Das Interessanteste an … Moana (2016)

Es mag an meiner leichten Winterdepression liegen, aber nach Disneys Südseeabenteuer Moana (das inzwischen fast in mehr Territorien Vaiana heißt, weil ein Kosmetikhersteller ein Copyright besitzt) fühlte ich mich sonnendurchflutet und gut. Es war mir irgendwie egal, dass der Film eine Verfilmung des Joseph Campbell-Ausmalbuchs ist. Ich habe meine Augen begeistert an den fotorealistischen Umgebungen geweidet, mochte die Dynamik zwischen den Figuren und beim Song “How Far I’ll Go” liefen mir – ungelogen – Schauer über den Rücken.

“How Far I’ll Go” ist in Moana der klassische “I Wish/I Want”-Song des Musical-Schemas. Meistens als zweiter großer Showstopper nach dem Eröffnungstrack, der die Welt des Musicals etabliert (hier ist das “Where you are”, in dem das Dorf vorgestellt wird), hat der “I want”-Song in Musicals die Funktion, den zentralen Konflikt der Hauptfigur zu etablieren. Sie will etwas, ahnt etwas und muss dann die Reise des Plots antreten, um es zu erreichen. Zwei typische “I want”-Songs sind “Part of that World” aus The Little Mermaid und “The Wizard and I” aus Wicked.

“How Far I’ll Go”, geschrieben und getextet von Lin-Manuel Miranda noch vor seinem großen Erfolg mit Hamilton, orchestriert von Mark Mancina, legt entsprechend dar, was Hauptfigur Moana sich wünscht: von der Insel, auf der sie lebt, herunterkommen; zur See fahren; ihr Schicksal finden. Entsprechend der typischen Dramaturgie eines solchen Songs beginnt sie vorsichtig, ist am Ende des Songs aber wild entschlossen, aufzubrechen, wie die Version im Film zeigt. Von so viel Leidenschaft kann man schon mal mitgerissen werden, wenn man wie ich ein großer Softie ist.

Für den Abspann des Films jedoch hat Disney den Song umschreiben und von Teenie-Star Alessia Cara (in Deutschland: Helene Fischer) interpretieren lassen. Diese Art von Hitparaden-Zweitverwertung hat bei Disney Tradition (“A Whole New World” aus Aladdin ist vermutlich das bekannteste Beispiel) und ergibt oft taugliche Popsongs, befreit von ihren Musical-Ursprüngen, gerne interpretiert von ihren Autoren (“Can you Feel the Love Tonight” von Elton John, “You’ll be in my heart” von Phil Collins).

Das Ergebnis ist in diesem Fall allerdings einigermaßen furchtbar:

Der Grund ist meiner Ansicht nach, dass Disney sich diesmal zu sehr von aktuellen Trends hat leiten lassen. “How Far I’ll Go” in der Version von Alessia Cara ist kein zeitloser Popsong, sondern springt mit voller Wucht auf den aktuellen EDM-Trend in den USA auf, was man an zwei Merkmalen deutlich merkt, die praktischerweise beide im vergangenen Jahr im großartigen Podcast Switched On Pop erklärt wurden.

Das eine ist der momentan übliche Claven-Rhythmus, der den Four-on-the-Floor-Umpfer im Mainstream-EDM fast vollständig abgelöst hat. Nate Sloan und Charlie Harding vergleichen am Anfang einer Episode die Songs der Billboard Hot 100 und sie klingen alle gleich. Auch der große Pophit des vergangenen Sommers “One Dance” von Drake nutzt diesen im Vergleich zum geraden Viervierteltakt leicht verschobenen Rhythmus. Hier wirkt er aufgrund der großen Menge an Text, den Alessia Cara in gesteigerter Geschwindigkeit herunterattern mus, irgendwie extrem hektisch im Vergleich zu den stampfenden polynesischen Trommeln und Drama-Fanfaren des Originals.

Das zweite ist die von Nate und Charlie Pop Drop getaufte Eigenart aktueller Popsongs, dem eigentlichen Refrain eine Sektion folgen zu lassen, in der die Stimme des Interpreten zerhackt wird und eine völlig neue Melodie nachzeichnet. Dies ist die in die Popmusik übertragene Variante des “Drop” aus der EDM von Interpreten wie David Guetta, die keinen eigentlichen Refrain haben, sondern nur einen euphorischen Teil, bei dem die Menge besonders stark abtanzen soll. In vielen aktuellen Songs ist der “Pop Drop” der eigentliche Refrain und der Refrain verkommt zur Bridge. Aber “How Far I’ll Go” hat einen wunderbaren Refrain. Besonders die Wiederholung der Melodielinie über sich verschiebenden Harmonien in der Zeile “And no one knows / how far it goes” hat es mir angetan. Diesem Refrain noch einen mittelmäßigen Pop Drop folgen zu lassen ist wie einen Hut auf einen Hut zu setzen. Es ist überflüssig und hebt sich gegenseitig auf.

Dass es auch anders geht zeigt übrigens die Pop-Version von “You’re Welcome”. Ex-Disney-Sternchen Jordan Fisher singt hier die Melodie und Lin-Manuel Miranda rappt dazu einen “Guest Verse”, der im Film nicht zu hören ist. Das ganze passt aber gut und organisch zusammen. Für “How Far I’ll Go” hätte sich doch bestimmt auch ein Popsternchen finden lassen, der das Ganze in klassischer Film-Endballaden-Manier in die Welt krakeelt hätte. Kommt dann wahrscheinlich eines Tages auf einer dieser grausamen “Disneymania”-CDs.

No Children of the Revolution: Das Modell Moulin Rouge! hat sich nie durchgesetzt

© 20th Century Fox

In einem der besten DVD-Extras aller Zeiten spricht der australische Regisseur Baz Luhrmann alleine auf einer Bühne darüber, welchen Prozess er durchlaufen musste, um seine neonfarbene Inszenierung von William Shakespeares “Romeo und Julia” dem Hollywood-System zu verkaufen. Wer zehn Minuten Zeit hat, sollte sich das ganze Video anschauen, es ist urkomisch, aber für das Thema dieses Artikels reicht es, sich auf eine Stelle zu konzentrieren.

An diesem Punkt der Geschichte ist Luhrmann völlig entmutigt, dass irgendjemand sein Konzept interessant findet. Noch dazu hat er sich verbogen, um seine wahre Intention vor dem Studioboss, der ihm gegenübersitzt, zu verbergen. Dieser hat Mitleid mit ihm und versucht, dem Regisseur einen Rettungsring zuzuwerfen. “I hear there’s music in this film. What kind of music?”, bietet er an, und Luhrmann beißt sofort in die angebotene Karotte. “Contemporary music!”, ruft er, und auf die Nachfrage “What kind of contemporary music?”, platzt es aus ihm heraus: “More hits than you can possibly imagine!”

Generation Lovefool

Nun war das Soundtrack-Album von William Shakespeare’s Romeo + Juliet tatsächlich sehr erfolgreich. Obwohl es wahrscheinlich nur einen wahren Hit produzierte, “Lovefool” von der schwedischen Band The Cardigans1, gehört es in meiner Generation — gemeinsam mit dem drei Jahre später erschienenen Soundtrack von Cruel Intentions (dt. Eiskalte Engel) — zu den Soundtrack-CDs, die fast jeder Mittelstufler im Regal stehen hatte. Luhrmann hatte also bewiesen, dass er ein Auge bzw. ein Ohr dafür hatte, das Klassische in interessanter Weise auf das Moderne treffen zu lassen. Nur für seine Vision von den unvorstellbar vielen Hits musste die Welt sich noch einen Film lang gedulden.

Moulin Rouge! (nur echt mit Ausrufezeichen), Luhrmanns dritter Spielfilm aus dem Jahr 2001, wird den meisten Menschen filmhistorisch gesehen — falls überhaupt — eventuell im Gedächtnis bleiben, weil sein Erfolg in Hollywood eine Welle von neuen Musicalfilmen lostrat, in denen Stars, die nicht für ihre Singstimmen bekannt waren, plötzlich ihr Talent als moderne Bard_innen entdeckten. Gemeinsam mit Darren Aronofskys Requiem for a Dream wird Moulin Rouge!, mit seiner durchschnittlichen Einstellungslänge von 1,9 Sekunden2, außerdem auf ewig als Exempel für die Beschleunigung des Filmschnitts um die Jahrtausendwende herhalten dürfen.

Marmeladen-Ladies

Pophistorisch könnte Luhrmanns Film eventuell noch als einer der wichtigsten Meilensteine auf Christina Aguileras Pfad zum Superstar wahrgenommen werden — schließlich übernahm “Xtina” gewissermaßen die Hauptrolle in der Mega-Super-Smash-All-Star-Coverversion von Labelles “Lady Marmelade”, die den Soundtrack krönte und wochenlang weltweit die Popcharts regierte.3 Dabei hat der Film in seinen Musiknummern ein Modell aufgestellt, das bis heute nie wieder erreicht wurde.

Hinter Moulin Rouge! und seinem Songkonzept steht ein einfacher Gedanke: Dass die großen Poeten früherer Zeitalter heute wahrscheinlich Songwriter für Popsongs wären. In der berühmtesten Szene des Films versucht der mittellose Poet Christian (Ewan McGregor) die Zuneigung der begehrten Tänzerin Satine (Nicole Kidman) für sich zu gewinnen. Satine ist Christian durchaus zugetan, doch sie weiß, dass Christian ihr nichts bieten kann außer einem Leben in Armut. Noch dazu hat Satines Chef Zidler (Jim Broadbent), der Betreiber des Moulin Rouge, ihr jüngst in Aussicht gestellt, dass ein wohlhabender Kunde (Richard Roxburgh) bereit ist, eine große Menge Geld in das Theater zu investieren, wenn er dafür Satine bekommt. Während Christian der Tänzerin also Antrag auf Antrag macht, weist sie ihn immer wieder zurück.

Anatomie eines Elefantenmedleys

Das “Elephant Love Medley”, wie das dabei entstehende Werk auf dem Soundtrack heißt, weil die ganze Szene auf einem überdimensioniertem Stück indischer Dekoration spielt, besteht ausschließlich aus den Zeilen bekannter Lovesongs. Christian lässt nichts aus, um Satine zu umwerben, weder “All you need is love” noch “I was made for loving you”, “One more night”, “In the name of love”, “Don’t leave me this way” oder “Up where we belong”. Jeder Song ist ein neuer Ansatz, den Satine jedoch immer mit einer Verdrehung des Textes abweist. “The only way of loving me, baby, is to pay a lovely fee”, heißt es etwa in Antwort auf KISS’ größten Hit. Erst mit David Bowies “Heroes” – scheinbar dem Song zeitgenössischer Bohemiens – kann Christian Satine berühren und schon bald liegen sich die beiden zu “I will always love you” in den Armen, dem wahrscheinlich pompösesten und größten Lovesong aller Zeiten und Universen.

Die anderen großen Musiknummern des Films funktionieren nach dem gleichen Rezept – “more hits than you could possibly imagine”. Luhrmann und sein Music Developer Josh Abrahams plündern die Musikgeschichte mit maximaler Effektivität. Die schillernde Revue, die in mehreren, nur durch wenig Dialog unterbrochenen, Musikeinlagen das Moulin Rouge und seine Charaktere vorstellt, mischt Marilyn Monroes “Diamonds are a girl’s best friend” mit Madonnas “Material Girl”, Marc Bolans “Children of the Revolution” und – am erinnernwertesten – einer einzelnen Zeile aus Nirvanas “Smells like Teen Spirit”: “Here we are, now entertain us!”.

Mehr als eine Jukebox

Elton Johns “Your Song”, Madonnas “Like a Virgin”, Randy Crawfords “One Day, I’ll Fly Away” und Queens “The Show Must Go On” bilden weitere Bausteine des Gesamtkunstwerks Moulin Rouge!. “El Tango de Roxanne”, der dramatische Höhepunkt des Films lässt mehrere Charaktere an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen Stufen der Verzweiflung gegeneinander ansingen.4 Das Leitmotiv bildet “Roxanne” von The Police, das im Rotlichtmilieu des Films und als Tango arrangiert plötzlich einen ganz anderen Effet bekommt. Nach und nach mischt es sich mit “Come what may”, der einzig prominenten Originalkomposition des Films.

So genannte “Jukebox Musicals”, die den Katalog eines Interpreten oder einer musikalischen Ära plündern, und mit viel Mühe versuchen, eine Geschichte drumherum zu stricken, sind eins der erfolgreichsten Bühnenkonzepte des 21. Jahrhunderts — von “Mamma Mia” und “We Will Rock You” bis zu ihren deutschen Nachahmern wie “Hinterm Horizont”. Doch während diese Chimären des Musiktheaters meist nur gnadenlos unsere Sucht nach Retromania bedienen, erschafft Luhrmann in Moulin Rouge! aus seinem Bric-a-brac der Musikgeschichte etwas Eigenes. Er nutzt die zeitlosen Songs nicht als Bezeichnetes, an das wir uns nostalgisch zurückerinnern, sondern als Materialien für ein Patchwork unseres kollektiven Unbewussten, in dem sie nahtlos verschwinden.

Das merkt man etwa daran, dass Luhrmann kein Problem damit hat, Textzeilen einfach zu ändern, wenn sie nicht passen. “Like a virgin” ist im Original ein Song in der ersten Person Singular, doch in Moulin Rouge! wird er zum Bericht an eine zweite und über eine dritte Person. Die Zeile “When your heart beats next to mine” ändert der Film daher kurzerhand in “When your hearts beat both in time”. Wer sich Madonna voll hingeben will, ist irritiert, doch der Song ist eben nur kultureller Lehm, endlos formbar unter den Händen seines Künstlers.

Der Prototyp

Das Mashup ist, neben Dubstep, wohl die prominenteste “neue” Musikrichtung, die in den 2000er Jahren den Mainstream erreicht habt, und sie dient den Kulturpessimisten gerne als Beweis dafür, dass die digitale Ära eine ist, in der nichts Neues mehr erschaffen, sondern nur noch Vorhandenes rekombiniert wird. Ein gutes Mash-up aber lässt seine Elemente so aufeinanderprallen, dass in ihrer Reaktion miteinander etwas Neues entsteht. Die Musik von Moulin Rouge! ist sozusagen ein Prototyp eines solchen Mash-ups.

Baz Luhrmann hat das Mashup um Himmels Willen nicht erfunden.5 Er kannte es sozusagen nur, bevor es, wahrscheinlich spätestens mit Danger Mousens “Grey Album”, berühmt wurde. Doch Moulin Rouge!s Pionierfunktion geht noch weiter. In gewisser Weise nehmen die Arrangements des Films die bombastische Showtune-isierung sämtlicher Popklassiker durch die musikalischen Castingshows dieser Welt und die Fernsehserie Glee vorweg, von den heute total hippen Bollywood-Tonalitäten, die Luhrmann schwerelos in seinen Songteppich einwebt, ganz zu schweigen.

Moulin Rouge! ist also nicht nur ein Meilenstein des musikalischen Kinos, es ist auch eine Bestandaufnahme musikalischer Strömungen um die Jahrtausendwende. Dennoch wurde sein Konzept nie weiträumig kopiert. Das Filmmusical erhielt, wie erwähnt, einen Aufschwung, meist jedoch entweder in Produktionen von etablierten Broadway-Hits wie Chicago und jüngst Les Misérables oder in den oben genannten Jukebox-Musicals wie Mamma Mia, Across the Universe oder Rock of Ages. Selbst Baz Luhrmann traute sich nicht, sein eigenes Konzept weiterzuentwickeln. The Great Gatsby von 2013 paart zwar F. Scott Fitzgeralds literarisches Gemälde der Roaring Twenties mit der modernen Dekadenz von Lana Del Rey und Jay-Z, ist in seinen Musikeinsätzen damit aber eher wieder im Territorium von Romeo + Juliet angekommen.

Der einzige Nachahmer

Einen einzigen Film gibt es, der sich traute, den Moulin Rouge!-Weg zu gehen, und obwohl er in seinem Erscheinungsjahr 2006 recht erfolgreich war, dürfte er wohl kaum die Geschichte überdauern. Die animierte Pinguinfabel Happy Feet — interessanterweise ebenfalls von einem Australier, George Miller, inszeniert — ist ebenfalls ein Musical, das sich seine Songs aus der gesamten Musikgeschichte zusammenklaut und sie fröhlich miteinander verquirlt. Hugh Jackman und Nicole Kidman (mal wieder) imitieren Elvis Presley und Marilyn Monroe und paaren sich zu einem Mashup von Princes “Kiss” und Elvis’ “Heartbreak Hotel”. Weitere Highlights sind eine Interpretation der spanischen Übersetzung von “Comme d’habitude” (“My Way”) durch Robin Williams und Brittany Murphys Rockin-Southern-Church-Version von Queens “Somebody to Love”.

Happy Feet erreicht allerdings nicht annähernd die Dichte und schiere Wucht von Moulin Rouge! und vielleicht ist das auch der Grund, warum sich sonst niemand mehr an Luhrmanns Konzept versucht hat. Der Film ist so archetypisch. Sein Plot ist im Grunde eine Variante von “Orpheus in der Unterwelt”, was ebenfalls in mehrfach gebrochenen Referenzebenen reflektiert wird — die Figuren des Films führen ein Stück auf, das ihre eigene Situation reflektiert und nutzen dafür Passagen aus Jacques Offenbachs “Can can”. Seine wichtigsten Songs sind so bekannt, so eingebrannt in unser kulturelles Gedächtnis, dass jeder weitere Versuch, das Konzept zu adaptieren, wie eine schale Imitation wirken muss.

Moulin Rouge! bleibt also ein Beinahe-Einzelfall, entweder ein Meisterwerk oder ein freak accident der Filmgeschichte, mit Sicherheit aber Baz Luhrmanns vielschichtigster und vielleicht auch bester Film bisher. Und sein Erbe lebt fort. Come what may.

Inspiriert wurde dieser Artikel übrigens vom Besuch der Ausstellung “Esprit Montmartre” in der Frankfurter Schirn Kunsthalle. Die Ausstellung ist noch bis 1. Juni 2014 zu sehen und sehr empfehlenswert.

1 Das Erbe von Luhrmanns Inszenierung des Stücks inklusive des Cardigans-Songs parodieren Simon Pegg und Edgar Wright kongenial in einer Szene in Hot Fuzz, in der die Dorftheatertruppe “Romeo und Julia” aufführt und dabei nicht nur in den Kostümen Luhrmann “schwedet”. Am Ende tanzt auch das ganze Ensemble zu einer Pianoversion von “Lovefool” von der Bühne.
2 Diese Zahl stammt aus einem Vortrag von David Bordwell, den ich 2003 gehört habe.
3 An dem Song bis heute bemerkenswert: Wie es Missy Elliot gelingt, das französische Wortpaar “Moulin Rouge” in einem ihrer Einwürfe bis zur Unkenntlichkeit zu amerikanisieren. Mew-Lahn Roosh, indeed.
4 Mein innerer Klugscheißer will behaupten, dass diese Tradition, die sich heute in vielen Musicals findet, auf Leonard Bernsteins “Quintet” aus West Side Story zurückgeht, ich bin mir aber nicht sicher.
5 Wikipedia nennt The Whipped Cream Mixes (1995) von Mark Gunderson als Vater des Genres.

Eine kleine Geschichte des “echten” Gesangs im Film

Bild: Universal Pictures International

Die Musical-Verfilmung Les Misérables hatte meiner Ansicht nach so einige Probleme. Unter anderem litt sie unter schlecht inszenierter Action und einem furchtbar langweiligen dritten Akt, dessen essenzielle Konflikte ständig in einer Ariensoße zu ertrinken drohten. Was mich allerdings nicht gestört hat, obwohl es (exemplarisch) anderswo originell beschimpft wurde, war der am Set aufgenommene Live-Gesang, der an die Stelle des traditionellen Vollplaybacks zu einer im Studio aufgenommenen Version trat.

Tom Hooper und sein Team wurden nicht müde, das Alleinstellungsmerkmal dieses Verfahrens zu betonen (obwohl Julie Taymor es vor fünf Jahren in Across the Universe auch schon gemacht hat, was sogar Improvisation am Set zuließ) – und ich fand es funktionierte. Die velorene Gesangsqualität wurde durch rohe Emotion ausgeglichen.

Zur wahren Emotionalität fehlt Les Misérables aber dennoch der entscheidende Schritt. Denn all das endlose Gesinge in Paris findet ja nach wie vor außerhalb der Diegese der Handlung statt. Es ist eine Konvention des Genres, dass alle Charaktere singen, statt zu sprechen. Behandelt werden ihre stimmlichen Äußerungen aber so – egal ob live oder nicht – als würden sie sprechen; was man daran erkennt, dass die Musik aus dem Nichts kommt und niemand zugibt, dass er gerade singt.

Echtes Singen aber ist ein zutiefst emotionaler Akt, bei dem ein Mensch ein Stück seiner Seele offenbart. Und außerhalb von (technisch unterstützten) Performance-Situationen steigt diese Seelenoffenbarung, diese Zurschaustellung von Verletzlichkeit, die dadurch aber eine umso intensivere emotionale Bindung zulässt, noch um ein Vielfaches.

Daher liebe ich es, wenn Menschen in Filmen “echt” singen, das heißt der Akt des Singens findet innerhalb der Handlungswelt statt. Keiner der Singenden steht dabei auf einer Bühne, in einer anderen Sphäre, sondern der Gesang ist Teil der unmittelbaren Lebenswelt aller beteiligten Figuren. Eine schwammige Definition, ich weiß, aber vielleicht kann die folgendes Sammlung meiner Lieblingsbeispiele demonstrieren, was ich meine. Ich freue mich auf die weitere Sammlung in den Kommentaren – vor allem, um das 40-jährige Loch in der Mitte zu stopfen. [Auf Facebook sind schon ein paar gute Ergänzungen eingegangen]

1. It Happened One Night (1934)

Das Video zeigt den ganzen Film, die relevante Stelle ist hier.

Das waren noch Zeiten, als man Songs noch ungestraft mitten in einen Film einbauen konnte. Hier haben sich Clark Gable und Claudette Colbert lange angekabbelt und nun endlich eine gemeinsame Linie gefunden, als sie zusammen im Bus sitzen. Dem Publikum und derm Film selbst wird daher eine Atempause zugestanden, indem der ganze Bus anfängt vom “Daring Young Man on a Flying Trapeze” zu singen. Das wärmt das Herz, sorgt für Gemeinschaftsgefühl und beschwingt den Busfahrer so sehr, dass er in den Graben lenkt – wo die Screwball-Handlung wieder weitergehen kann. Ein echter Coup!

2. Casablanca (1942)

Die wahrscheinlich berühmteste Szene in meiner Aufzählung. In einem Krieg der Lieder gewinnt das Lied der Unterdrückten (dessen textlichen Inhalt man an dieser Stelle besser ausblendet).

3. Paths of Glory (1957)

Genau genommen steht die junge Christiane Kubrick hier natürlich schon auf einer Bühne, doch es gibt keine trennende Linie zwischen Performer und Zuhörer. Im Gegenteil: Die ganze Szene zielt darauf ab, die Demarkationslinie zwischen Soldaten und Zivilisten, Besatzern und Besetzten, “Guten” und “Bösen” einzureißen. Das Motiv des traurigen Lieds von der Heimat, das die Soldaten in ihrer Menschlichkeit vereint, taucht hier weder zum ersten, noch zum letzten Mal auf.

4. Almost Famous (2001)

Cameron Crowe schummelt ein bisschen, weil er die Original-Aufnahme des Songs unter die Szene legt, das nimmt dieser entfernten Kusine von Szene Nummer 1 aber nichts von ihrer Wirkung. An einem absoluten Tiefpunkt angekommen, groovt sich eine zerstrittene Band hier mit einem Song, den sie liebt, wieder zurück in die positive Zone. Wer sich jemals wirklich mit einer Band im Auto/Bus die Fahrt mit Musik vertrieben hat, weiß, dass solche Momente magisch sind.

5. Moneyball (2011)

“I’m just a little girl lost in the moment.” Hier wird ein Song zum Bindeglied zwischen einer Tochter und dem Vater, der sie vernachlässigt hat, weil er von Baseball-Statisken besessen ist und der sich eben nicht zurücklehnen kann “and just enjoy the show”. Und der Song verbindet sie bis zum Ende des Films, wenn die Baseball-Mission des Vaters gescheitert ist, Tochter und Song aber zum Glück noch da sind.

5 Dinge, die Rock of Ages nicht hat

Tom Cruise als Stacee Jaxx in Rock of Ages

Bild: Warner Bros.

Rock. Man möchte meinen, mit einem Soundtrack von Bon Jovi bis Foreigner und dem Wort “Rock” im Titel, habe Adam Shankmans 80er-Jahre-Revival genug Fels um die Pyramiden von Gizeh in Lebensgröße neu aufzuschütten. Doch neu arrangiert im bombastischen “Night of the Proms”-Stil, überschüttet mit Synthesizern und Kompression, dargeboten von Stimmen der Castingshow-Generation, scheint jede noch so kleine Scharte der Originalsongs abgewetzt. “Wanted: Dead or Alive” ist damit eindeutig nur noch eins: dead.

Musical-Feeling. Gar nicht so dumm wäre es, zu hoffen, dass dieser zuckrige Überzug wenigstens für eine ordentliche Portion Broadway-Glamour sorgt. Aber irgendwann muss jemand mal festgestellt haben, dass man selbst auf ein Mashup von “I love Rock and Roll” und “Hit me with your best shot” nur schwer tanzen kann. Die Folge: Lahme bis nicht vorhandene Choreografien, die im Schnittchaos verdient untergehen. Wenn Busby Berkeley das noch erleben könnte …

Sex. Regelmäßig fällt dieses Wort in “Rock of Ages”. Als Anklagepunkt der von Catherine Zeta-Jones angeführten Protesttruppe, als Essenz seines Erfolgs aus dem Mund von Tom Cruises Tyler-Rose-Jovi-Amalgam Stacee Jaxx.* Doch selbst in der explizitesten Beischlafszene des Films muss die von Malin Akerman gespielte Rockjournalistin ihren BH anlassen. Das Spießertum, das Shankman noch im John-Waters-Musical Hairspray so treffend wie komisch anprangerte, hat in Rock of Ages obsiegt. Mothers, no need to hide your daughters, es ist nur eine weitere, mit Retropaste überzogene Franchisefolge von High School Musical. Typisch dafür, wie wenig ernst der Film Sex überhaupt nimmt, auch dieser Dialog: “Ich arbeite als Stripperin in einer Bar.” – “Ich bin Mitglied einer Boyband.” – “Okay, du hast gewonnen.”

Nostalgie. Die Haare, die Klamotten, die backsteingroßen Telefone, die Songs: Wie Archäologen, die versuchen, eine untergegangene Zivilisation aus deren Artefakten zu rekonstruieren, haben die Filmemacher alles zusammengetragen, was vermeintlich die Ära ausmachte, in deren überhöhter Version ihre Geschichte spielt. Die Aura dieser Ära jedoch – dreckiger, düsterer und dennnoch irgendwie schöner – haben sie irgendwo am Wegesrand vergessen. Übrig bleibt nur das übliche Zeichen ohne Bezeichnetes und ein ebenso leeres Gefühl in den limbischen Systemen der Zuschauer.

Eine Seele. Journeys “Don’t stop believing” ist gewissermaßen Drehbuchgrundlage (“Just a small town girl …”) und zentrale Hymne dieses Films, der sich anschickt, die wahre Religion des Rock vor den dunklen Mächten des Pop zu bewahren. Doch woran soll man noch glauben, wenn die selbsternannten Priester längst selbst einen Deal mit dem vermeintlichen Teufel geschlossen haben und eine unverhohlene filmische Manifestation von “The Man” als Neues Testament darreichen. Dann lieber zum zehnten Mal This is Spinal Tap gucken. Dort wird der bizarre Pomp und Circumstance jener Spätauswüchse des Rock ‘n’ Roll auch lächerlich gemacht, aber er wird wenigstens ernst genommen. Wie heißt es in “Don’t stop believing”? “Some were born to sing the blues.” Ja, und andere halt nicht.

*Cruise, der als reale Persönlichkeit mindestens genauso umstritten ist wie seine Filmfigur Stacee Jaxx, ist das einzig Sehenswerte an Rock of Ages. In seinen Szenen schillert manchmal für Sekundenbruchteile etwas von der Hassliebe durch, die man zu 80s-Bombastorock gefälligst zu pflegen hat.

Zehn zu Null – Eine Dekade voller Filme: Drei Genres im Wandel

Nachdem ich mich in der letzten Woche mit dem meiner Meinung nach dominanten Genre der Noughties, dem fantastischen Film beschäftigt habe, will ich diese Woche kurze Fazits über drei weitere Genres ziehen, die mir in der vergangenen Dekade verstärkt aufgefallen sind.

Musical: Eine Renaissance mit Stars

Musicals und Hollywood: Seit der Geburt des Tonfilms mit Al Jolsons The Jazz Singer gehört das zusammen wie Fritten und Bier. Doch spätestens seit dem Befreiungsschlag des New Hollywood hatte das klassische Broadway-Musical, das noch in den Sechzigern mit Filmen wie The Sound of Music zu den größten Krachern in den USA gezählt hatte, ein wenig an Ansehen verloren (trotz New York, New York). Die Siebziger war eher eine Dekade der Rockfilme (Tommy, Rocky Horror Picture Show), die Achtziger eher eine der Tanzfilme (Dirty Dancing, Flashdance), und in den neunzigern stand es um das Musical ganz schlecht.

In den Nullern aber, wo Hollywood wieder wie wild nach neuen Einnahmequellen durch bereits etablierte Marken suchte, kam das Broadway-Musical mit Rums zurück. Den Anfang machte 2001 Baz Luhrmann mit seinem glorreichen Pastiche Moulin Rouge, das klassische und neue Formen bravourös vermengte. Danach wurde es wieder klassischer, dafür aber im konservativen Hollywood-Establishment immer beliebter (was sich dann in den Oscars zeigte): Chicago wurde 2002 bester Film und in den Jahren darauf konnten Filme wie Hairspray, Mamma Mia, Sweeney Todd, The Phantom of the Opera, Across the Universe oder jüngst Nine wieder Erfolge feiern – die Oscars honorierten das im Jahre 2009 dann auch mit einer entsprechenden Eröffnungsnummer.

Klar, das Musical ist nicht mehr auf dem Beliebtheits-Stand, auf dem es sich mal in den Dreißigern und Vierzigern befand, aber es ist wieder eine Kraft, mit der man rechnen muss. Auch Disney hat die Kraft der Doppelvermarktung wiederentdeckt: Hannah Montana und High School Musical sind bei der jungen Zielgruppe riesige Hits, und nach einigen musiklosen Filmen, kehrten auch die klassischen Disney-Filme mit Enchanted und The Princess and the Frog wieder zur bewährten Form zurück.

Was die großen Hollywood-Musicals von heute von denen von damals unterscheidet ist, dass sie zunehmend große Stars, die eher durch ihr Schauspiel als durch ihre Song-and-Dance-Qualitäten bekannt sind, in den Hauptrollen einsetzt. So treten in den Musicals neuerer Gangart plötzlich Leute wie Richard Gere, Meryl Streep und Johnny Depp auf und jedermann freut sich, dass sie ja auch (mehr oder weniger gut) singen können. Eine clevere neue Formel, deren Ende noch nicht in Sicht ist.

Action: Der kaputte Held im Schnittgemetzel

Es gab in den Noughties auch Actionfilme alter Gangart: Ein muskelbepackter Mensch vom Kaliber Arnie oder Stallone schießt sich ohne Gnade seinen Weg zur Gerechtigkeit. Geprägt wurde die Dekade allerdings von ihren verwundbareren Helden. Der Posterboy ist dabei sicherlich Matt Damon als Jason Bourne, dem Daniel Craig als neuer James Bond nacheiferte. Die neuen Helden müssen mindestens ebenso oft ausweichen wie zurückschlagen, ihre Gegner sind nicht mehr Horden von Kanonenfutter und fiese Überbösewichte, sondern vor allem skrupellose Konzerne und globale, gesichtslose Syndikate. Auch in Mission: Impossible III bekam es beispielsweise Tom Cruise mit einem Gegner (Philipp Seymour Hoffman) zu tun, der von den Weltbeherrschungsfantasien eines Blofeld weit entfernt war. Ihm war sein Gegner einfach nur ein lästiger Dorn im Auge seiner sadistischen Form des Kapitalismus.

Nachdem gerade in der Bond-Serie zuletzt in ihren Superlativen (unsichtbare Autos) in einem letzten Röcheln der Neunziger zunehmend die Luft ausgegangen war, kehrte das Genre in einem Befreiungsschlag zu einem Realismus im Geiste von Bullitt zurück: Autos explodierten nicht mehr ständig, Nahkampf wurde wieder wichtiger als große Wummen. Besonders Paul Greengrass in Bourne 2 und 3 etablierte dazu eine ruhelose Optik voller schneller Schnitte, die an Unübersichtlichkeit kaum zu überbieten war und damit auch die Fragmentierung des vernetzten Zeitalters widerspiegelte. Andere Regisseure (Christopher Nolan in Batman Begins) übernahmen beherzt.

(Ich habe leider die Transporter-Filme und die Cranks nicht gesehen. Wie sieht’s denn da aus? Die Trailer sprechen für eine Mischung aus Bourne-Realismus in der Darstellung und Over-The-Top in den Stunts.)

Abenteuer: Es wird wieder geswashbuckelt

Vier Wörter: Pirates of the Caribbean. Abgesehen von ihren Fantasy-Cousins Frodo und Harry Potter konnten Jack Sparrow und seine Kollegen das erfolgreichste Franchise der Noughties hinlegen. Der Piratenfilm, der als tot und Kassengift galt, wurde damit wiederbelebt und das große Abenteuer in der Wildnis (siehe auch Master and Commander) war wieder da. Auf dieser Bugwelle wagte sich sogar Indiana Jones wieder aus seinem Kühlschrank, ihm hatten die Mummy-Filme von Stephen Sommers ja ohnehin schon einen ganz guten Boden bereitet.

Ganz im Gegensatz zum neuen Realismus des Actionsfilms drehte der Abenteuerfilm in den Nullern wieder alle Regler auf Elf, besonders durch den großzügigen Einsatz von fantastischen Elementen (was die Grenze zum letzten Eintrag natürlich etwas verschwimmen lässt), die dank der plötzlich alles könnenden Computertechnik ja auch wesentlich leichter umzusetzen waren als zuvor.

Ich gebe zu, dass hier sicherlich nicht so ein deutlicher Trend vorliegt wie bei den beiden ersten Genres, aber der riesige Erfolg von Pirates ist doch bemerkenswert. Obwohl Johnny Depp ganz klar der Star der drei Filme ist, ist eine Schlüsselfigur in der ganzen Bewegung vermutlich eher Orlando Bloom, der das Swashbuckling durch seine Legolas-Figur im Herrn der Ringe wieder salonfähig gemacht hatte. Er wiederholte seinen Erfolg im ersten Pirates-Film, um in den Fortsetzungen zur Bedeutungslosigkeit zu verkommen, staubte aber vorher noch Rollen in den Wildnis-Abenteuern (im weitesten Sinne) Troy und Kingdom of Heaven ab. Überhaupt passt sich die Reihe der großen Monumental-Abenteuer (die zwei weiteren Folge der Serie sind Alexander und Australia) gut in das Genre ein, auch ohne übernatürliche Elemente, aber allein schon wegen der Laufzeit.

Von Pirates soll es einen vierten Teil geben, ansonsten scheint die kurzfristig aufgeflammte Lust am altgedienten Abenteuer aber wieder abgeebbt zu sein. Immerhin gibt es ja in diesem Jahr mal wieder einen Robin Hood-Film (von Ridley Scott). Es besteht also noch “Hoffnung”.

Dieser Beitrag ist Teil 16 der Serie
Zehn zu Null – Eine Dekade voller Filme (Zweite Staffel)