Wie Magic: The Gathering den Transmedia-Code knackte

Diesen Talk durfte ich auf der re:publica 2019 halten, die das Motto “tl; dr” hatte. Dies sind meine Vortragsnotizen. Das gesprochene Wort im Video weicht leicht davon ab. Meine Präsentation ist ebenfalls online. Auf der Seite der re:publica kann man den Programmtext lesen.

Ich möchte mit einer Frage beginnen. Kennt jemand diesen freundlichen jungen Mann? Das ist der Italiener Andrea Mengucci.

Andrea spielt professionell das Kartenspiel “Magic: The Gathering”, hat im März das erste große “Mythic Invitational”-Turnier gewonnen und ein Preisgeld von 250,000 Dollar eingesackt – zusätzlich zu den 75,000 Dollar Jahresgehalt, die er als Spieler der “Magic Pro League” erhält.

Und wie sieht’s mit dieser sympathischen Figur aus?

Das bin ich, im Jahr 1997. Und damals war ich wahrscheinlich ähnlich besessen von Magic wie Andrea heute.

Dieses Spiel – Magic: The Gathering – ist wirklich schon so alt, dass es Andrea und mich verbindet.

Es wurde 1993 von dem Mathematiker Richard Garfield erfunden, der diese Idee hatte, dass ein Spiel “bigger than the box” sein könnte. Magic ist eben nicht nur ein Kartenspiel, es ist ein Sammelkartenspiel.

Man kauft die Karten in zufällig sortierten Packungen und konstruiert sich aus den Karten, die man erhält, sein eigenes Kartenspiel, mit dem man gegen andere antritt, die das gleiche getan haben.

Ein Vorteil dieses Systems ist, dass man das Spiel stetig erweitern kann. In den jetzt 26 Jahren, die es besteht, sind für Magic 81 reguläre Erweiterungen erschienen, plus dutzende weitere Sets und Editionen, im Moment erscheinen rund vier reguläre neue Erweiterungen pro Jahr, die jüngste, “War of the Spark”, an diesem Wochenende.

Es gibt über 20.000 unterschiedliche Karten inzwischen

Inzwischen ist Magic auch ein recht beliebter E-Sport. Andrea Mengucci und seine Kollegen spielen einen großen Teil seiner Spiele auf der Plattform “Magic Arena”. Das Spiel hat viele Fans weltweit, 2015 waren es wohl etwa 20 Millionen, aber ein Mainstream-Phänomen ist es trotzdem nicht – es bleibt ein nischiges Nerdhobby.

Ich habe Magic nach dem Abi 2001 für lange Zeit ziemlich aus den Augen verloren, aber vor zwei Jahren habe ich ein neues Hobby gesucht – und obwohl ich erst zaghaft wieder angefangen habe, hat das Spiel sehr schnell einen Sog entwickelt und jetzt ist es schon wieder kein Hobby mehr, denn ich stehe ja hier und halte einen Vortrag darüber.

Was mich nämlich als Medienwissenschaftler und Kommunikationsmensch überrascht hat, als ich wieder angefangen habe, und mich eingelesen hatte ist, wie gut Magic in Transmedia Storytelling geworden ist.

Der Begriff ist relativ selbsterklärend, aber hier noch mal die Definition von seinem größten Propheten Henry Jenkins:

“Transmedia storytelling bezeichnet einen Prozess, in dem integrale Elemente einer Fiktion systematisch über mehrere Ausspielkanäle verteilt werden, mit dem Ziel, ein einheitliches und abgestimmtes Unterhaltungserlebnis zu erschaffen. Idealerweise trägt dabei jedes Medium etwas Einzigartiges zur Entfaltung der Geschichte bei.”

Henry Jenkins

Das ist sozusagen eine Idealdefinition, relativ eng gefasst. Jenkins hat sie selbst mehrfach aufgebrochen und sieht sie keinesfalls als dogmatisch.

Prominenteste Beispiele für Transmedia Storytelling finden sich heute vermutlich in den großen Fantastik-Franchises wie dem Marvel Cinematic Universe, das über Kinofilme, Fernsehserien und Comics hinweg erzählt wird oder Star Wars – dort gibt es Kinofilme, Comics, Romane und Videospiele.

Transmedia Storytelling galt mal eine Weile so als der Heilige Gral modernen Geschichtenerzählens, weil es wirklich cool ist, wenn es funktioniert, aber in seiner puren Form auch wirklich schwierig gut zu machen ist.

Ich will also, dass über mehrere Medien hinweg eine Geschichte erzählt wird. Das heißt auch: Ich will diejenigen belohnen, die sich die Mühe machen, alle Teile dieser Geschichte über die verschiedenen Medien hinweg zu verfolgen. Die sollen einen Mehrwert davon haben, ein umfassenderes Bild, vielleicht einen Blick auf die Dinge, der anderen fehlt.

Aber ich will auch diejenigen mitnehmen, die sagen TL; DR – ich habe keine Lust, eine Geschichte über mehrere verschiedene Formate hinweg zu verfolgen und zum Beispiel das Ende nur zu erfahren, wenn ich nach meinem Kinobesuch noch ein Buch lese. Die sind nämlich das Gros, und die bringen im Zweifelsfall auch das Geld.

Am besten sollte es auch noch egal sein, wo ich anfange. Also es sollte keine festgelegte Reihenfolge geben, in der ich die Medien konsumieren MUSS und wenn ich als weniger investierter Konsument anfange, sollte ich die Möglichkeit haben später nachzurüsten sozusagen. Jenkins spricht von “rabbit holes”, von Kaninchenlöchern, die überall verteilt sind und wo man halt gucken kann, wie tief man hineinkriecht.

Und trotz all dieser Einschränkungen, sollte eben trotzdem ein einheitliches Bild entstehen, keine Widersprüche usw. – nicht zu viel Wildwuchs.

Wie schwierig das ist, kann ich mal kurz an den beiden Beispielen zeigen, die ich eben genannt habe. Im Marvel Cinematic Universe war die Serie Agents of S.H.I.E.L.D. anfangs relativ eng an die Kontinuität der Kinofilme angedockt.

Als in Captain America: Winter Soldier plötzlich enthüllt wird (SPOILER), das SHIELD von der bösen Organisation HYDRA unterwandert worden ist, war es tatsächlich so, dass zur gleichen Zeit als der Film ins Kino kam, die gleiche Plotwendung auch in der Serie ausgefochten wurde.

Das war aber sozusagen plotlogistisch gleichzeitig so komplex und anscheinend im Payoff trotzdem irgendwie nicht krass genug, dass es das letzte Mal war, dass die beiden Medien so eng zusammenarbeiten. Inzwischen existieren die Marvel-Kinofilme und die Marvel-Serien zwar immer noch nominell im gleichen Universum, was man vor allem daran sieht, dass gelegentlich Charaktere aus dem einen im anderen auftauchen, aber davon abgesehen erzählen sie eigentlich separate Geschichten.

Bei Star Wars ist es noch krasser. Hier wurde über drei Jahrzehnte ein sogenanntes “Expanded Universe” aus hunderten Büchern und Comics aufgebaut, in denen sich diverse Autoren über sehr lange fiktive Zeiträume auch austobten, aber als die neuen Kinofilme vor ein paar Jahren in den Startlöchern standen, entschied man sich bei der Produktionsfirma Lucasfilm, alles bisher Erschienene mit Ausnahme der Filme aus dem Kanon zu streichen und zu “Legenden” zu machen. Es wäre einfach zu komplex gewesen, und hätte den neuen Filmen keinen Raum mehr zum Atmen gelassen.

Dafür ist Star Wars jetzt aber ebenfalls ein ziemlicher Transmedia-König – die verschiedenen TV-Serien, Comics, Romane und natürlich die Filme sind eng aneinander angebunden und bieten eigentlich genau das, was Jenkins definiert.

Star Wars brauchte dafür aber diese Tabula Rasa, als 2015 die neuen Filme kamen. Magic hingegen, beziehungsweise das Unternehmen Wizards of the Coast, das das Spiel herstellt, hat über 25 Jahre immer wieder aufs Neue probiert, sein Transmedia Storytelling auf die Reihe zu kriegen.

Mark Rosewater, der seit vielen Jahren der Head Designer von Magic ist, betont immer wieder, wie wichtig Iteration für den Designprozess ist. Und das finde ich das Faszinierende daran. Wir können uns heute im Rückblick diesen iterativen Prozess anschauen und nachvollziehen, was sie versucht haben, wo sie gescheitert sind und was sie gelernt haben – bis sie heute, wie ich finde, an einem Punkt angekommen sind, wo es wirklich gut funktioniert.

Fangen wir mal damit an, wie man bei einem Kartenspiel überhaupt dazu kommt, eine Geschichte zu erzählen.

Als Magic entstand, hatte es eigentlich gar keine Geschichte, es hatte nur diese Spielidee von sich duellierenden Magiern, was aber ja eigentlich auch nur ein stimmungsvoller Anstrich für ein Regelkonzept ist. Aber es war auch nicht total generisch.

Also wenn wir uns eine typische Karte aus der Zeit anschauen – die hätte ja auch einfach nur “Elves” heißen können, aber es sind eben Llanowar Elves, offenbar eine sehr kriegerische Elfenart, das zeigt auch das Bild und dieser sogenannte “Flavor Text” in kursiv, der keine Regelbedeutung hat.

Solche Andeutungen von einer größeren Welt hinter den Karten gab es auf vielen Karten und irgendwann hat sich dann auch mal jemand hingesetzt und diese Andeutungen zu einer Welt und auch einer groben Geschichte zusammengesetzt.

Also es gab die Karten “Ankh of Mishra” und “Glasses of Urza”.

Und als die Erweiterung “Antiquities” designt wurde, entschieden die Designer das Urza und Mishra Brüder waren, die gegeneinander Krieg führten – und deuteten das dann wiederum im Flavor Text an.

Gleichzeitig hatte Magic, dieses neue Spielprinzip, aber auch kurzzeitig so etwas wie Mainstream-Erfolg und Wizards lizensierte die Magic-Marke an Verlage, die Bücher und Comics herausgaben. Die Autoren dachten sich aber wiederum eigene Geschichten aus, die höchstens mal einzelne Karten referenzierten. Ein Buch über den Krieg zwischen Urza und Mishra gab es zum Beispiel nicht.

Also: Transmedia Storytelling, Fehlanzeige

Die zweite Iteration beginnt Ende der 90er. Hier wurde parallel zum Set “Visions” eine Reihe von Charakteren eingeführt, die Besatzung eines fliegenden Schiffs namens “Weatherlight”, das fortan Abenteuer in Magics Multiversum erleben sollte.

Gleichzeitig wurde die Buchproduktion von Wizards of the Coast ins Haus zurückgeholt, und ab 1999 erschienen die Romane – geschrieben von freien Autoren – begleitend zu den Sets. Zum Teil sogar nachträglich – und es gab endlich einen Roman zum “Brother’s War”.

Allerdings waren die Produktionszyklen von Romanen und Karten so unterschiedlich und weiterhin so wenig aufeinander abgestimmt, dass sich irgendwie kein einheitliches Gefühl einstellen wollte.

Der damalige Kreativchef Brady Dommermuth fasste das mal so zusammen:

“Allgemein liefern die Karten die Welt, in der die Romane spielen, und die Romane liefern manchmal Charaktere, die auf Karten zu sehen sind. Aber Karten führen auch eigene Charaktere ein, die nicht in den Romanen auftauchen. Kurz gesagt arbeiten das Magic Kreativteam und die Romanautor*innen größtenteils parallel und informieren einander so viel wie möglich.”

“Wir informieren uns so gut es geht.” Klingt von einem Transmedia-Standpunkt eher nach “Er hat sich stets bemüht.” Und so sind wohl auch die meisten Romane aus dieser Zeit. Für Fans, die sich wirklich für die Geschichte interessieren, ist die Tatsache, dass das irgendwie nicht zusammen passt, ein endloser Grund für Frust.

Für die anderen ist es aber auch nicht besser: Die Charaktere tauchten ständig auf den Karten, in Bildern und Flavor Text auf, aber da man ja diese Karten zufällig bekommt und nicht in irgendeiner Art chronologisch spielt, muss man schon sehr stark auf die Suche gehen, um irgendwie einen Eindruck davon zu bekommen, was die Geschichte sein soll, die hier erzählt wird.

Dieses Parallelsystem war trotzdem ziemlich lange der Status Quo. Irgendwann aber hatte der eben schon erwähnte Brady Dommermuth die Idee, die im Endeffekt zur dritten Iteration führte: Was wir brauchen sind Figuren, die ein bisschen außerhalb des Spiels stehen, mit denen sich die Spieler identifizieren können.

Deswegen gab es 2007 erstmals sogenannte Planeswalker, ein völlig neuer Kartentyp mit Charakteren, die die Macht haben, zwischen den verschiedenen Welten, auf denen Magic spielt, hin und her zu wandern. Im Endeffekt wie die Spieler.

Doch obwohl es plötzlich diese durchaus auch populären Charaktere gab, gelang es Wizards einfach nicht, die Spieler für die parallel produzierten “Planeswalker Novels” zu begeistern, auch nicht für die Ebooks, die man dann stattdessen versuchte zu produzieren.

Deswegen versuchte man es schließlich 2015 noch einmal mit so einer Art Neustart und einer neuen Distributionsstrategie.

Man kombinierte ein Team aus beliebten jungen Planeswalkern, die bereits in den bisherigen Sets aufgetaucht waren, mit Kurzgeschichten, keinen ganzen Romanen, die In-House von Mitgliedern des Creative Teams geschrieben wurden.

Und diese Geschichten wurden kostenlos auf der Magic Website veröffentlicht. Und plötzlich wurden sie besser gelesen als je zuvor.

Auf den Karten wurden wiederum wurden nur noch wenige Schlüsselmomente aus den Geschichten abgebildet, die als “Story Spotlights” mit einem Symbol markiert sind. Unten rechts in der Ecke steht die URL mtgstory.com – auf dieser Website finden sich dann die Kurzgeschichten. Die restlichen Karten im Set schmücken wie bisher die Welt aus.

Diese Mischung schien endlich zu funktionieren.

  • Die Spieler kennen ihre Charaktere, weil sie mit ihnen spielten.
  • Wichtige Momente finden sich auf den Karten wieder und nicht so stark in die Story investierte Spieler bekommen dennoch einen groben Eindruck
  • Wer mehr erfahren will, kann niedrigschwellig und kostenlos im Internet genau erfahren, wie die Geschichte weitergeht
  • Weil der Geschichtsprozess Teil des Kartendesignprozesses ist, gehen die beiden Welten endlich Hand in Hand. Inzwischen funktioniert es sogar wieder mit externen Autoren ganz gut

Aber das beste ist – das hätte ich mir nicht mal träumen lassen können, als ich diesen Talk eingereicht habe – dass sich diese Iteration dieses Jahr so richtig auszahlt. Das aktuelle Set nämlich, das gerade erst dieses Wochenende erschienen ist, erzählt fast ausschließlich Geschichte – was nur mit dem momentanen Modell möglich ist.

“War of the Spark” ist jetzt dieses Wochenende erschienen und bildet den Abschluss eines zweijährigen Plotbogens. Eine Art Avengers: Infinity War” von Magic. Alle Planeswalker treffen sich auf einer Welt und kämpfen gegeneinander und gegen einen Oberbösewicht, den fiesen Drachenplaneswalker Nicol Bolas.

Anders als in anderen Sets steht hier nicht irgendeine spannende Welt im Hintergrund, die bestimmte EIgenschaften hat, sondern wirklich die Geschichte und die Figuren, die über Jahre etabliert wurden. Die Designer selbst nennen es ein “Event Set”.

Die Karten wurden in Story-Reihenfolge enthüllt. Die Story-Spotlights haben Akte. Und plötzlich solche Kommentare:

Zusätzlich zu den kostenlosen Geschichten gibt es auch wieder einen Roman, der kräftig beworben wird. Sie versuchen es also noch einmal, aber diesmal könnte es funktionieren, weil sich die Spieler tatsächlich für die Geschichte interessieren!

Das zeigt sich unter anderem daran, dass sogar einige professionelle Spieler – leider nicht Andrea Mengucci, das wäre ein zu schöner geschlossener Kreis gewesen, aber immerhin zum Beispiel Jon Finkel, einer der dekoriertesten Spieler aller Zeiten, die sich für’s gewinnen sonst natürlich nie für die Story interessieren, haben gesagt: Jetzt möchten sie doch mehr wissen.

Natürlich sind nicht alle zufrieden. Es gibt auch immer noch genug zu kritisieren. Das Buch zum Beispiel hat viel Plot und wenig Tiefe. Aber insgesamt kann das Ganze schon als Erfolg gewertet werden. Mit den Karten zu spielen fühlt sich wirklich an, als würde man Geschichte erleben.

Hätte man an diesem Punkt auch sofort mit Konzeption des Spiels angelangen können? Wahrscheinlich nicht, einfach weil die Medienlandschaft 1993, und selbst 2005 noch so anders aussah als heute.

Mal ganz abgesehen davon, dass es noch kein Internet gab. Auch genau diese Herangehensweise an Lizensierung aus den frühesten Iterationen war typisch für diese Zeit. Erst in den letzten Jahren ist es üblich geworden, so enge kreative Kontrolle auszuüben, weil man gemerkt hat, dass man so seinen Kunden ein einheitlicheres Erlebnis bieten kann – was sich nicht nur kreativ, sondern auch in Sachen Markenbindung und damit in ausgegebenem Geld auszahlt.

Das coole ist eben, dass man bei Magic diese Entwicklung so schön beobachten kann. Man beginnt mit Karten, die Hinweise auf eine größere Geschichte geben und damit ein Potenzial für Transmedia Storytelling sichtbar machen.

Dann probiert das Spiel in einer ersten Iteration ein Lizensierungsmodell, stellt aber fest, dass das nicht gut funktioniert.

Also holt man die Buchproduktion, jetzt mal repräsentativ für die tiefere Geschichte, ins Haus.

Dann wendet man sich wieder den Karten zu, und versucht, zusätzlich mehr Geschichte auf den Karten zu erzählen (tl;dr). Aber das funktioniert auch nicht. Was man braucht sind ANDERE Karten, die CHARAKTERE verkörpern.

Das funktioniert sehr gut bei den Karten, aber nun werden die Probleme des Romanformats noch deutlicher.

Deswegen löst kostenlose Webfiction sie ab.

Und weil da so gut funktioniert, kann man sich wieder dem Potenzial von “Geschichte auf den Karten” zuwenden und entwickelt die “Story Spotlights”.

Jetzt endlich ist alles verbunden. Charaktere, Geschichten und Karten passen zusammen

Und geben sogar die Sicherheit, in einem “Event Set” wieder zusätzlich einem Roman eine Chance zu geben.

Aber damit das möglich war, und sich das volle Potenzial entfalten konnte, das sich am Anfang nur erahnen ließ, brauchte es eben jede Menge Zwischenschritte, es brauchte regelmäßiges Scheitern, und den Willen, immer wieder neue Varianten zu versuchen.

Mit die wichtigste Ressource für die Entstehung dieses Talks waren die Artikel (1, 2, 3) “A Brief History of Magic Publishing” von Sam Keeper und eine Folge des “Vorthos Cast”.

LARP als Transmedia Storytelling

Aus den Aufzeichnungen eines Traumatisierten

Mit meinem Faible für Fantasy und Science-Fiction in Film- und Buchform, dürfte es vermutlich die wenigsten Leser verwundern, dass ich auch dem Rollenspiel und auch dem Live-Rollenspiel (LARP – Live Action Role Playing) nicht abgeneigt bin. Ich bin alles andere als ein Hardcore-Larper, aber ich spiele konstant im Schnitt null- bis zweimal pro Jahr seit ich ungefähr 16 bin. Manchmal auf “traditionellen” Fantasy-Larps mit 50 bis 100 Teilnehmenden, meistens aber auf kleinen, speziell gestalteten Events in dem Freundeskreis, mit dem ich seit Jahren spiele.

In der Regel bin ich nur Spieler, aber in diesem Jahr habe ich nach längerer Zeit mal wieder eine Spiel-Leitung übernommen, die mich in den vergangenen Wochen jede Menge Zeit und Nerven gekostet hat. Irgendwann ist mir aufgegangen, dass sich in einem LARP viele Aspekte wiederfinden, die ich unter dem aktuellen Buzzword “Transmedia Storytelling” schon öfter hier im Blog gestreift habe, weil sie mich sehr interessieren – und die auch in der Filmwelt immer wichtiger werden. Ich dachte mir, es könnte von Interesse sein, ein paar meiner Erkenntnisse hier zu dokumentieren.

Unser LARP

Wer noch nie auf einem LARP war, sich aber für den Rest des Artikels interessiert, für den könnte es sich lohnen, vorher eine Einführung zu lesen. Wer so viel Zeit nicht hat, dem sei gesagt, dass LARP eine Art Mischung aus Schnitzeljagd und Improtheater ist, bei dem die Spieler in Rollen schlüpfen und gemeinsam eine Geschichte erzählen.

Mein Freundeskreis hat sich auf One-Shot-LARPs spezialisiert, bei denen zehn bis 20 Spielende und in der Regel drei Spielleitende (SLs) für ein Wochenende zusammenkommen. Die Charaktere werden – basierend auf groben Persönlichkeitswünschen der Spielenden – von der SL gestaltet. Das Spiel selbst ist in der Regel stark narrativ, wenig kampflastig und kommt mit minimalen Regeln aus.

Vor dem diesjährigen Event stand der Wunsch, ein LARP vor dem Hintergrund des kalten Krieges und der Atombomben-Angst der 80er Jahre zu machen. Die 80er sind lang genug her, dass sich die meisten von uns nur noch vage daran erinnern können, sie lassen sich aber durch ihre hinterlassene Popkultur und die diversen Revivals gut zuspitzen und bieten genug technologische Einschränkungen, um die für ein LARP so wichtige Isolation der Spieler herzustellen.

Der Plot

Das hier ist der Plot des LARPs, wie wir SLs ihn vor dem Spiel konzipiert hatten:

Seit sieben Jahrhunderten schon beobachtet eine Alien-Rasse die Erde als möglichen Planeten für eine Invasion und anschließende Besiedelung. Sie warten auf den richtigen Zeitpunkt, an dem die Atmosphäre und die aufgebaute Infrastruktur ein Leben auf der Erde sinnvoll erscheinen lässt. Dafür haben die Aliens im bayerischen Odenwald einen Signalsender versteckt, allerdings muss dieser in regelmäßigen Abständen händisch gewartet werden. Die Besuche der Aliens zur Wartung des Senders wurden im 14. Jahrhundert als Heiligenerscheinungen gedeutet und haben das Waldstück zu einem nicht offiziell anerkannten Pilgerort gemacht – doch jeder, der sich der Strahlung zu lange aussetzt, wird erst verrückt und stirbt dann einen grausamen Tod. Mit Beginn des Atomzeitalters wurde die besondere Strahlensignatur des Senders auch in anderen Kontexten wahrgenommen. Die Nazis hatten dort, wo heute eine Pilgerherberge ist, eine Forschungsstation – deren Mitglieder sich jedoch irgendwann gegenseitig zerfleischten. In den 1960ern hatte der Luft- und Raumfahrtkonzern Rockwell-Collins eine Expedition vor Ort, die jedoch ähnlich tragisch endete. Im Herbst 1982, die Wartung steht unmittelbar bevor, treffen in der Pilgerherberge drei Wissenschaftler, drei Esoterik/Ufologie-Autorinnen und drei Rockwell-Collins-Leute sowohl auf den einzigen Überlebenden der Expedition aus den 60ern, als auch auf die Alien-Bedrohung selbst. Können sie den Sender rechtzeitig deaktivieren, bevor die Erde der Alien-Invasion zum Opfer fällt?

Unnötig zu sagen, wahrscheinlich, dass die Spieler die Aufgabe natürlich gemeistert haben – auch wenn sie, wie üblich, vorher diverse Abwege beschreiten mussten. Die Invasion der Erde jedenfalls wurde verhindert.

Wie aber funktioniert das Ganze als immersives Transmedia Storytelling? Wenn man mal an das Transmedia Manifest denkt, möchte ich zwei Aspekte herausheben: Die unterschiedlichen Zugänge zur Geschichte und die tatsächliche Transmedialität, das heißt das Arbeiten mit verschiedenen Medien, um die Geschichte zu erzählen.

(Wer sich nicht so stark für die Details und eher für die allgemeine These interessiert, kann direkt zur Überschrift “Conclusio” springen.)

Rabbit Holes

Da wir die Charaktere vorkonzipiert hatten und es eine umfangreiche und vielschichtige Vorgeschichte an Ereignissen gab, die auf die geplanten Ereignisse des eigentlichen Spielwochenendes zuliefen, war es uns möglich, für neun verschiedene Spieler neun verschiedene Eintrittspunkte in den Plot zu schaffen – meiner Ansicht nach bei regulären LARPs, wo die Spieler ihre Charaktere mitbringen, häufig einer der holprigsten Punkte in Sachen narrativer Stringenz. Um alles etwas zu vereinfachen und den Spielern etwas Sicherheit für den Einstieg zu geben (wir hatten auch mehrere Erstspieler in der Gruppe), fassten wir die Spieler zu drei Gruppen zusammen:

Die Spiritistinnen – drei Spielerinnen verkörperten New-Age-Autorinnen unterschiedlichster Prägung, die von ihrem Verlag zusammengebracht wurden, um als eine Art “Dream Team” der New-Age-Literatur probeweise ein bestimmtes Phänomen zu untersuchen. Sie reisen also mit dem Ziel an, ihre bisher vertretenen Theorien an einer neuen Stelle zu testen, müssen sowohl zusammenarbeiten, als auch sich voneinander abgrenzen. Wir entschieden, dass in unserem Story-Universum Geister tatsächlich existieren, so dass die drei auch etwas zu tun bekommen würden.

Die Wissenschaftler – drei Spieler wurden zu Wissenschaftlern der Uni Frankfurt. Einer von ihnen ist Astronom mit Neigung zur Astrologie, der die anderen beiden mitgeschleift hat, die ihm wiederum aus unterschiedlichen Motivationen folgen. Sie wollen die Strahlungsdaten des Ortes mit wissenschaftlichen Methoden untersuchen. (Die typische Geschlechterverteilung Wissenschaftler – Autorinnen ist übrigens nicht unseren Berufsklischees geschuldet, sondern den uns bekannten thematischen Vorlieben der Spielenden.)

Der Konzern – Zwei Spielerinnen und ein Spieler spielen Mitarbeiter der gehemeien Rüstungsabteilung des Luft- und Raumfahrtkonzerns Rockwell Collins, die als Wandergruppe getarnt herausfinden sollen, ob es ein natürliches Uranvorkommen vor Ort gibt. Sie wissen als einzigeBbescheid, dass es schon einmal eine Exkursion gab und dass diese gescheitert ist.

Für alle drei Gruppen gibt es also unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel. Jede Gruppe bringt ein eigenes skill set mit – und nur in der Kombination aller Fertigkeiten lässt sich das Rätsel im Kern des Plots – Was ist der Signalsender? Wo ist der Signalsender? Wie schalten wir ihn ab? – optimal vorantreiben. Fantasy-LARPs sind häufig ähnlich strukturiert, fassen die Gruppen aber gröber: die Kämpfer müssen Feinde besiegen, die Magier ein Ritual abhalten etc. Für uns war es essenziell, dass jeder Spieler eine Möglichkeit haben sollte, seinen spezifischen Hintergrund, sein durchquertes Kaninchenloch, auszuspielen. Die Spiritistinnen mussten einen Geist beschwören, die Wissenschaftler mit vereinten Kräften ein Gerät bauen, dass sie zu einem Hinweis führte und die Konzernmitarbeiter mussten die Interessen ihres Arbeitgebers wahren und nicht entdeckt werden (was ihnen auch gelang).

Kein Methlab, sondern Zutaten zum Herstellen von “Batteriesäure”

Quer durch die Medien

Ein großer Vorteil des 80er-Jahre-Settings in der Konzeption war für uns, dass wir von vornherein wussten, dass wir mit vielen verschiedenen Medien würden arbeiten können und nicht nur – wie sonst häufig der Fall – mit Textdokumenten. Am Ende reichte leider die Zeit nicht, um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, aber auch so konnten wir einiges ausprobieren.

So habe ich beispielsweise für den ersten Abend eine einstündige Radiosendung konzipiert, die die Spieler in das Story-Universum möglichst effektiv einführen sollte. Es fällt schließlich nicht immer ganz leicht, sich vorzustellen, dass man 1982 spielt, wenn man bis vor wenigen Stunden noch 2013 gelebt hat. Die Radiosendung bestand aus einem Nachrichtenblock und einem 50-minütigen Musikprogramm, in dem immer wieder ein DJ dazwischenquatscht. Die Nachrichten waren nicht die echten Nachrichten aus dem Oktober 1982, ich hatte sie vielmehr ungefähr so formuliert, dass sie die bisherigen Ereignisse des Jahres (Falkland-Krieg, Koalitionsbruch etc.) einigermaßen zusammenfassten, um die Spieler zu erinnern, was alles so passiert ist. Die Musik setzte natürlich stark auf die Musik der Zeit. Eingesprochen wurde mir das ganze freundlicherweise von meinem ehemaligen Podcast-Gast Aileen Pinkert und ihrem Kollegen Sebastian Brandt, die Bürgerradio in Thüringen machen.

Am morgen des zweiten Tages ist das Radio auf eine Dauerschleife gesprungen, die immer wieder die gleiche Nachricht wiederholt: eine Atombombe ist in Deutschland explodiert. In Wirklichkeit ist diese Nachricht von den Aliens synthetisiert woden. Sie wollen, dass die Menschen ängstlich in ihren Häusern bleiben. Daher sind jede Menge inhaltliche Fehler im Text.

[gigya src=”https://s3.amazonaws.com/boos.audioboo.fm/swf/fullsize_player.swf” flashvars=”mp3=https%3A%2F%2Faudioboo.fm%2Fboos%2F1689684-radiodurchsage-larp-medium.mp3%3Fsource%3Dwordpress&mp3Author=alexmatzkeit&mp3LinkURL=https%3A%2F%2Faudioboo.fm%2Fboos%2F1689684-radiodurchsage-larp-medium&mp3Time=09.12am+28+Oct+2013&mp3Title=Radiodurchsage+%28LARP-Medium%29″ width=”400″ height=”160″ allowFullScreen=”true” wmode=”transparent”]
Auch das Medium Video kam zum Einsatz. Bei einer Begehung des Geländes, während der wir die Schnitzeljagdpunkte für die Suche nach dem Signalsender festlegten, ließ ich fleißig das iPhone mitlaufen und baute daraus zu Hause einen kurzen Film mit jeder Menge (vielleicht zu viel?) Verfremdungseffekten und einem Soundteppich. Das Video wurde in der ersten Nacht des Spiels als Traum eingesetzt und sollte bei den Spielern allgemein ein ungutes Gefühl über die Präsenz an diesem Ort hervorrufen.

Schließlich gab es noch eine Menge textbasierte Dokumente, die die Spieler im Laufe des Spiels finden, und aus denen sie sich die Hintergrundgeschichte zusammenpuzzlen können. Dazu gehörten das Tagebuch des Traumatisierten von 1961 (eine sehr typische LARP-Dokumentform), aber auch ein Dossier mit Unterlagen aus dem Firmenarchiv von Rockwell-Collins, eine Broschüre zur Pilgerherberge, Geheimdienst-Communiqués, vor dem Haus aufgehängte Pilger-Plaketten, Zeilen aus den Gedichten eines örtlichen Heimatdichters und eine Kurzgeschichte zur Traumabewältigung, die der Traumatisierte im Auftrag einer Psychologin geschrieben hatte. Alle Texte verwiesen sowohl auf konkret für den Plot wichtige Fakten, strickten aber auch diverse weitere Infos und Querverweise mit ein, die wenig direkte Relevanz hatten, aber die gesamte Tragweite des Storyuniversums andeuteten.

Wir hatten uns selten zuvor einen solchen Aufwand mit dem gemacht, was wir – übertragen aus dem Tischrollenspiel-Jargon – intern “Handouts” nennen: also Storyinformationen nicht in Form von Begegnungen mit Charakteren oder Ereignissen sondern in verschiedenen Medien aufbereitete “Texte”. Der Grund ist, dass es ziemlich aufwändig ist, all diese Texte zu konzipieren und zu schreiben. Das Ergebnis aber, bei meiner Vorliebe für Operationale Ästhetik sowieso, ist so dankbar und irgendwie abgefahren, dass sich der Aufwand im Nachhinein auf jeden Fall gelohnt hat.

Conclusio: Was fehlt?

Wenn man sich die Thesen des Transmedia-Manifests anschaut, sieht man, dass ein gut gemachtes LARP fast alle davon erfüllt. Interaktivität, unterschiedliche Zugänge, Erweiterbarkeit und Locationbasiertheit sind alle vorhanden. Da es in Deutschland eine dichte und lebendige LARP-Kultur gibt, könnte man also auch guten Gewissens behaupten, dass dort ein großes ungenutztes Potenzial an Transmedia-Storytellern darauf wartet, angezapft zu werden.

Was allerdings fehlt, ist der Zugang für Außenstehende. Es gibt keine Haupterzählung, die sich in lean back-Haltung konsumieren lässt und dennoch Unterhaltung bietet. LARP bedeutet in der Regel: Wer Teil des Ganzen sein will, muss miterzählen, Teil des Spiels werden.

Dass das jedoch kein absoluter Imperativ ist, haben bisherige Projekte bewiesen. ARTE etwa ließ das Ende eines Films per LARP improvisieren. Aber es wäre auch denkbar, dass LARPs fester und regelmäßiger Bestandteil eines Transmedia-Gesamtkonstrukts werden, in dem die Handlungen der Spieler sogar indirekte Auswirkungen auf die Fortsetzung einer Haupterzählung haben – ein ähnliches Prinzip, wie es im Endeffekt bei MMORPGs wie “World of Warcraft” der Fall ist.

LARP ist Transmedia-Storytelling in Reinform. Jetzt muss es nur noch genutzt werden.

Fernsehtipp: SOKO-Crossover “Der Prozess”

© ZDF/Uwe Frauendorf

Es muss schon eine ganze Menge passieren, um mich dazu zu bringen, mal wieder reguläres Fernsehen zu gucken. Aber als ich vor ein paar Monaten in meinem Haussender ZDF (für den ich als Redakteur arbeite) von einem Kollegen erfahren habe, dass es im Herbst eine Crossover-Woche der fünf SOKO-Reihen geben würde, war ich sofort Feuer und Flamme. Dass ich Fan von Shared Universes bin, ist eins der Hauptthemen dieses Blogs, und natürlich freue ich mich zusätzlich darüber, dass hier auch insofern etwas für die deutsche Serienlandschaft Ungewöhnliches passiert, weil tatsächlich mal ein Serienplot über mehrere Folgen hinweg getragen wird, während dennoch jede SOKO ihren eigenen Fall zu bearbeiten hat.

Einen ersten Eindruck des Ergebnisses konnte ich mir über einen Trailer bereits verschaffen und ich muss sagen, dass ich handwerklich sehr beeindruckt bin. Natürlich werden die üblichen Knöpfe des Vorabend-Krimigenres (“routinierte Fließbandproduktion – Werberahmenprogramm halt” –TV Spielfilm) gedrückt – SOKO ist nunmal nicht The Wire – aber die Verzahnung der einzelnen Stories funktioniert hervorragend und die Spannung der Fall-Schnitzeljagd durch Deutschland wird von SOKO zu SOKO erfolgreich aufrechterhalten. Und da die einzelnen Teams bevorzugt per Videochat miteinander kommunizieren, ist auch der Vernetztungs-Idealist in mir zufrieden.

Von der transmedialen Umspielung des Crossovers im Netz will ich an dieser Stelle noch gar nicht zu viel berichten. Aber mir wurde vor kurzem ein Link zu diesem Tumblr geschickt.

Für ein solches Projekt muss man loslassen können und sich gegenseitig informieren – was bedeutete, dass jeden Tag mindestens 25 Mails an einen Verteiler mit 30 Leuten versendet wurde, auf die mindestens fünf Antworten folgten. […] Summa summarum: fünf SOKOs, acht Tote, vier Autoren, fünf Regisseure, vier Produktionsfirmen mit fünf Produzenten, acht Redakteure für einen Fall in 5 x 43-einhalb Minuten

schreiben die Redakteure in der Einleitung des Pressehefts. Ich würde auf jeden Fall empfehlen, sich das mal anzugucken! Und weil ich das ganze sehr faszinierend finde und ja quasi direkt an der Quelle sitze, will ich auch versuchen, für “Real Virtuality” noch mit einigen Menschen hinter den Kulissen Interviews zu führen. Mal sehen ob das klappt.

Das große SOKO-Crossover “Der Prozess” läuft ab 30. September 2013, Montag bis Freitag jeweils um 18.05 Uhr im ZDF. Am 5. Oktober 2013, 20.15 Uhr kommen alle fünf Teile nonstop auf ZDFneo. In der ZDF-Mediathek werden die Folgen ebenfalls abrufbar sein.

Übrigens: Zumindest für die SOKO Leipzig ist “Der Prozess” nicht der erste Crossover.

Die Meriten der Pixar-Theorie und die Sehnsucht nach einem Gemeinsamen Universum

© Disney

Jon Negronis “Pixar Theory” sorgte vor gut anderthalb Monaten für einigen Aufruhr unter den Menschen, die im Internet über Film schreiben. Wer den ursprünglichen Post – oder eine seiner Visualisierungen – nicht gelesen hat, sollte das gerne jetzt tun (es lohnt sich). Die Kurzform ist, dass Negroni die Gesetzmäßigkeiten – etwa den Grad der Anthropomorphisierung – in den individuellen Pixar-Filmen mit den Easter Egg-Querverweisen kombiniert, welche die kreativen Köpfe von Pixar in jeden Film verstecken, um daraus eine völlig hanebüchene, aber in ihrer Schlüssigkeit bestechend logische Theorie abzuleiten. Diese besagt, dass alle Pixar-Filme im gleichen Universum, auf unterschiedlichen Punkten eines Zeitstrahls spielen, in dessen Verlauf diverse Mutationen die Welt verändert haben.

Kein Aufruhr ohne Gegenwehr. Die von mir sehr geschätzten Kollegen von “ANIch” und ihr Landsmann Owley schlugen in einem Posting deutlich genervte Töne anlässlich des Hypes um Negroni an. Real Virtuality ist außerdem mindestens ein weiterer deutschsprachiger Blogger namentlich bekannt, der bereits beim Erwähnen der Pixar Theory wütend wird.

Ein Hauch von Third-Person-Effekt

Ich will mich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, doch in solchen Momenten weht ein Hauch von Third-Person-Effekt durch die Blogosphäre – die Angst, dass Andere, weniger Eingeweihte, das sorgfältig konstruierte Verschwörungskartenhaus für bare Münze nehmen könnten, und dass man folglich bis ans Ende seiner Tage auf Parties darauf angesprochen wird, sobald herauskommt, dass man was mit Film macht. Eine kurze Twittersuche zeigt, dass – wie bei einem guten Zaubertrick – das Gros des Pöbels sich jedoch eher vor der Konstruktion verneigt, sich höchstens wünscht, dass es stimme und von Anfang an geplant wurde.

Auch Nachahmer hat die Pixar Theory gefunden. Josh Butler veröffentlichte am vergangenen Sonntag die Disney-Theorie nach dem gleichen Prinzip, ging dabei aber schon weit weniger ernsthaft zur Sache (“[E]ither Bambi’s mother can travel through time or deer just have a similar look in the Disneyverse”).

Die Freude der Verschwörungstheorie

Hinter der Pixar Theory steckt (außer der Freude am Konstruieren einer absurden Verschwörungstheorie – die wie alle Verschwörungstheorien nur funktioniert, indem man riesige Gegen-Hinweise ignoriert und kleinste Details zu großen Beweisen hochjazzt) aber auch der Wunsch vieler Fans, egal wie fanatisch sie wirklich sind, ihre konsumierten Geschichten in einem großen Ganzen zu vereinen. Sei es, um ihren Seherfahrungen eine Gesamtkohärenz zu geben, oder um zumindest die winzige Möglichkeit offen zu lassen, dass ihre Lieblingscharaktere sich einmal im gleichen Universum begegnen könnten.

Eine grandiose, epische Parodie auf diesen Vereinigungswunsch bot vor kurzem eine “Parks and Recreation”-Folge in der Patton Oswalt seinen Plot für Star Wars Episode VII vorstellte, in dem unter anderem die Crew der Enterprise, die X-Men und der Infinity Gauntlet aus dem Marvel-Universum Platz finden. Und auf der diesjährigen ComicCon sah sich Grumpy Old Man Harrison Ford, gekommen um Ender’s Game zu promoten, zum x-ten Mal mit dem gleichen Phänomen konfrontiert, als ihn ein Fan am offenen Mikrofon fragte, was sich wohl Han Solo und Indiana Jones zu sagen hätten, würden sie sich treffen. Ford antwortete wortlos und irgendwo zwischen echter und gespielter Entnervtheit.

Lang erwartete Gipfeltreffen

Dabei sind wir wahrscheinlich so nah dran, diese Frage zu beantworten, wie noch nie. Denn die Medienlandschaft hat begonnen, sich von einfachen TV-Crossovers aus den Zeiten von “General Hospital” zu verabschieden, und komplexere Standoffs zu inszenieren. Das Marvel Cinematic Universe und dort insbesondere der erste Gipfeltreffen-Film The Avengers bot genau das, worauf Fans seit Jahren warten, und zum Teil auch genau deswegen. “Wir wollen doch alle wissen, was passiert, wenn Thors Hammer auf Captain Americas Schild trifft“, lautete das Diktum. Also wurde eine Szene in den Film eingeflochten, in der genau das passiert. Nicht zur Zufriedenheit aller, natürlich.

DC bemüht sich nun, sein eigenes Verse endlich auf die große Leinwand zu bringen und lässt 2015 direkt ihre beiden Titanen, Batman und Superman, in einem Film aufeinandertreffen – wahrscheinlich der größte Geek-Gipfel seit Star Trek: Generations. Schon gehen die Spekulationen los, ob die DC-Serie “The Arrow” sich eventuell in das Man of Steel-Universum integrieren lässt. Und Bryan Singer orchestriert für Fox den größten Retcon der Kinogeschichte, wenn er in X-Men: Days of Future Past die jungen und alten Versionen der X-Men durch die Zeit reisen lässt, mit dem erklärten Ziel, Bret Ratners X-Men: The Last Stand ungeschehen zu machen.

Disney spielt uns in die Hände

Wenn man ehrlich ist, ist die Walt Disney Company gar nicht so weit davon entfernt, den Pixar- und Disney-Theorien indirekt in die Hände zu spielen. In den Disney-Parks bewohnen die Figuren längst ein für sie konstruiertes Universum (der geplante “Magic Kingdom”-Film scheint derzeit wieder im Schrank verschwunden zu sein) und Konzepte wie das jüngste Videospiel-Unternehmen Disney Infinity laden ebenfalls dazu ein, die Schöpfungen von hunderten unterschiedlichen Individuen, die jedoch seit 90 Jahren unter einem Markennamen veröffentlicht werden, als Bewohner eines gemeinsamen Weltanschauungs-Universums zu begreifen.

Wir sehnen uns also einerseits nach Einheitlichkeit, Ordnung, klaren Regeln und Autorität (schließlich könnten wir uns das Aufeinandertreffen unserer Helden ja auch einfach in einer Fanfic selber überlegen und wissen über die zu bedenkenden Faktoren wahrscheinlich deutlich mehr als der Schauspieler, der sie vor dreißig Jahren gespielt hat), andererseits nach der Möglichkeit zur endlosen Spekulation und Ausgestaltung. Moderne Story- und Markenuniversen, die in ihrer Konzeption inzwischen manchmal vor dem ersten Drehbuch stehen geben uns genau das. Ist es da nachvollziehbar, dass in dem ein oder anderen der Wunsch erwacht, die gleiche Perfektion auch älteren Entitäten überzustülpen? Dahinter steckt schließlich nur der Drang, die Fiktion genauso kohärent zu gestalten wie die Realität.


Ich würde gerne mal verschiedene Spielberg-Filme ineinanderfalten und einen greisen Indiana Jones in den Jurassic Park schicken, oder nach seinen Erfahrungen in Crystal Skull als Experte in Close Encounters auftauchen sehen. Was denkt ihr, welche Filmografien eignen sich noch dazu, in einem gemeinsamen Universum vereinigt zu werden?

Quotes of Quotes (XV) – The Licensing Company

Sie müssen so’n Produkt im Handel auch immer frisch halten. […]. Es wird immer weiterentwickelt, neue Inhalte, neue Geschichten, neue Produkte. Wir wechseln zum Beispiel bei Star Wars jedes Jahr das Artwork. […]. Sie dürfen ihre Produkte auch nicht länger als zwei Jahre im Handel haben. Sie müssen also permanent an den Designs arbeiten, damit das Programm frisch ist. Das ist ‘ne richtige Maschinerie, die dahinter steckt.
– Marlies Rasel, The Licensing Company über Star Wars

Christian Schiffers “Zündfunk Generator”-Podcast “Masters of the Universe” (Link führt direkt zum mp3, einen Permalink zur Episode gibt es nicht, nur die Übersicht) ist schon einen Monat alt, doch reinhören lohnt sich. In 50 Minuten schlägt er geschickt den Bogen vom wissenschaftlich-erzählerischen Blick auf die Erschaffung von Story-Universen zur geschäftlichen Seite des Ganzen und wieder zurück. Highlight sind dabei eindeutig die oben angerissenen, recht offenherzigen Äußerungen der Geschäftsführerin eines Münchner Lizenzunternehmens. Und der Boba-Fett-Song.

Star Wars – Ein Flächenbrand

© Lucasfilm

Schon in gut zwei Jahren wird J. J. Abrams’ neue Star Wars-Episode über uns hereinbrechen. Worum es gehen wird, was passiert, darüber schweigt sich Abrams, der gerade Star Trek Into Darkness promotet, derzeit noch aus. Der Ball sei ihm gerade erst zugespielt worden, da könne man noch nicht viel über die Aufstellung erzählen.

Auf “The Wrap” fand sich diese Woche ein sehr interessanter Artikel, der erzählt, dass Abrams Star Trek gerne in ein “multi-platform experience that spanned television, digital entertainment and comic books” verwandelt hatte. Daran gehindert wurde er dadurch, dass die Merchandising-Rechte des Gesamtkonstrukts Star Trek zwischen zwei Firmen, CBS (Originalserie) und Paramount (Filme), aufgeteilt sind – und beide sich schwer tun, an einem Strang zu ziehen.

Die Konsequenz folgt natürlich auf dem Fuße:

As for Disney’s grand “Star Wars” plan, it’s sounding an awful lot like the one Abrams once envisioned for “Star Trek.” There will be television properties, theme park rides and spin-off films all centered around the new trilogy that Abrams will oversee.

Ambivalente Gefühle

Sascha hat die ambivalenten Gefühle bereits aufgeschrieben, die sich in einem reflektierten Fan ausbreiten, wenn er daran denkt, in spätestens zwei Jahren auf allen Kanälen permanent mit Star Wars bombardiert zu werden. Ein Film pro Jahr, Spin-Offs, Comics, Fernsehen und und und. Ein Flächenbrand enormen Ausmaßes und ohne absehbares Ende.

Das Marvel Cinematic Universe, ebenfalls bei Disney, funktioniert im Grunde ähnlich und wird an dieser Stelle von mir immer wieder gefeiert. Zwei Filme pro Jahr, eine Fernsehserie, Comics, Spielzeug und Merchandising sowieso. Ein Musterbeispiel an transmedialem Storytelling. Auch Lord of the Rings und jetzt der Hobbit fahren einen Film pro Jahr auf, mit jeder Menge Brimborium drumherum. Doch irgendwie fühlt sich das Ganze trotzdem anders an.

Eine andere Tradition

Vielleicht liegt es daran, das Star Wars aus einer anderen Tradition stammt. Klar, George Lucas hat das moderne Merchandising quasi erfunden. Dank des Extended Universe (in dem ich mich persönlich nicht auskenne) gab es nie einen Mangel an Star Wars-Manna, wenn man welches brauchte. Aber eigentlich bedeutet das Star Wars-Modell doch: Ein Film – und dann wieder drei Jahre warten. Das war bei den Originalfilmen so (die ich im Kino natürlich nicht erlebt habe) und bei den Prequels auch: Man hatte drei Jahre Zeit, The Phantom Menace zu verdauen. Und als Attack of the Clones kam, hatte man fast schon wieder vergessen, wie enttäuschend der Film war. Oder man hatte genug Zeit gehabt, ihn sich schönzugucken. Und ist wieder ins Kino.

Diese Tradition wird Abrams jetzt wohl durchbrechen und es wird interessant sein, zu sehen, ob Star Wars damit zu einem anderen Biest wird. Star Wars Mk. 1 waren drei kanonische Filme und ein Haufen Spielzeug. Star Wars Mk. 2 waren sechs kanonische Filme, eine Fernsehserie (“The Clone Wars”) und ein Haufen Spielzeug. Wird Star Wars Mk. 3 ein Sperrfeuer aus Medien, die alle gemeinsam eine epische Geschichte erzählen, oder werden die “Episoden” weiterhin einen so herausragenden Status genießen?

Das Event als Dauerzustand

Das vormalige Event wird jedenfalls zum Dauerzustand – was natürlich aus Marketingsicht einen ganzen Haufen Sinn ergibt. In seiner viel beachteten Rede auf dem San Francisco Film Festival hat Steven Soderbergh erst vor kurzem auf das absurde Diktat des Marketings hingewiesen, das inzwischen in Hollywood herrscht. Es kostet so viel Geld, einen einzigen Film ins Kino zu bringen, dass es mehr Sinn ergibt, auf wenige gigantische Dampfwalzen zu setzen, als auf viele kleine Menschen mit Sprengstoff, um einen Block zu sprengen, sozusagen.

$10 million movie, 60 million to promote it, that’s 70, so you’ve got to gross 140 to get out. Now you’ve got $100 million movie, you’re going spend 60 to promote it. You’ve got to get 320 to get out. How many $10 million movies make 140 million dollars? Not many. How many $100 million movies make 320? A pretty good number, and there’s this sort of domino effect that happens too. Bigger home video sales, bigger TV sales, so you can see the forces that are sort of draining in one direction in the business.

Es dürfte einige Millionen sparen, wenn man nicht alle drei Jahre wieder neue Aufmerksamkeit für ein Franchise herbeitrommeln muss, sondern sich einfach in die noch relativ frische Erinnerung der Zuschauer einklinkt – die schließlich erst vor einem halben Jahr die DVD gekauft haben, während ihre Kinder sowieso die ganze Zeit die Story zwischen den Episoden in Comics und Videospielen erleben.

Pixarifikation und Inzest

Auch mein Lieblingsregisseur Danny Boyle hat sich vor kurzem zum Zustand der Filmindustrie geäußert und (wohl zurecht) ihre “Pixarifikation” beklagt. Die angesprochenen Veränderungen in Distribution und globaler Kinolandschaft haben dazu geführt, dass große Filme ein möglichst breites Publikum ansprechen müssen, um überhaupt Geld zu machen. Falls also jemand darauf hofft, dass Abrams’ Star Wars in irgendeiner Form “erwachsener” wird als Lucas’ Prequels, sollte sie die Hoffnung lieber ziemlich zurückschrauben.

Sie ist nach wie vor absurd, diese Geschichte, und doch wahrscheinlich irgendwie das, was immer passiert: Der Film, der alle Regeln brach, ist selbst zur Blaupause für eine ganze Industrie geworden. Und wie beim Ergebnis von mehreren Generationen Inzest besteht für jedes neue Kind die Gefahr einer schrecklichen Missbildung. Als Medienbeobachter ist es faszinierend, dabei zuzusehen. Als Fan kann man wohl nur der Macht vertrauen, dass noch genug neues Genmaterial im Universum vorhanden ist, um auch einen Flächenbrand lebendig zu halten.

(hat tip: Max)

Die Kunst des Drumherumerzählens

© Marvel

Im Jahr 1970 stand der britische Theaterautor Michael Frayn in den Sofitten eines seiner Stücke. Sein Standort erlaubte es ihm, nicht nur das Geschehen auf der Bühne zu sehen, sondern auch, was hinter den Kulissen passierte. Die Tatsache, dass er die Vorgänge hinten komischer fand als vorne, brachte ihn zwölf Jahre später dazu, das Stück “Noises Off” zu schreiben. Die dreiaktige Farce zeigt eine kleine Schauspielertruppe dreimal bei der Aufführung des gleichen Stückes zu verschiedenen Zeitpunkten. Akt 1: vorne, Akt 2: hinten, Akt 3: vorne.

Zwischen den Schauspielern des Stücks gibt es Romanzen und Animositäten, private Probleme, Komplexe und Egos. Im ersten Akt kennen wir diese Probleme noch nicht, wir sehen nur die Generalprobe eines burlesken Stückes, das bereits zu diesem frühen Zeitpunkt einige Stolperer aufweist. Akt 2 enthüllt die Hintergründe der Figurenkonstellationen zwischen den Akteuren, die so gar nichts mit den Figuren zu tun haben, die sie spielen – und wir sehen sehen, wie viel zusätzlich schiefgeht, von dem die Zuschauer im Saal (hoffentlich) nichts merken. In Akt 3 schließlich sind wir Eingeweihte, könnnen aufgrund des Geschehens vorne Rückschlüsse über das Geschehen hinten ziehen – und doppelt lachen.

Ich habe von “Noises Off” nur die mäßig beliebte Verfilmung gesehen, doch das Stück fiel mir wieder ein, als ich am Ende des jüngst aufgenommenen Podcasts zum Marvel Cinematic Universe über den Inhalt der Serie “S.H.I.E.L.D.” (offiziell: “Marvel’s Agents of S.H.I.E.L.D.”) spekulierte. “Noises Off” spielt, zur Geburtsstunde der Postmoderne, gekonnt und komisch mit der Idee, dass die Geschichte, die wir erzählt bekommen, nie die ganze Geschichte ist. Dass man theoretisch immer an hundert Punkten dieser speziellen Geschichte ansetzen könnte, und eine weitere, unbekannte Geschichte erzählen könnte, die ebenso interessant sein kann; die wir aber nie erfahren.

Diese Idee ist natürlich inzwischen nichts Neues mehr. Im Grunde ist sie die Grundlage jeder Kriminalfall-Erzählung und seit der postmoderne zum allgemeinen Zustand geworden ist, taucht sie überall auf: In Pulp Fiction und den Filmen von Alexander Gonzalez Iñarritu, in dutzenden Romanen (mein Favorit: Alex Garlands “The Tesseract”) und Fernsehfolgen. Zersplitterte Erzählung ist überall und wird auch gerne gesehen, weil sie immer einen Anstrich von Cleverness hat: der Zuschauer steht in den Sofitten – er bekommt mehr mit als jede einzelne Figur und darf das Puzzle im Kopf zusammensetzen.

Was Noises off jedoch von den meisten dieser fragmentierten Geschichten unterscheidet, ist die Tatsache, dass es eine dominante Geschichte gibt, die auf jeden Fall erzählt werden muss – das Stück im Stück mit dem vielsagenden Titel “Nothing On”. Diese Haupterzählung, die Handlung von “Nothing On”, muss weiterlaufen, egal was passiert, und die Geschehnisse hinter der Bühne sind ihr untergeordnet. Sie sind, sozusagen, drumherumerzählt.

Nicht die Zeitebenen stören

Habt ihr 18 Minuten Zeit?

Diese Sequenz aus Back to the Future und Back to the Future Part II ist eines meiner Lieblingsbeispiele für erfolgreiches Drumherumerzählen. Im Ursprungsfilm hat Marty McFlys Zeitreise die Geschehnisse seiner eigenen Vergangenheit durcheinandergebracht und droht, seine Zukunft, die eigentlich seine Gegenwart ist, zu verändern. Marty muss also alles daran setzen, die Vergangenheit wieder auf die richtige Spur zu bringen, indem er dafür sorgt, dass seine Eltern sich ineinander verlieben, obwohl sich seine Mutter gerade in ihn verguckt hat. Nebenher inspiriert er Chuck Berry zu “Johnny B. Goode”, indem er ihm, ohne es zu wissen, seinen eigenen Song aus der Zukunft vorspielt (was alle möglichen rassistischen Interpretationen zulässt).

Back to the Future Part II zieht eine weitere Ebene ein. Marty muss erneut in das Jahr 1955, in die exakt gleiche Nacht zurückkehren, um Dummbratze Biff Tannen das Sportstatistik-Heft zu klauen, das Biffs älteres Ich ihm aus der Zukunft zugesteckt hat. Jetzt muss Marty zwei Erzählungen aufrecht erhalten: 1. Seine Eltern müssen sich, wie im ersten Film, ineinander verlieben, obwohl mehrere Zeitreisende in ihrer Zeit herumfuhrwerken. Hierfür muss die “Enchantment under the Sea”-Party erfolgreich stattfinden, quasi das “Nothing On” von Back to the Future. 2. Marty darf seinem zeitreisenden Ich vom letzten Mal nicht begegnen, weil sonst ein Raum-Zeit-Fehler das Universum zerstören könnte. Er kann also in die Ereignisse nur indirekt eingreifen. Mit anderen Worten: Er muss auch die Erzählung des ersten Films aufrecht erhalten, denn dieser kann sich ja rückwirkend nicht mehr verändern.

Also erzählt Robert Zemeckis sehr geschickt um die Ereignisse aus Teil 1 herum. Besonders schön ist dies im letzten Drittel zu sehen. George küsst Lorraine und Marty 1 bekommt auf der Bühne seine Familie zurück, Marty 2 steht am anderen Ende des Raums und wird von Biffs Schergen gejagt. Diese kommen in den Ballsaal und sehen Marty 1 auf der Bühne, wundern sich, wie er so schnell dorthin gekommen ist und die Kleidung gewechselt hat. Sie machen sich bereit, ihn zu verprügeln, während er mit “Johnny B. Goode” beginnt, doch Marty 2 dreht den Spieß um und knockt die drei aus, bevor sie die Erzählung seiner ersten Zeitreise stören können, die in der Konsequenz auch auf seine jetzige Zeitreise durchschlagen würde. Eine komplette zweite Handlung, im Kontinuum der ersten Handlung, wird um die erste Handlung herumgestrickt, und kommt ihr unendlich nah, ohne sie tatsächlich zu berühren.

Im Transmedia-Universum

Im Zeitalter des Transmedia Storytelling, in dem wir uns inzwischen befinden, ist es nun nicht mehr nur eine Option, eine Geschichte in mehreren Fragmenten innerhalb des gleichen Texts zu erzählen, sondern über mehrere Medien hinweg. Und wenn das Universum erst mal steht kann man darin natürlich so viele Geschichten erzählen, wie man will. Große und kleine.

Das vielleicht bekannteste Pop-Franchise, das dies als erstes probiert hat, sind die beiden Sequels der Matrix. Ergänzend zu The Matrix Reloaded gab es ein Videospiel namens “Enter the Matrix”, in dem auch Filmszenen eingebaut waren, die den Handlungsraum von Reloaded erweiterten, indem sie die Geschichte erzählten, die sekundäre Charaktere wie Jada Pinkett Smiths Niobe parallel zur Haupthandlung von Neo, Trinity und Co erlebten. Beworben wurde das Ganze damit, dass man nur mit Film und Computerspiel (und Animatrix) das große Ganze des Films erfassen konnte. In Wahrheit bringen die “Enter the Matrix”-Szenen (die auch im DVD-Sammlerset enthalten sind und hier auf YouTube) keinerlei echte Aufklärung für den kryptischen zweiten Teil der Trilogie. Auch sie schmiegen sich nur an die Haupthandlung an.

Das Prinzip, Nebenfiguren eine eigene Geschichte zu geben, die parallel zur Haupterzählung stattfindet, wurde schließlich in den Nuller Jahren vor allem von Disney-Tochterfirmen auf originelle Art angewandt, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Die DVD-Verkäufe anzukurbeln und Nachwuchsregisseuren im Kurzfilm eine Chance zu geben.

The Incredibles war der erste Film, der dieses Prinzip anwandte. (SPOILER AB SOFORT) Auf dem Rückweg von ihrem Endkampf hört Helen Parr ihre Mailbox ab und findet dort eine Reihe von zunehmend panischen Nachrichten der Babysitterin, die auf Sprößling Jack-Jack aufpassen sollte – das einzige Kind, von dem die Parrs denken, dass es keine Superkräfte hat. In der letzten Nachricht berichtet sie erleichtert, sie habe Jack-Jack an den “Ersatz-Sitter” weitergegeben. Ängstlich beeilen sie sich, zum Haus zurückzukommen, um zu sehen, was passiert ist – nur um festzustellen, dass Syndrome ihnen zuvorgekommen ist und Jack-Jack bereits in seiner Gewalt hat. Es folgt der Endkampf nach dem Endkampf.

Der Schatten der Helden

Der Kurzfilm Jack-Jack Attack (Regie: Ebenfalls Brad Bird), der auf der DVD von The Incredibles enthalten ist, erzählt die gleiche Geschichte aus der Sicht der wohlmeinenden aber etwas unterbelichteten Babysitterin, die Stück für Stück Jack-Jacks Superkräfte am eigenen Leib erfahren muss und das Baby schließlich entnervt Syndrome in die Hand drückt.

Die Telefonnachrichten im Hauptfilm hatten völlig ausgereicht, um anzudeuten, was passiert ist – noch dazu auf sehr clevere und Zeit sparende Art (in einem Zeitalter, in dem Filme mehr und mehr dazu neigen, alles auszuerzählen). Jack-Jack-Attack, auch mit seiner Rahmenhandlung eines Geheimdienst-Verhörs, schafft es dennoch, dem Hauptfilm eine kleine Geschichte hinzuzufügen, die dort keinen Platz gefunden hätte (laut Wikipedia war dies auch der Ausgangspunkt), aber genau die richtige Länge und Dramaturgie für einen Kurzfilm hatte.

Zu Wall-E wurde dieses Prinzip noch einmal aufgegriffen, diesmal jedoch weniger direkt mit dem Hauptfilm verzahnt. Der DVD-Kurzfilm Burn-E spielt mit der Idee, dass Filmhelden mit ihren mutigen und waghalsigen Aktionen öfter mal Schaden anrichten können, von dem sie nichts wissen.

Burn-E ist auf der Axiom, dem großen Raumschiff, das Wall-E auf seiner Suche nach Eve bereist, für die Wartung der Warnlichter an der Außenhülle verantwortlich. Ein Stück Sternenstaub aus Wall-Es poetischer Geste zu Anfang des Weltraumflugs landet durch Zufall in einem dieser Lichter und Burn-E muss es reparieren. Dummerweise gelingt es Wall-E (ohne dass er es merkt), das gleiche Licht durch blöde Zufälle immer wieder kaputtzumachen, was den kleinen Burn-E fast um den Verstand bringt.

Wie in Back to the Future geht es also auch hier wieder darum, einen erzählten Status Quo (nämlich den des vorhergehenden Films) aufrecht zu erhalten. Es ist genau dieses Prinzip des kleinen Mannes oder der kleinen Frau, die hinter den Superhelden und ihren Heldentaten herräumen müssen, das sich perfekt für das Drumherumerzählen eignet, denn im Grunde sind diese Chraraktere quasi die Continuity-Wächter des Film-Universums. Sie sorgen dafür, dass dort, wo die Heldenreisen-Regeln gelten, alles den erwarteten Gang geht und nicht etwa an unvorhergesehenen Fehlerchen scheitert.

Um diesen Job im großen Stil zu erledigen hat die Popkultur seit jeher geheime Organisationen erschaffen, die mit einem Heer von “kleinen” Frauen und Männern die Welt in Balance halten. Sie heißen “Men in Black”, CONTROL oder – genau – S.H.I.E.L.D.

We work in secret. We exist in shadow. And we dress in black.

S.H.I.E.L.D. und ihr Chef Nick Fury sind im Marvel Cinematic Universe der Kleber, der die einzelnen Filme und ihre Handlungsstränge zusammenhält.Außerdem drehen sich sämtlich Erzählstränge, die ergänzend zu den Haupterzählungen der Superhelden aufgemacht wurden, um S.H.I.E.L.D.: die Post-Credit-Stingers, die Seitenplots in Iron Man 2, der Comic “Fury’s Big Week” und die grob nach dem gleichen Prinzip wie Jack-Jack Attack und Burn-E operierenden “Marvel One-Shots”, Kurzfilme, die als Ergänzungs-Gimmick zu den Hauptfilmen auf den DVDs enthalten waren.

Der erste Mavel One-Shot The Consultant erschien auf der Thor-DVD, ist aber eigentlich um The Incredible Hulk herumerzählt. Im Grund ist er ein cleverer Retcon. Der Post-Credit-Stinger im Hulk zeigte Tony Stark, wie er General Ross vorschlägt, ein Team zusammenzustellen. Zu Zeitpunkt von Thor, zwei Jahre später, passte das aber nicht mehr mit der geplanten Continuity für die Avengers zusammen. Also liefert The Consultant eine unerwartete Erklärung: Stark war nur von S.H.I.E.L.D. als “Patsy” zu Ross geschickt worden, er sollte Ross verärgern und das Gegenteil von dem erreichen, was er dachte. Und die beiden reden keinesfalls über den Hulk, sondern über seinen Gegner Abomination. Der Kurzfilm lässt alle bisherigen Erzählungen intakt und deutet sie dennoch so um, dass auch für die Zukunft alles passt.

Der zweite One-Shot A Funny Thing Happened on the Way to Thor’s Hammer (enthalten auf der DVD von Captain America) ist weniger stark an die Filme angebunden (er spielt kurz vor dem Post-Credit-Stinger von Iron Man 2) und dient eher dazu, den Charakter von Agent Phil Coulson etwas weiter auszuarbeiten. Der dritte Kurzfilm Item 47 führt völlig neue Charaktere ein und hat als einzigen Anknüpfungspunkt zu den Filmen eine Waffe aus dem Avengers-Film – beantwortet also eine einfache “Was wäre wenn”-Frage nach dem Ansehen von The Avengers: Was wäre wenn eine der Chitauri-Waffen einem Gangsterpärchen in die Hände fallen würde.

Die Serie “S.H.I.E.L.D.” wird sich höchstwahrscheinlich an den drei bisherigen One-Shots orientieren. Sie erzählt die Superhelden-Saga aus Sicht der Aufräumer, der kleinen Alltagshelden von S.H.I.E.L.D. – da Marvel und Joss Whedon clevere Dinge mögen, wird sie sicherlich das ein oder andere Mal direkte Berührungsstellen mit den parallel startenden Filmen aufweisen, häufig aber eher nur sehr indirekt darauf verweisen.

Die Kunst des Drumherumerzählens setzt immer eine Hierarchie der Erzählungen voraus. Eine Haupterzählung, die durch kleine Nebenerzählungen ergänzt, aber nicht direkt verändert wird. Jede Erzählung kann für sich stehen, obwohl die sekundäre Erzählung ihre Muttererzählung stärker braucht als umgekehrt, beide bieten im besten Fall access points in ein größeres Universum.

Die entscheidende Entscheidung (höhö), die von den Geschichtenerzählern getroffen werden muss ist, wie eng sich die sekundäre an die primäre Erzählung angliedern soll. Denn obwohl die drumherum erzählte Geschichte die Ur-Geschichte nicht verändern kann, kann sie sie doch erheblich umdeuten (wie in The Consultant), erweitern (wie in Jack-Jack-Attack) oder ihr doch zumindest an einzelnen Stellen einen anderen Drall geben (wie in Burn-E). Im schlimmsten (oder besten, je nach Sichtweise) Fall kann sie den Ur-Text völlig negieren – wie in Noises Off, wo die Beziehungen der Schauspieler hinter der Bühne das exakte Gegenteil der Figuren auf der Bühne darstellen. Die kunstvollste Variante ist sicherlich die, die es uns – wie Michael Frayn damals – einfach nur erlaubt, beide Ebenen zu sehen, ihr Zusammenspiel zu beobachten, und sie dennoch als zwei völlig separate Geschichten genießen zu können.