12. Coldplay – Up&Up

Dieses beeindruckende Video mag eine Rolle gespielt haben, aber in kleinen Dosen finde ich Coldplay nach wie vor sehr gut hörbar, auch wenn sie inzwischen als Schnulzenkönige gelten. “Up&Up” gibt Hörenden jederzeit eine Portion Optimismus zurück, wenn sie gebraucht wird: We’re gonna get it, get it together right now / get it together somehow / get it together and flow.

13. NAO – In the Morning

Als NAO erst im “All Songs Considered”-Podcast und dann in meinem “New Music”-Mix auftauchte, wusste ich, dass ich ihr eine Chance geben muss. Und ich wurde nicht enttäuscht: Das ganze Album “For All We Know” ist wunderbar greasy-sleazy R&B, garniert mit zerrenden Ausbrüchen, wie hier am Ende von “In the Morning”.

14. The Pretty Reckless – Take Me Down

“Take Me Down” erscheint mir wie ein Sequel zu “Sympathy with the Devil”. Die Instrumentierung, das Thema, alles passt zusammen. Nur eben all girls, wie bei Ghostbusters. Und mit der geilsten Triangel aller Zeiten.

15. Kula Shaker – 2 STYX

Ich mag Songs, die es erfolgreich schaffen, sehr unterschiedliche Refrains und Strophen miteinander zu verknüpfen. Kula Shaker gelingt das in “2 STYX” sehr gut – und wenn der Refrain dann endlich losbricht, knallt er doppelt.

16. Kishi Bashi – M’lover

Wenn Männer Falsett singen, ist es ja meist schon halb um mich geschehen. “M’Lover” ist definitiv der beste Song von Kishi Bashis neuem Album “Sonderlust” und gefällt mir in seinem operatischen Drama. Fast eine Antwort auf “Conqueror” 13 Songs zuvor.

17. Justin Timberlake – Can’t Stop the Feeling!

Switched On Pop hat sehr gut auseinanderdividiert, wo sich Justin Timberlake diesen Song überall zusammengeliehen hat, aber das macht nichts: er ist einfach gnadenlos catchy und man kann quasi nicht nicht dazu tanzen. Und bei der Tonartverschiebung auf dem Wort “Move” muss man dann immer das Gesicht auf eine bestimmte Art verziehen.

18. Aoife O’Donovan – Magic Hour

Dieser mir eher durch Zufall zugeflogene Track ist definitiv mein Song des Jahres. Er fängt einfach ganz wunderbar so eine bestimmte Stimmung zwischen Melancholie und innerer Ruhe ein, und er beschreibt in wenigen Worten die schönste Zeit des Tages: In the magic hour, when the moon is low / and the sky’s the kind of blue that you think you know / but you don’t know.

BONUSTRACK

19. Gipfeltreffen – Der aufrechte Gang

Im Herbst 2015, nach dem Umzug nach Berlin, war mir schnell klar, dass ich wieder ein Hobby brauchen würde. Ich fand Christian und Olli, die im Begriff waren, eine Band zu gründen und noch einen Schlagzeuger brauchten. Ein Jahr später haben wir bereits drei Demos aufgenommen, die zum Bestklingendsten gehören, was ich jemals auf virtuelles Tonband fixiert habe. Auf Soundcloud kann man reinhören.

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Advent, Advent: Mein Erlebnis mit Spotlight

Im Adventskalender von “kino-zeit” dürfen alle Autorinnen und Autoren über ein prägendes Kinoerlebnis dieses Jahres schreiben. Ich habe mich meiner Begegnung mit Spotlight gewidmet:

Deutsche Filmveröffentlichungs-Politik kann grausam sein. Oft beginnt schon im September das leise Summen um besondere Award-Season-Filme, die dann am Ende des Jahres bei vielen Kolleginnen und Kollegen, insbesondere aus den USA, auf den Top-10-Listen landen, deren Kinostart in Deutschland aber noch weit entfernt ist. Spotlight war so ein Fall. Als ich das Drama um die Recherche des Boston Globe zu systemischem sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche endlich zu sehen bekam, hatte es sogar gerade ein paar Tage zuvor den Oscar als bester Film gewonnen. Alles, was es an Hype zu diesem Film geben konnte, war bereits entfacht worden.

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Piq: Durchatmen: Ein Regisseur hat der Alt-Right das Ladekabel geklaut

Hollywood und Politik beschäftigen sich nicht so oft miteinander, wie sie sollten, aber in diesen Tagen führt kein Weg dran vorbei. Das Gute: Wenigstens wird es dadurch manchmal unterhaltsam.

So wie in der Geschichte von Jordan Voigt-Roberts. Der ist zufällig Regisseur des kommenden Monster-Blockbusters Kong: Skull Island, aber das tut eigentlich wenig zur Sache bei seiner Begegnung mit einem unsympathischen Vertreter der “Alt-Right” in einem Flugzeug. Der unliebsame Sitznachbar behandelt die Flugbegleiterinnen schlecht, liest Fake News auf dem Tablet und scheint Schwierigkeiten damit zu haben, sein Handy ordentlich zu laden.

Voigt-Roberts begleitete das Erlebnis mit einem Strom aus ätzenden Tweets (Kostprobe: “He just keeps jamming it in. As if by force it will work. He’s grabbing the pussy of his phone charger. This is our future folks…”) und rächt sich am Ende auf sehr kindische Art, wie er selbst zugibt. Der kleine Rant ist deswegen auch nicht unbedingt sehr erhellend – aber er hat Hollywood-Qualitäten.

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Das Interessanteste an … Paterson (2016)

© Weltkino Filmverleih

Paterson war genau das, was ich am Ende eines stressigen Tages inmitten einer stressigen Woche brauchte. Ein Film, der mich runterbringt. Mit ruhigen Bildern und einem gleichmütigen Hauptcharakter. Kein Film, der mich auf ewig beschäftigen wird. Kein Film, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er dringend gedreht werden musste. Aber ein Film, der guttat.

Falls Paterson eine Aussage hat, dann wahrscheinlich am ehesten, dass “Poet sein” nicht an einen Beruf gebunden ist. Zumindest habe ich das “Aha!” von Patersons zufälliger Bekanntschaft am Ende des Films so verstanden. Beschäftigt hat mich am Film aber etwas anderes: die Art und Weise, wie Jim Jarmusch Routine und Kreativität miteinander verknüpft.

Über die Woche, die Jarmusch Paterson begleitet, sehen wir, wie ähnlich seine Tage ablaufen (auch im Kontrast zu seiner Frau, die jeden Tag einen neuen Reiz entdeckt). Er wacht von selbst zu einer bestimmten Zeit auf, er frühstückt, er geht zur Arbeit, er schreibt ein paar Zeilen, er fährt seinen Bus, er schreibt ein wenig weiter, er geht nach Hause, er richtet den Briefkasten gerade, er geht mit seinem Hund in die Bar und trinkt ein Bier.

Nach oberflächlicher Weisheit sollte das eigentlich bedeuten, dass Paterson ein langweiliges Leben führt, so monoton und routiniert. Aber Jarmusch zeigt auch, dass genau diese Routine dazu führt, dass Paterson Zeit hat, sich inspirieren zu lassen. Er muss nicht ständig neue Entscheidungen treffen, sondern hat Muße, um seine Umgebung wahrzunehmen, den Gesprächen seiner Passagiere zu lauschen. Er schreibt regelmäßig und konsistent, im Einklang mit dem regelmäßigen Rauschen des Wasserfalls an seinem Lieblingsort.

Mich hat das gefreut. Zu oft lese ich in den im Internet kursierenden Kalendersprüchen, wieviel bessere Menschen wir werden, wenn wir aus unserem Alltag ausbrechen. Wir sollen ständig neue Dinge probieren, neue Impulse aufnehmen und uns nicht von unseren schlechten Angewohnheiten runterziehen lassen. Dabei gibt es gerade unter Autoren genug Beispiele für diejenigen, die mit Routinen großes leisten konnten, Haruki Murakami und Thomas Mann konnte ich ergoogeln, aber ich meine, das auch mal über Kurt Vonnegut gelesen zu haben.

Als jemand, der Routinen auch sehr mag, der auch oft vor dem Wecker aufwacht und Dinge in einer festen Reihenfolge erledigt, fühlte ich mich durch Paterson wertgeschätzt. Genau wie “Poet sein” nicht am Beruf liegt, hängt Poesie eben auch nicht an einem aufregenden Leben.

Piq: Die Elemente der Musik von “Arrival”

“Song Exploder is a podcast where musicians take apart their songs, and piece by piece, tell the story of how they were made.” Ein faszinierend einfaches Konzept, das sich perfekt für einen Podcast eignet.

In einer Mischung aus Interviews und einzelnen Aufnahmespuren erlaubt Hrishikesh Hirways Sendung Hörerinnen und Hörern so nah an den kreativen Prozess von Musikerinnen und Musikern heranzukommen wie sonst selten. Und was bei Pop-Bands schon spannend ist, ist bei Filmmusik erst recht genial. Song Exploder hat angekündigt, in den nächsten Monaten Scores auseinanderzunehmen, die gute Chancen auf eine Oscar-Nominierung haben.

Den Anfang macht ein Cue aus Arrival, einem neuen Sci-Fi-Film von Denis Villeneuve (Sicario), der mit viel Vorschusslorbeeren aus anderen Teilen der Welt diese Woche in Deutschland anläuft. Komponist Jóhann Jóhansson setzt in der Geschichte über Verständigung mit Aliens auf eine Minimal-Music-ähnliche Mischung aus organischen Collagensounds und Orchesterinstrumenten. Die einzelnen Komponenten und Gedanken dazu zu hören ist die ideale Vorbereitung auf den Kinobesuch am Wochenende.

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Das ist mein erster Piq für den neuen Piqd-Kanal “Videos und Podcasts”, den ihr jetzt abonnieren könnt.

Nur von Kult zusammengehalten

Bela B. ist Drummer, Sänger und Songwriter in der kultisch verehrten Band Die Ärzte. Oliver Rohrbeck ist einer der Sprecher der kultisch verehrten “Die drei ???”-Hörspiele. Der Italo-Western ist ein Genre, das gerne mal dem Kultfilm zugeschrieben wird. Und Rainer Brandts “Schnodderdeutsch”-Synchronfassungen, in denen die Helden immer einen blumigen Spruch auf den Lippen haben, genießen inzwischen auch Kultstatus. Wenn all diese Dinge gleichzeitig auftreten, wie im Hörspiel Sartana – Noch warm und schon Sand drauf, steht die Kult-Singularität unmittelbar bevor.

Vermutlich muss man aber selbst Kultist sein, um ihr entgegenzufiebern. Man muss der Überzeugung sein, es gehe darum “ein lang vergessenes Kulturgut wiederzubeleben”. So drückt es Sartana-Mastermind und Hauptdarsteller Bela B. in einem der geskripteten Backstage-Dialoge aus, die dem um Brandts Synchronbuch herumgestrickten Hörspiel eine selbstreflektive Note geben sollen. Sicherlich nicht hundertprozentig ernst gemeint – weder Italowestern noch schnodderige Synchros dürften als “lang vergessen” gelten, so lange es Privatfernsehen gibt – aber auch eine gute Selbstrechtfertigung. Sonst könnten hinterhältige Rezensenten schließlich glauben, hier habe jemand nur ein paar Kumpels und Idole um sich geschart, um sich einen Kindheitstraum zu erfüllen: in einem Film von damals die Hauptrolle spielen und all die coolen Sprüche endlich selbst klopfen.

Noch warm und schon Sand drauf von 1970 ist je nach Rechnung der dritte oder vierte der am Fließband produzierten Italo-Western um den kernigen Scharfschützen Sartana, einer der vielen Nachahmer von Sergio Leones Für eine Handvoll Dollar. Wie üblich dreht sich der Plot um einen einsamen Revolverhelden, der das Gesetz in die eigenen Hände nimmt und selbst entscheidet, wen er rächt und wen er rettet. Ein Schurke nach dem anderen meldet in dieser Iteration der Geschichte Interesse entweder an einem Gold versprechenden Stück Land nahe der Stadt Indian Creek oder gleich an Sartanas Leben an. Der Originaltitel des Films, der übersetzt “Schönes Begräbnis, Freunde! … Sartana zahlt” lautet, sagt alles darüber, was dann jeweils als nächstes passiert.

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Piq: Die Gefahren der Nostalgie

Simon Reynolds’ Buch Retromania ist eins der prägenden kulturkritischen Werke der letzten Jahre. 2010 erstmals erschienen, blättert Reynolds darin auf, wie in der Musikindustrie und überhaupt in unserer gesamten Kulturlandschaft die Sehnsucht nach dem Alten längst das Interesse am Neuen überholt hat.

Zum Buch gab es auch ein Blog, in dem Reynolds regelmäßig neue Gedanken sammelte und passende Artikel verlinkte. Dieses Blog schloss im September, denn “while retro remains a prominent part of the current culture, it doesn’t feel dominant to the same extent it did”.

Der Trump-Sieg hat Simon Reynolds dazu gebracht, sein Blog noch einmal zu öffnen, auch wenn es nur für ein paar Zitate ist, eins davon aus seinem Buch. Dabei geht es um “reflektive” und “restorative” Nostalgie, eine Unterscheidung der Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym. Es ist die restorative Nostalgie, “big on pageantry (…), folklore, and Romantic nationalism”, die zurzeit die Welt im Griff hat. Aber der Blick in Reynolds’ Blog zeigt: zu viel Nostalgie sollte uns generell eine Warnung sein.

Zum Artikel | Zum Piq

Ich habe schon länger überlegt, zu diesem Thema zu bloggen und mich jetzt stattdessen aus Zeitgründen für einen Piq entschieden. Einen wichtige Wendepunkt fand ich Stranger Things dieses Jahr – das ich, zugegeben, selbst noch nicht gesehen habe. Hier stimmten plötzlich selbst viele Nostalgiekritiker (unabhängig von der Qualität der Serie selbst) ins Lob der Vergangenheitsverklärung mit ein. Nach dem Motto: Wenn sie transformativ genug ist, ist Nostalgie ja okay, immerhin geht es nicht mehr immer um die gleichen alten Filme. Ich habe selbst noch keine endgültige Meinung dazu, spüre aber immer wieder die gefährlichen restorativen Tendenzen in solchen Schwärmereien (s.o.)

“Our Debut Album” erlaubt einen einmaligen Einblick in kreative Prozesse

Wir sind davon besessen, wie Kreativität funktioniert. Wer sich einmal in eine bestimmte Filterblase im Netz verirrt, zum Beispiel auf “Medium”, kann sich plötzlich gar nicht mehr retten vor Selbsthilfe-Tipps für Autoren – gegen Schreibblockaden, für Ideenfindung, zur Effizienzsteigerung und Prozessverbesserung. Erfolgreiche Kreative und findige Wissenschaftler_innen teilen in TED-Talks und anschließenden Büchern inzwischen regelmäßig ihre Kreativitäts-Geheimnisse und -Beobachtungen. In Fernsehsendungen wird Kreativität als Problemlösung endlos zur Schau gestellt.

Aber selten bekommen wir die Gelegenheit, Ideen tatsächlich beim Entstehen zu beobachten. Denn Kreativität ist nach wie vor ein enorm privater Prozess. Er findet im Kopf statt oder alleine im stillen Kämmerlein (einer der Tipps für Ideenfindung) und wenn er, wie im Reality-TV der Superstars und Umdekorierungen, öffentlich inszeniert ist, wird die wirkliche Arbeit in der Regel nicht gezeigt, weil sie zu langweilig scheint. Podcasts wie der fantastische Song Exploder, “where musicians take apart their songs, and piece by piece, tell the story of how they were made” kommen einer echten Kreativ-Analyse einzelner Werke ohne Selbsthilfe-Charakter sehr nah (Rivers Cuomo hat einen der faszinierendsten Arbeitsprozesse aller Zeiten). Aber auch sie können Kreativität nur im Nachhinein erzählen. Live dabei sind sie nicht.

Eine Stunde Zeit

Auftritt Our Debut Album. Der Podcast von Dave Shumka und Graham Clark hat ein simples Konzept: Viele große Hits der Musikgeschichte wurden angeblich in unter einer Stunde geschrieben. Also braucht man auch nur eine Stunde, um gute Hits zu schreiben. Also kann man sich dabei auch aufnehmen. Shumka und Clark, beide eigentlich Comedians und weit davon entfernt, geübte Musiker zu sein, geben sich ein paar Minuten zum Brainstormen, dann starten sie den Countdown und schreiben einen Song.

Die Ergebnisse, die auf Bandcamp gestreamt und gekauft werden können, haben meiner Ansicht nach bisher nicht das Kaliber echter Hits. Einigen von ihnen merkt man ihren nicht sehr durchdachten Entstehungsprozess auch deutlich an. Aber darum geht es nicht. Viel interessanter ist, dass man Shumka und Clark dabei zuhören kann, wie sie unter (mäßigem) Zeitdruck Ideen entwickeln und ausarbeiten. Dass sie hauptberuflich Comedians sind, hilft, weil sie ihren eigenen Prozess ständig verbalisieren, kommentieren und auseinandernehmen – was schließlich auch das Geheimnis vieler guter Witze ist.

Meine persönliche Kreativitäts-Theorie

Ich habe eine persönliche Lieblingstheorie zum Thema Kreativität, die darin besteht, dass es im Grunde zwei kreative Persönlichkeitstypen gibt (und, natürlich, wie immer, ein Spektrum dazwischen). Bei den einen ist Kreativität von einer Vision getrieben. In ihrem Kopf entsteht sehr schnell ein voll ausgeformtes Endprodukt und der kreative Prozess besteht darin, sich diesem Endprodukt anzunähern. Eine der schönsten Visualisierungen dieses Typs habe ich im Film Begin Again entdeckt. Mark Ruffalo hört Keira Knightley in einer Bar zur Gitarre singen und für ihn stimmen sofort die herumstehenden Instrumente mit ein, zeigen das Arrangement, dass er sich vorstellt. Ich selbst bin auch so ein Typ – ich kann erst anfangen zu schreiben, wenn der Text in meinem Kopf erst existiert. Der Vorteil ist, dass der eigentliche Schreibprozess oft sehr schnell geht. Aber wenn auf dem Weg zur Vision etwas Unvorhergesehenes passiert oder die Vision sich nicht einstellen will, gerät der ganze Prozess schnell in eine existenzielle Krise.

Am anderen Ende des Spektrums steht Kreativität, die von einem Prozess getrieben ist. Zumindest habe ich das beobachtet. Ich kenne viele kreative Menschen, die eben nicht sofort wissen, wo sie hinwollen, sondern einfach so lange arbeiten, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden (genug) sind. Das bedeutet oft, erstmal übers Ziel hinauszuschießen und dann den Kurs zu korrigieren sowie sich bestimmte Ideen gar nicht vorstellen zu können, bevor der vorhergehende Schritt nicht abgeschlossen ist. Prozessorientierte Kreative sind, glaube ich, bessere Zusammenarbeiter und sie sind offener für spontane Entwicklungen im Laufe des Prozesses. Dafür brauchen sie meist länger, neigen stärker zur Prokrastination und man muss ihnen ihr Werk manchmal mit den Worten “Das ist jetzt gut so” aus den Händen reißen.

Die Theorie in Aktion

Bei der Live-Kreativität von Our Debut Album kann man als Hörer Zeuge von beidem werden. Shumka und Clark sind beide eher prozessorientierte Kreative, wie oben beschrieben. Sie fangen mit einer Ursprungs-Idee an und hangeln sich davon ausgehend so lange durch das Songwriting bis die Zeit um ist. Natürlich greifen sie auf typische Muster des Liedschreibens zurück, um ein Gerüst zur Orientierung zu haben, aber nicht selten kommen die entscheidenden Heureka-Momente erst nach der Hälfte der Zeit.

Ein paar Mal hatten die beiden allerdings auch Gäste mit in der Sendung, und fast jedes Mal konnte man beobachten, wie zwei verschiedene Kreativitätswelten aufeinander trafen. Emmett Hall, der in Episode 2, “Glam Boyz” mit im Studio sitzt, ist schon nach gut 15 Minuten von den ersten Ideen so angefixt, dass er den Rest des Songs bereits spielen könnte und von den anderen gestoppt werden muss (Ungefähr bei 18 Minuten im Podcast). Und mit Jessica Delisle wurschteln Shumka und Clark in Episode 6, “Party Lyin'” eine Stunde lang herum und sind am Ende überzeugt, zum ersten Mal gescheitert zu sein. Aber Delisle versichert ihnen: “In my mind, I’m hearing a song” – und produziert kurze Zeit drauf eine Demo aus den Versatzstücken (Bei ca. 33 Minuten). “I’m very much ‘what’s on the page'”, gibt Graham Clark als Antwort darauf zu und beschreibt damit das andere Ende des Spektrums. Es ist faszinierend!

Wieviel bleibt übrig?

Im letzten Schritt des Podcasts beschreiben die Gastgeber zusätzlich, wie aus ihrem in der Sendung entstandenen Gerüst mit Hilfe des Produzenten Jay Arner ein fertiger Song wird. Und obwohl dieser Schritt immer sehr verkürzt dargestellt wird, lässt sich auch darin noch viel über die Mutabilität von Ideen lernen. Weil die Zuhörer_innen zuvor alle Sackgassen miterleben durften, die das Songwriting auf seinem Weg passiert hat, bringen sie jetzt ein viel besseres Gefühl dafür mit, welche Anfangs-Ideen es bis zum Ende schaffen und wieviel Saat des finalen Songs in diesen Anfangs-Ideen überhaupt vorhanden ist.

Wer sich für Kreativität, Musik und Komik interessiert, dem lege ich Our Debut Album hiermit wärmstens ans Herz. Neue Episoden erscheinen immer am ersten Mittwoch jedes Monats. Neun Songs sind schon fertig, zwölf sollen es mal werden.

Und wer Ideen, Erfahrungen und Meinungen zu meinen Gedanken über kreative Prozesse hat, darf sie gerne in die Kommentare schreiben.

Drei Minuten vor zwölf

Als jemand, der Anfang der 1980er Jahre geboren wurde, hatte ich Zeit meines Lebens Schwierigkeiten damit, das Lebensgefühl dieser Dekade nachzuempfinden – bis vor einigen Jahren, als der Zeitgeist plötzlich wieder zu passen schien. Warum das so sein könnte, darauf legen andcompany&Co. in ihrem Hörspiel, das auch als Theaterstück schon durch Deutschland getourt ist und den unmerkbaren Namen WARPOP MIXTAKE FAKEBOOK VOLXFUCK PEACE OFF! ‘Schland Of Confusion trägt, eigentlich ganz gut den Finger: Angst.

Die “Doomsday Clock”, die Weltuntergangsuhr, die die Gefahr der globalen Bedrohung anzeigt, ist 2015 wieder auf drei Minuten vor zwölf vorgestellt worden, zum ersten Mal seit 1984. Das nimmt die Performance-Gruppe zum Anlass, um wie mit einem riesigen Schaufelbagger die kulturellen Artefakte von damals aufzuklauben, sie über dem Heute wieder abzuwerfen und in einem akustischen Thermomix kräftig mit der momentanen Stimmung zu verquirlen. In einer fiktiven Radiosendung stellt die fiktive Band “Die Schlitz” ihr Album “Schewenborn” vor, benannt nach Gudrun Pausewangs 1983 erschienenem Anti-Atomkriegsroman Die letzten Kinder von Schewenborn, der seinerseits in einer fiktiven Kleinstadt spielt.

Was es Mitte der 80er nicht alles gab. James Camerons Film The Terminator, in dem eine Maschine aus der postapokalyptischen Zukunft Jagd auf eine Frau macht, Pseudo-Protest-Pop wie Genesis’ Land of Confusion, Midnight Oils Beds are Burning und Ultravox’ Dancing With Tears in My Eyes. Heckscheiben-Aufkleber gegen AKWs und Waldsterben. Friedenskonzerte mit Udo Lindenberg. Und George Orwells drohendes Menetekel in Form eines Romantitels.

Weiterlesen in epd medien 41/2016

WARPOP MIXTAKE FAKEBOOK VOLXFUCK PEACE OFF! ‘Schland Of Confusion in der WDR-Mediathek

Das Interessanteste an … Erwartungen (2016)

Erwartungen ist das Langfilmdebüt von Regisseur, Drehbuchautor und Freund dieses Blogs Sebastian Mattukat. In vier miteinander zusammenhängenden Geschichten zeigt er darin die amourösen Verstrickungen einer Nacht und die Art, wie sich Menschen durch ihre eigenen Erwartungen oft im Weg stehen.

Liebe geht heute nur noch selten ohne Technik, und auch wenn Erwartungen eine feurige Rede gegen Online-Dating enthält (was ich als jemand, der dort seine Frau kennengelernt hat, durchaus persönlich nehme), spielt digitale Kommunikation im Film eine Rolle. Dass die Darstellung von Unterhaltungen per SMS noch immer eine Herausforderung für Filmemacher_innen ist, hat nicht zuletzt Tony Zhou in seinem Video-Essay “A Brief Look at Texting and the Internet in Film” aufgezeigt. Der Trend geht dahin, die SMS als souveräne Elemente ins Bild einzubauen wie es Sherlock und House of Cards machen.

Das wollte Sebastian aber nicht, wie er mir schreibt:

Ich wollte es unbedingt vermeiden, wie in House of Cards Grafiken im Raum zu haben. Das macht das ganze sehr technisch. Gleichzeitig ist es der absolute Krampf, echte Handy-Displays zu filmen. Oft sind die Displays zu dunkel, Fettflecken, Spiegelungen, zitternde Hände von Schauspielern (gerade bei Nahaufnahmen). Dann muss das schreiben passen, sprich: der Darsteller darf sich nicht vertippen, irgendjemand im Raum muss die richtigen Antworten parat haben und der Fokus stimmen. Also alles in allem mega-anstrengend. Dann haben wir beschlossen die Teile komplett zu animieren und immer einen passenden Anschluss mit den Figuren zu kreieren, so dass der Inhalt optimal rüber kommt, es möglichst hübsch aussieht und wir im Nachhinein die optimale Leselänge festlegen konnten.

Sebastian und sein Motion Designer Tom Degel zeigen ihre Handydisplays als Leinwand füllende Screenshots, über die eine in After Effects und Cinema 4D animierte Kamera langsam hinwegwandert. Was banal klingt, stellt gerade im Kino eine merkwürdig intime Nähe zu den Nachrichten her – als wäre man als Zuschauer_in mittendrin in der digitalen Konversation – auch wenn sie etwas klischeehaft ist wie im folgenden Clip.

Die Nachrichtenblasen scheinen im Raum zu schweben, sind aber dennoch ganz eindeutig flach im Bildschirm eingesperrt. Ich fand das eine kluge und ästhetisch wirkungsvolle Idee und bin gespannt, wann ich es in einem anderen Film sehe.

Hinweis: Sebastian stellt Blogger_innen gerne einen Screening-Link seines Films zur Verfügung. Seine Kontaktdaten stehen auf seiner Website.