Stefan Raab, König der Proto-Memes

Stefan Raab und seine “Nippel” / Bild: Brainpool/Willi Weber

Es mag an meiner Filterblase liegen, aber Jan Böhmermann ist für mich einer der Moderatoren im deutschen Fernsehen, die das Internet am besten begriffen haben. Immer wieder produziert er für seine Sendung Neo Magazin Royal Clips und Ideen, die bewusst darauf ausgelegt scheinen, nach der Ausstrahlung im sozialen Netz viral zu gehen. Das reicht von Musikideen wie “Pol1z1stens0hn”oder “Be Deutsch” bis hin zu seinem Schmähgedicht gegen den türkischen Präsidenten Erdogan.

Im August 2018 ging dieser Clip um, der ganz deutlich zeigt, auf wessen Schultern Jan Böhmermann damit steht.

Das Video, das sich über den inzwischen legendären “Hutbürger” auf einer Pegida-Demo lustig macht, referenziert eins zu eins eine Aktion, die Stefan Raab in seiner Sendung TV Total 1999 zuerst zum Gesprächsstoff meines damaligen sozialen Netzwerks, des Schulhofs, machte und später sogar auf die Nummer Eins der deutschen Charts katapultierte. In “Maschen-Draht-Zaun” schnippelte sich Raab aus Clips der Sendung Richterin Barbara Salesch, in der eine beleibte sächsische Frau einen Grenzstreit austrug, einen Country-Song zusammen und drückte immer im entscheidenden Moment auf einem Buzzer, um einen der Clips abzuspielen.

Auf der Maxi-Single von “Maschen-Draht-Zaun” (die ich mir damals gekauft habe) gab es eine zusätzliche Strophe, in der nicht nur Maschendrahtzaun und Knallerbsenstrauch eine Rolle spielten, sondern auch diverse andere Fernsehclips die in Raabs Sendung berühmt geworden waren. Von Sonja Zietlow die “Ochsenpimmel” sagt, bis hin zu Fußballer Janusz Góra, der “Skandal!” ruft. Die Clips hatte Raab zuvor in seiner Sendung benutzt, weil sie unter den sogenannten “Nippeln” auf seinem Moderationstisch lagen. Diese “Nippel”, die Raab schon in seinem Vorgängerformat Ma Kuck’n auf Viva eingesetzt hatte, waren von Anfang an Teil des Sendungskonzepts.

Bevor TV Total eine viermal wöchentliche Late Night Talkshow mit Showtreppe und Ankündigungs-Plattform für Raabs größere Unternehmungen wurde, war die Sendung vor allem eine Clipshow. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durchsuchten das Fernsehprogramm der vergangenen Wochen nach Ausschnitten, die komisch, peinlich oder sonst irgendwie bizarr waren, und Raab kommentierte und diskutierte sie in seiner Sendung. Die Figuren aus diesen Ausschnitten wurden so oft genug unfreiwillig zu Stars, etwa der Heizungsmonteur Dieter Bürgy, der in einem Werbespot für eine Reinigermarke mitgespielt hatte, oder eben die schon aufgeführte Regina Zindler, die einen Nachbarschaftsstreit bei Richterin Barbara Salesch schlichten lassen wollte.

Besonders beliebte Clips aus den zahlreichen Reality- und Talkshow-Formaten, die in der Sendung hochgenommen wurden, ließ sich Raab von seinem Produktionsteam auf Knöpfe auf seinem Pult legen (“Videosampler”). Weil sie unabhängig von jeder Sendungsregie eingespielt wurden, konnte er somit jederzeit alles andere unterbrechen und mit Hilfe der Knöpfe das Geschehen spontan kommentieren. Nicht wenige der Knöpfe wurden zu Running Gags, die in unterschiedlichen Kontexten immer wieder hervorgeholt werden konnten. Etwa ein Talkshowgast mit interessanter Frisur, der “Was, wer bist du denn?” sagt, oder auch nur besonders behämmert wirkende Lacher oder Gesichtsentgleisungen.

Schon nach kurzer Zeit begann die Sendung, die Nippelclips nicht mehr nur für sich stehen zu lassen. Sie wurden munter remixt und in neue Kontexte gesetzt. Moderator Ingo Dubinskis Schrittblitzer etwa führte nicht nur zu einem Lied namens “Der Puller von Dubinski”, sondern auch zu einem großen roten Knopf auf Raabs Pult, der, beim Drücken laut losdröhnte und “Puller-Alarm” verkündete. Als Rapper LL Cool J einige Wochen später in der Sendung auftrat, hatte dieser zuvor den “Puller-Alarm” mitbekommen und baute ihn zu Beginn seines Auftritts mit einem lauten Shout ein, was Raab wiederum dazu veranlasste, statt der bisherigen Alarmsirene LL Cool Js Auftritt unter den Knopf zu legen. (Ein Videospiel namens Pulleralarm gab es später auch noch.)

Kurz gesagt: Stefan Raab war ein höchst effektiver Produzent von Memes.

An dieser Stelle kommt in Artikeln wie diesem normalerweise der Verweis auf Richard Dawkins der einst das Mem als kleinste Gedankeneinheit analog zum Gen formulierte, aber ich pfeife auf Dawkins. Kein Mensch versteht unter “Meme” heutzutage mehr das, was Dawkins damals zu beschreiben versuchte. Heutzutage sind Memes vor allem teilbare Bildchen und GIFs, merkwürdige Stock Photos oder kurze Videoausschnitte aus Fernsehsendungen und YouTube-Videos, die eingesetzt werden, um Inhalte in sozialen Netzwerken zu kommentieren. Manche von ihnen sind uralt aber erstaunlich langlebig und stammen noch aus Prä-Web 2.0-Zeiten. Andere generieren sich laufend aus aktuellen Rundfunkübertragungen und verbrennen schnell wieder. Die Variablen “Alter” und “Nachhaltigkeit” lassen sich aber auch austauschen.

Das Entscheidende ist: es sind kurze, aus ihrem Originalkontext entfernte Ausschnitte, die in neue Zusammenhänge gesetzt oder leicht verändert werden, um Aussagen, Geschehnisse oder Zustände zu kommentieren. Meistens, um sich über Ereignisse oder Personen lustig zu machen. Nichts anderes hat Raab damals in TV Total gemacht, daher ist er für mich der (deutsche) König der Proto-Memes.

Heute mutieren besonders beliebte Meme-Inhalte per Autotune auf YouTube zu Musikstücken und werden immer wieder neu remixt und anders verdrahtet. Ähnliche Mechanismen hatte auch “Maschen-Draht-Zaun”, der aus einem ursprünglich einfach nur albernen Grenzstreit und der sächsischen Aussprache einer Fernsehpersönlichkeit zu einem Countrysong mit Hitstatus wurde. Raab regierte eine ganz bestimmte Ecke des Fernsehens bevor es das Internet gab, und insofern schließt sich ein logischer Kreis, wenn Jan Böhmermann, der heute diese gleiche Ecke des Internets regiert, mit seinem Lied seinem Vorbild huldigt.

Ein bisschen Frieden beim Grand Prix

Gestern bin ich zum ersten Mal seit einem gefühlten Jahrhundert wieder Zeuge eines kollektiven Fernseh-Ereignisses geworden. Die Rede ist natürlich vom Finale des Eurovision Song Contest, bei dem die deutsche Teilnehmerin Lena gewann und so zum ersten mal seit 28 Jahren wieder einen ESC-Titel nach Deutschland holte. Die Euphorie, die über diesen Sieg gestern Nacht durch die Gegend und in die Wohnzimmer schwappte, fand ich erstaunlich.

Casting- und Reality-Shows versuchen genau diesen Effekt seit Jahren immer wieder zu erreichen, aber zumindest nach meinem Gefühl haben sie in ihrem x-ten Aufguss in den verschiedenen Formaten enorm an Gewicht verloren. Nicht zuletzt gibt es zu jedem Castingshow-Finale inzwischen eine Aktion, die versucht, einen anderen Titel (meistens einen alten Rock-Klassiker) durch kollektive iTunes-Käufe so zu pushen, dass er dem Castingshow-Titel den Rang abläuft. Die ganze Vorhersehbarkeit des Kommerzes eines Dieter-Bohlen-Kandidaten, dessen Stern so schnell wieder untergeht, wie er an den Himmel gedrückt wird, war bei Lena Meyer-Landrut irgendwie nicht zu spüren.

Vielleicht lag es daran, dass zur Erschaffung des diesjährigen Grand-Prix-Songs für Deutschland die ARD und die Privatsendergruppe ProSiebenSat.1 erstmals zusammengearbeitet haben. In einem Beitrag für epd medien habe ich diesen Schritt im Juli 2009 bejubelt. Raab und ProSieben, so meinte ich damals, haben die Jugendkompetenz, die der ARD fehlt, während die ARD die Infrastruktur hat, um eine möglichst große Reichweite zu garantieren.

Insofern ist es nur logisch folgerichtig, dass mit der Raab-Kooperation der längst geschehenen Aufsplittung der Märkte endlich Rechnung getragen wird, frei nach Jeff Jarvis, der in seinem Buch „What would Google do?“ für die partikularisierte Medienlandschaft im Zeitalter des Internets die Maxime aufgestellt hat: „Cover what you do best, link the rest.“

Es erfüllt mich mit einer gewissen Genugtuung, jetzt “I told you so” sagen zu können. Mit “Ein bisschen Frieden” hat Deutschland das letzte Mal gewonnen, mit ein bisschen Frieden zwischen den Senderfronten hat Deutschland auch dieses Mal gewonnen, selbst wenn “Satellite” nicht den ersten Platz geholt hätte, denn Raab, die ARD und nicht zuletzt Lena haben Deutschlands Fernsehzuschauer auf erfreuliche Weise geeint. Insofern halte ich es auch für einen guten Schritt, dass in diesem Jahr erstmal die Fußballweltmeisterschaft sowohl auf öffentlich-rechtlichen als auch auf privaten Sendern gezeigt wird.

Ich finde, wir brauchen noch mehr von solchen solidarischen Aktionen, die das ewige Gezänk um Gebührenmilliarden und “Was ist gutes Fernsehen” ein bisschen nivellieren. Es ist nunmal eine Tatsache, dass sich die Gesellschaft immer mehr in Partikularinteressen aufsplittet. Wer dem Rechnung tragen will und trotzdem möglichst viele Menschen ansprechen will, sollte nicht versuchen, alles alleine zu schaffen, sondern dem vermeintlichen Gegner die Hand reichen und Stärken kombinieren. Vielleicht reicht es so auch bei der WM in Südafrika wieder für freudig in Luft dreschende Fäuste quer durch die Republik, wenn Deutschland wichtige Punkte holt.