40 kulturelle Produkte, die mein Leben geprägt haben (und ein wenig Reflexion zum 40 werden)

Am 25. Februar bin ich 40 Jahre alt geworden. Um ehrlich zu sein beschäftigt mich diese Tatsache seit mindestens einem Jahr. Natürlich sind Alterszahlen relativ willkürliche Grenzen im Leben, aber irgendwas verändert sich ja doch, wenn nicht in einem selbst, dann zumindest in der Wahrnehmung durch andere. Mit 40 ist man auf jeden Fall nicht mehr „jung“. Auch nicht unbedingt alt (außer vielleicht in den Augen meines bald fünfjährigen Kindes), aber doch an einem Punkt angelangt, wo ein entscheidender Teil des Lebens meistens bereits abgeschlossen ist: Adoleszenz, Ausbildung, Berufswahl, Familiengründung. 

Es ist logischerweise nicht zu spät, um sich neu zu orientieren. Darüber habe ich mit vielen, die mir ein paar Jahre voraus sind und von denen einige genau das getan haben, in den letzten zwölf Monaten gesprochen. Ich selbst habe das vor einem Jahr beruflich in Angriff genommen, mich nach vielen Jahren in der PR wieder stärker in Richtung Journalismus orientiert und ein wenig Freiberuflichkeit ausprobiert. Da meine größte Angst mehr oder weniger ist, in meinen 40ern irgendwie außerhalb meiner Familie irrelevant zu werden (eine sehr eitle Angst, ich weiß), fühlte sich das schon mal wie ein guter Schritt an. Ich hoffe, dass es gleichzeitig auch ergänzt wird von einer gewissen, auf Erfahrung beruhenden Gelassenheit, von der mir einige Ü40-Menschen erzählt haben. Wir werden sehen.

Ich bin nicht Kevin Kelly

Ich habe lange überlegt, wie ich diesen Augenblick im Blog festhalten kann. Lange Zeit hatte ich die Idee, Ratschläge aus genau der eben erwähnten Erfahrung weiterzugeben, weil ich beispielsweise Kevin Kellys derartige Liste total toll fand. Aber ich fühle mich noch nicht bereit dafür. Also habe ich mich entschieden, zurück und nach innen zu schauen und zu überlegen, welche kulturellen Dinge (ich bin Schließlich im weitesten Sinn Kulturjournalist) mich als Person in den letzten 40 Jahren besonders geprägt haben.

Mein Maßstab dafür war weniger, was noch heute meine „Lieblings“-Bücher, Filme, Musik usw. sind und somit die Zeit überdauert haben, sondern woran ich immer noch öfter als formende Erfahrungen zurückdenke. Momente, in denen ich plötzlich einen neuen Blick auf die Welt wahrnahm, der mein Denken oder Fühlen verändert hat. Außerdem Erfahrungen von Kultur, die etwas in mir geweckt haben: ein Interesse, eine Leidenschaft, eine Gewohnheit, manchmal sogar einen Charakterzug, den ich heute noch in mir erkenne.

Zwischen 8 und 12

Beim Erstellen der Liste, die übrigens natürlich trotz aller Überlegung sehr willkürlich ist und in mindestens der Hälfte der Einträge auch anders aussehen könnte, ist mir aufgefallen, dass die entscheidendste kulturelle Phase meines Lebens etwa die Zeit zwischen 8 und 12 Jahren war. Keine große Erkenntnis aus entwicklungspsychologischer Sicht, ich weiß, aber es hat mich doch erstaunt, wie viele Grundsteine in dieser Zeit gelegt wurden, die ich heute als einen essenziellen Teil von mir betrachte, während vieles, was später kam, sich weniger entscheidend anfühlte – selbst viele Dinge, denen ich im Studium begegnet bin.

Je kürzer zurück die Erinnerungen reichen, desto spärlicher werden sie. Auch das ist logisch. Erstens kann man ihre Wirkkraft noch nicht so gut sehen wie bei älteren Erfahrungen. Zweitens waren für mich etwa die letzten zehn Jahre vermutlich mehr vom Erlernen von sozialen und beruflichen Fähigkeiten geprägt als von kulturellen Ideen. Ich glaube aber auch, dass es eine Rolle spielt, dass ich mein inneres Alter immer ungefähr auf 27 oder 28 beziffern würde. Zu dieser Zeit hatte ich mein Studium, meine ersten zwei Jobs und die ersten ernsthaften Beziehungen gemeistert, fühlte mich also etwas erfahren, aber gleichzeitig kaum festgelegt. Ich konnte überall auftauchen und als Mensch mit Potenzial wahrgenommen werden, und ich verhielt mich auch so. Jetzt, zwölf Jahre später fühle ich mich deutlich mehr „gesetzt“, sowohl innerlich als auch von außen betrachtet. Es wird in den nächsten Jahren wichtig sein, diese Gesetztheit aufzubrechen ohne im Prozess Fundamente zu verlieren, die mir wichtig sind.

Und jetzt endlich: die Liste. Ein größeres Mammutwerk, als ich gedacht hätte. Die Reihenfolge orientiert sich an der ungefähren Zeit, in der ich den Dingen begegnet bin.

1. Chris de Burgh: Spark to a Flame. Meine erste popkulturelle Erinnerung ist Mitsingen zu „Don’t Pay the Ferryman“. Der relativ softe Musikgeschmack meiner Eltern hat mich in jedem Fall geprägt. Noch heute sehe ich immer wieder, dass Popmusik, die eher im Folk als im Blues verwurzelt ist, mich stärker anspricht.

2. Cats und Starlight Express. Ich habe beide Musicals als Kind gesehen und natürlich anschließend die Alben in Dauerrotation gehört. „Musical Theatre“ und besonders der Stil von Andrew Lloyd Webber hat sich in meine DNA eingeschrieben. Trotz allem anderen, was ich im Leben so gemacht habe, würde ich mich, müsste ich mich einem US-Highschool-Clan zuordnen, am ehesten als „Theatre Kid“ bezeichnen.

3. Knister. Späteren Leser*innen dürfte der Kinderbuchautor Knister vor allem als Erfinder der Hexe Lilli bekannt sein. In den 90ern hat er aber eine Reihe Bücher geschrieben, die ich sehr mochte („Teppichpiloten“ zum Beispiel), darunter eins namens „Mikromaus mit Mikrofon“, in dem es darum ging, wie man mit Mikro und Recorder Hörspiele und andere Klangexperimente machen kann. Von dort zum Podcasten war es quasi ein logischer Schritt.

4. Otto Waalkes. Meine Eltern hatten fast alle Otto-Platten aus den 1970er Jahren, und ich habe sie als Kind rauf- und runtergehört – sicherlich ohne sie in all ihren Nuancen zu verstehen. Rückblickend kann ich sagen, dass mein Humor davon stark geprägt wurde. Das gilt für Nonsens und Sprachwitz gleichermaßen wie für die große Musikalität, die Ottos Bühnenprogrammen innewohnt. Dass er ein fantastischer Musiker ist, habe ich erst mit erwachsenen Ohren zu schätzen gelernt.

5. Bart Simpson. Die Simpsons sind inzwischen zum kulturellen Teppich einer ganzen Generation geworden, aber am Anfang war für mich vor allem die Figur von Bart interessant, noch bevor ich die Serie überhaupt geschaut habe. Der Schlingel auf dem Skateboard war lange Zeit mein Idol (ich wollte sogar „Bart“ heißen), obwohl ich weder Skateboard fuhr noch besonders schlecht in der Schule war.

6. Die Sendung mit der Maus. Meine Eltern hatten lange eine sehr restriktive Fernseh-Police und „Die Sendung mit der Maus“ war in den ersten 8 Jahren meines Lebens oft das einzige, das ich überhaupt schauen durfte.

7. Queen: Bohemian Rhapsody. Wie für wahrscheinlich viel Menschen war dieser Song, der sich über seine Laufzeit so stark verändert aber sein Pathos-Level unverändert hochhält, für mich ein musikalisches Erweckungserlebnis. Ich halte ihn für unerreicht.

8. Eurodance. Zwischen 1992 und 1995 bestanden große Teile meiner musikalischen Welt aus, wie ich es damals nannte, „Techno“. „No Limit“ von 2 Unlimited war meine erste Single. Obwohl ich kein großer Hörer elektronischer Musik geworden bin, fasziniert mich Eurodance, dieser Clash aus dem Elektro-Underground und Maximalpop, noch immer. So sehr, dass ich am liebsten mal eine große journalistische Recherche zur damaligen Zeit und ihrer Dynamik, die außerhalb Europas kaum eine Rolle spielte, umsetzen würde.

Tourism (1993)

9. Roxette: Tourism. Meine erste CD war „Joyride“, aber „Tourism“ ist das besonderere Album, weil es ein so ungewöhnliches Konzept hat – eine Mischung aus Aufnahmen, die während einer Welttournee entstanden – manche im Studio, manche live, manche improvisiert. Die Musik von Per Gessle würde ich als eine weitere wichtige Säule meines Musikgeschmacks positionieren. Außerdem war ich damals schwer in Marie Fredriksson verknallt, die ich ebenfalls bis heute toll finde und deren früher Tod bis heute schmerzt.

10. M. C. Escher. Die mathematischen Muster und visuellen Verrenkungen im Werk von M. C. Escher haben mich sofort in ihren Bann gezogen. Ich hatte lange das Bild „Tekenen“ als Druck an der Wand hängen. 2022 habe ich mir ein Penrose Dreieck, das Escher zu einigen seiner Werke inspiriert hat, als Tattoo stechen lassen.

11. 4D Sports Driving („Stunts“). Videospiele wurden ab ca. 1993 ein fester Teil meines Lebens und ich habe viele Klassiker ausführlich gespielt. Am meisten im Kopf geblieben ist mir aber „Stunts“, ein Rennspiel, in dem man mit seinem Fahrzeug durch Loopings fahren und über Brücken springen und – das wichtigste – selbst Strecken bauen konnte. Bis heute sind Sportspiele, von direkten Nachfolgern wie Trackmania bis zu Tony Hawk’s Pro Skater und Fifa eigentlich meine Lieblingsspiele.

12. X-Base. X-Base war eine leider kurzlebige Show im Nachmittagsprogramm des ZDF, die versuchte, das neu aufkommende Computerzeitalter für ein junges Publikum aufzubereiten. Es gab Videospiel-Wettkämpfe, Reportagen, einen digitalen Moderator namens Eddie Highscore und Auftritte von Elektro-Popgruppen. Ich fand X-Base von vorne bis hinten großartig, sie enthielt alles, was ich zu diesem Zeitpunkt toll fand. Leider wurde die Show nach einem halben Jahr eingestellt, aber sie hat in mir definitiv ein größeres Interesse für digitale Kultur geweckt.

13. Terminator II: Judgment Day. Dieser Film, den ich verbotenerweise viel früher schaute, als seine FSK-Einschätzung vorgab, hat sehr wahrscheinlich meine lebenslange Faszination mit Visual Effects und Computeranimation auf dem Gewissen.

Meine erste Lektüre fand nicht mit dieser Ausgabe statt, aber meine zweite.

14. J. R. R. Tolkien: The Lord of the Rings. Mit Tolkiens Buch, das ich las während ich eine Woche krank zu Hause war, hat sich für mich alles verändert. In seiner Folge gab es für mich über viele Jahre kaum etwas anderes als Fantasy und Science-Fiction zu lesen und bis heute sind Tolkiens Werke für mich literarische Texte, die ich – durch die zahllosen Veröffentlichungen zum Thema – weiter studiere.

15. Shadowrun. Das in Deutschland von Fantasy Productions veröffentlichte Spiel, das uns ein Klassenkamerad auf dem Rückweg einer Klassenfahrt im Bus erklärte, war mein erster Kontakt mit Tabletop-Rollenspielen. Nicht nur spiele ich diese bis heute (wenn auch selten), aber ich bin auch nach wie vor absolut fasziniert von der Cyberpunk-Vision, die Shadowrun dazu noch mit Fantasy-Tropes kombiniert.

16. Magic: The Gathering. Magic besiegelte meine Fantasy-Gaming-Obsession 1995 endgültig. Diesem Spiel gehörte fast jede freie Minute. Ich konnte alle Karten auswendig, bis die Faszination rund um mein Abitur 2001 irgendwann nachließ aber nie ganz einschlief. 2017 fing ich schließlich wieder an zu spielen und mich aufs Neue zu faszinieren. 2021 habe ich mir die fünf Mana-Symbole als Tattoo stechen lassen.

InQuest

17. InQuest. Diese amerikanische Zeitschrift begriff sich als Begleitmagazin zu Magic und den anderen damals aufkommenden Collectible Card Games. Später erweiterte sie ihr Spektrum auf Rollenspiele und andere Phantastik-Hobbies. InQuest hat nicht nur meinen Blick auf die Welt der Phantastik nachhaltig geprägt (die darin von Zeit zu Zeit aufgestellten Kanons bester Filme oder Romane lassen sich bis heute schwer abschütteln), sondern auch den damals verbreiteten, sehr männlichen Nerd-Humor in mich eingeschrieben. Es hat einige Jahre gedauert, mich von dieser Prägung zu emanzipieren, die in einigen Ecken des Internets immer noch sehr stark ist.

18. Dream Theater: A Change of Seasons. Der Song, der meinen gesamten Musikgeschmack veränderte. Tendenzen waren eventuell durch Queen schon da, aber in den kommenden zehn Jahren würde sich für mich alles mehr und mehr um Progressive Rock drehen. Dream Theater war auch die Band, bei der ich zum ersten Mal Fandom im Internet erlebte, mit Mailinglisten und Online-Foren.

A Change of Seasons (1995)

19. Blind Guardian: Nightfall in Middle Earth. Was mit Dream Theater begann, setzte sich mit Blind Guardian und anderen Bands, die hymnischen Metal zu Fantasy-Themen präsentierten, fort. Aus heutiger Sicht kann ich es klar der Pubertät anlasten, dass ich ausgerechnet diesem Wahre-Männer-Kämpfen-Metal damals so verfallen war. Schlich sich zum Glück zum Studium hin dann aus.

20. Robert Jordan: The Wheel of Time. In gewisser Weise beendete The Wheel of Time, die endlose und endlos derivative Fantasy-Saga rund um eine Gruppe Jugendliche und eine alte Prophezeiung, was Der Herr der Ringe begonnen hatte. Im Rückblick steht die Buchreihe, die ich nie beendet habe, für mich für die Abkehr von der großen Erzählung der Fantasy, der ich mich eine gute Dekade hingegeben hatte, und ein neues Erwachsenheitsgefühl.

21. DVD Extras. Schon bevor die DVD das dominante audiovisuelle Medium wurde, hatte ich mich dafür interessiert, wie Filme gemacht werden. Aber DVDs, mit ihren Featurettes und Audiokommentaren – und manchmal auch mit ernstzunehmenden Einblicken ins Filmemachen – haben meinen Blick auf die Filmwelt enorm geprägt. Ich habe sie alle geschaut und gehört, selbst dort, wo ich die Filme nicht besonders gut fand. Die Kombination aus Streaming und Zeitmangel durch Elternschaft hat dem leider weitgehend ein Ende gesetzt.

Die DVD-Extras von The Fellowship of the Ring waren ein Erlebnis

22. The Fellowship of the Ring. Was war das für ein Glück, dass ich in einer Zeit lebte, in der das 50 Jahre alte Buch, in das ich mich gerade verliebt hatte, dann auch noch grandios verfilmt wurde. An Fellowship brachen sich alle Dinge Bahn, die mich interessierten: Computer-Effekte, Internet-Hype-Kampagnen, Fantasy, eine fantastische Nutzung des DVD-Formats. Der Film meines 18-jährigen Lebens.

23. Futurama. Wo die Simpsons den Boden bestellt hatten, konnte Futurama ernten. Die nerdigere Variante von Matt Groenings und David Cohen Humor war eine große Faszination für mich. So sehr, dass ich alle fünf Staffeln vor der ersten Absetzung als DVD-Boxen besaß.

24. 65daysofstatic: Retreat! Retreat!. Mit dem Beginn meines Studiums begann für mich auch eine neue Ära der Musikentdeckung, besonders durch meinen Freund Carsten. Ich weiß nicht, wie sich mein musikalisches Leben ohne 65daysofstatic entwickelt hätte. Die Band hat so viele interessante Sachen in den letzten 20 Jahren gemacht, ihre Livekonzerte gehören zu meinen liebsten Dingen überhaupt. Und dieser erste Song, den ich von ihnen gehört habe, gehört immer noch zu den besten Songs aller Zeiten.

25. Neal Morse: One. Andererseits: Noch war meine Prog-Begeisterung lange nicht gebrochen. Als Spock’s Beard-Frontmann Neal Morse Anfang der 2000er sein Coming Out als Born-Again-Christ hatte und künftig nur noch christliche Prog-Alben machte, hat das, gemeinsam mit einigen anderen Faktoren, etwas in mir bewegt. Ohne Neal wäre ich wahrscheinlich nicht in der evangelischen Kirche und beim Kirchentag gelandet.

26. Pink Floyd: The Wall. Konzeptalben waren ein großes Ding für mich in der ersten Hälfte der 2000er und The Wall, zu dem es ja auch einen werden aber coolen Film gibt, war mein liebstes. Ich habe mich sehr ausführlich damit beschäftigt und meine Vorstellungen von gelungen transmedialen Erfahrungen, wie ich sie zehn Jahre später erforschen würde, wurden sehr davon geprägt. Aber nur damit das klar ist: Roger Waters kann hingehen, wo der Pfeffer wächst!

White Teeth (2000)

27. Zadie Smith: White Teeth. „Black British Fiction by Women“ hieß das Seminar, das ich im Anglistik-Studium eher aus Verlegenheit besuchte, und das mich in vielerlei Hinsicht erstmals dazu zwang, mich erstmals mit Marginalisierung, Feminismus und Postkolonialismus zu beschäftigen. Zadie Smiths Debütroman, der den Fächer der damit verbundenen Erfahrungen und Erzählungen weit aufmacht, war für mich der Schlüssel dazu. Zadie Smith hat mein Denken geprägt und bis heute gehört sie zu den wenigen Autor*innen, von denen ich kein Buch verpasse.

28. Cinematical. Ich habe auch eine Weile Ain’t It Cool News gelesen, aber Cinematical (RIP) war mein Einstieg in die US-Filmblog-Kultur, über die ich mein Film-Nerdtun lange Zeit gepflegt habe.

29. The Guardian Film Weekly. Mein allererster Podcast. Dass er mich geprägt hat, sieht man daran, dass ich heute selbst ein Format mit zwei Interviews pro Folge moderiere.

30. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Etwas hat „Klick“ bei mir gemacht, als ich von diesem 90 Jahre alten Buch das erste Mal hörte. Arnheim ist ein sehr konservativer Denker, aber er sein Verständnis davon, wie die Materialität des Mediums sein Output beeinflusst, entspricht einfach sehr gut meinem eigenen Kunst-Empfinden. Arnheims Text bildete dann einen Teil des Rückgrats meiner Magister-Arbeit, die leider aus anderen Gründen nicht das ruhmreichste Ende nahm.

Film als Kunst (1932)

31. Stefan Niggemeiers Blog. Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier war der erste deutsche Blogger, den ich bewusst wahrgenommen habe, erst über das Bildblog, dann über sein eigenes medienjournalistisches Blog. Ich muss einfach sagen, dass er auch ein großes Vorbild für mich war (und wahrscheinlich noch immer ist). Vielleicht nicht das beste, da ich immer wieder feststelle, dass ich von meiner Arbeitsweise ganz anders ticke, aber zumindest stilistisch glaube ich, dass er mich sehr beeinflusst hat. Fun fact: Zum ersten Mal persönlich miteinander gesprochen haben wir 2022.

32. Wired. Obwohl ich von Wired immer schon viel gehört hatte, hatte ich erst 2008 (nach einem USA-Urlaub) das erste Mal eine Ausgabe in der Hand und war sofort schockverliebt. Diese Art von Technikoptimismus passte exakt in diesen Moment meines Lebens zum Ende meines Studiums und zu beginn meines Berufslebens, das sich sehr bald stark in Richtung Online-Kommunikation drehen würde. Ich habe Wired kurz danach abonniert und ziemlich religiös gelesen. Erst als Chris Anderson als Chefredakteur ging, verlor ich das Interesse.

33. Slate’s Culture Gabfest. Dieser Podcast, den ich immer noch höre und zu dessen Hosts ich eine starke paarsoziale Beziehung habe, hat mich an das Podcastformat „stark moderierte Roundtable-Kulturdiskussion“ herangeführt, das ich viele Jahre später für meinen eigenen Podcast Kulturindustrie versucht habe, zu kopieren.

34. The Avengers. Als das Marvel Cinematic Universe noch keine Punchline war, sondern eine ganz neue Entwicklung – der Versuch, Erzählmechaniken aus seriellen Comics auf das Blockbuster-Kino zu übertragen – war ich völlig besessen davon. Ich fand die Idee einfach so revolutionär gut und neu. The Avengers halte ich für den Höhepunkt dieser Idee und bis heute für einen erstaunlichen Film.

35. This American Life. Die Art von Ira Glass und seinen Kolleg*innen, Radio zu machen, hat eine ganze Generation von Radioleuten und Podcastern beeinflusst. Auch mich hat sie von Anfang an gefangen genommen und sehr beeindruckt. Ich höre TAL immer noch jede Woche und lerne nach wie vor davon. Wenn es um den wahrhaft ausgelutschten Begriff „Storytelling“ im Journalismus geht, denke ich immer noch als erstes an TAL.

36. Simon Reynolds: Retromania. Auf der Suche nach dem Zeitgeist stieß ich 2011 auf dieses Buch, das in den kommenden Jahren als eine Art Prisma für meinen Blick auf große Teile der Kulturwelt diente (und das ich entsprechend oft zitiert habe). Interessanterweise denke ich, dass der Lebenszyklus des Buchs in den letzten zwei bis drei Jahren ein Ende gefunden hat, da sich der Eindruck einer „Hyper-Stasis“ (alles wird schneller, aber nichts verändert sich) vielerorts durch die am Horizont drohende Klimakatastrophe verändert hat.

37. re:publica. Lange bevor ich das erste Mal selbst auf die re:publica fahren konnte (2014) war sie ein Sehnsuchtsort. Der Raum, in dem sich alle Menschen trafen, die ich im Internet toll fand. Das beste: Bei meinem ersten Besuch (und auch meinem zweiten, wo ich zum ersten Mal selbst Speaker war) stellten sich viele Projektionen sogar als wahr heraus und ich hatte jedes Mal eine krasse Zeit. In den letzten Jahren hat, zugegeben, ein gewisser Gewöhnungseffekt eingesetzt.

38. Mark Rosewaters Kolumnen & Podcasts. Ich denke, der Head Designer von Magic: The Gathering ist einer der einflussreichsten Menschen in meinen Gedanken der letzten fünf Jahre. Erst im letzten halben Jahr habe ich den Eindruck, dass der Hype bei mir ein bisschen nachgelassen hat. Rosewater steht mit seiner Kolumne Making Magic und seinem Drive to Work Podcast für einen sehr transparenten Umgang mit Game Design und erklärt sehr regelmäßig genau, warum welche Entscheidungen für die Weiterentwicklung des komplexen Spiels getroffen wurden. Gleichzeitig ist er ein sehr sympathischer Typ, der seine Design-Lektionen auch gerne in Lebensweisheiten umwandelt.

39. Game Knights. Das YouTube-Format, in dem Menschen miteinander die Magic-Variante „Commander“ spielen, hat mir nicht nur das Format selbst nähergebracht, es hat mich (der sonst kaum YouTube-Formate schaut) auch viel darüber gelehrt, wie Spiele und Hobbys im Internet präsentiert werden können. Ich habe großen Respekt vor dem ganzen Team der „Command Zone“, die aus einem Zwei-Personen-Podcast ein kleines Nischen-Medienimperium mit einem dutzend Angestellten aufgebaut haben. 

40. Terra Ignota. Ada Palmers vierbändiger Science-Fiction-Zyklus hat mich sehr beeindruckt und stark beeinflusst, wie ich derzeit über Science-Fiction, Worldbuilding und die Zukunft der Menschheit nachdenke.

“LÄUFT” – Neuer Podcast von epd medien und Grimme-Institut feat. Yours Truly

Im Oktober 2022 habe ich angefangen, wieder regelmäßig für epd medien als Redakteur vom Dienst und Kritiker zu arbeiten. Im März 2023 fragte mich meine Chefin Diemut Roether, ob ich auch Lust hätte, mal ein Podcast-Konzept zu entwickeln. Ich habe natürlich sofort Ja gesagt. Auf so eine Gelegenheit hatte ich seit Jahren gewartet.

Das Konzept gefiel dem Team und um die Suche nach einem Partner zu erleichtern produzierte ich im Frühsommer eine Dummy-Folge, aus der man ungefähr raushören konnte, wie das Endresultat klingen könnte. Trotzdem hat nur ein kleiner Teil von mir tatsächlich damit gerechnet, dass aus dem Konzept irgendwann Realität wird. Aber mit dem Grimme-Institut hat der epd in Rekordgeschwindigkeit einen super Partner gefunden.

Im Herbst haben wir die redaktionellen Abläufe mit einer Generalproben-Folge geprobt und letzte Scharten ausgewetzt. Und seit heute kann man den Podcast “LÄUFT – Die Programmschau von epd medien und Grimme-Institut” überall hören, wo es Podcasts gibt.

In der ersten Folge spreche ich mit Peter Luley über die ARD Mediathek & Das Erste Produktion “Bonn – Alte Freunde, neue Feinde” und mit Jenni Zylka über Kriegsberichterstattung. Eine neue Episode gibt es ab sofort alle zwei Wochen.

Besonders schön an der Erfahrung ist, dass ich die Sendung zwar als One-Man-Show produziere, aber eine tolle Redaktion im Hintergrund habe, die mir nicht nur sehr viel Hintergrund-Arbeit bei der Auswahl der Gäste und Themen abnimmt, sondern auch einfach allgemein für das Gefühl sorgt, nicht alleine auf weiter Flur zu stehen. In jeder Folge stecken übrigens ungefähr zwei volle Produktionstage.

Bitte reinhören und Rückmeldung geben. Als Kommentar, an mich direkt oder offiziell an medien@epd.de. (Auch positives Feedback wird gerne genommen – ich habe mich schon lange nicht mehr so wie ein Hochstapler gefühlt wie mit diesem Projekt. Leute bezahlen mich für’s Podcast machen? Haben die einen Knall?!)

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Werkschau (II)

Ich schreibe regelmäßig Texte, die an unterschiedlichen Stellen erscheinen. Häufig derzeit im Fachmagazin epd medien, wo sie nicht oder nur kurz online zu lesen sind. Deswegen möchte ich hier einen kleinen Überblick geben.

Über den ARD Audiothek Original-Podcast “Lost in Neulich” (Kritik in epd medien 25/2022)

“Alle Stränge aber, die sich eher um persönliche Gefühle und Identitätsfindung drehen, sind mit viel Liebe und Einfühlungsvermögen für die Charaktere komponiert, die schnell mit ihren Sprecherinnen und Sprechern verwachsen. Auch hier ähnelt die Serie vielen anderen Soaps: ‘Lost in Neulich’ scheint fest entschlossen, alle aktuell zeitgeistigen Themen mitzunehmen, um sie an den Figuren zu verhandeln: Neben Genderidentität sind das Klimaschutz, Rassismus, Stadt-Land-Spaltung, Cannabis-Legalisierung und Generationenkonflikte. Die Themen werden aber von Tielcke, die im Fernsehen bereits an diversen Scripted-Reality- und Soap-Formaten mitgewirkt hat, gleichermaßen ernst genommen.”

Über Bettie I. Alfreds Hörspiel “Aus dem Hohlraum” (Kritik in epd medien 31/2022)

“Sind viele Menschen wirklich so, fragen wir uns. Leben sie ihre kleinen grauen Leben in kleinen grauen Kammern, voller unerfüllter Wünsche und vergrämter Gefühle? Stimmt es, dass jene Menschen, die stattdessen empathisch sind, einfach nur sehr tief in ihren eigenen Abgrund geblickt haben, wie es die Frau behauptet. Bleibt den verlorenen Menschen, wie sie Bettie I. Alfreds Hohlraum bewohnen, am Ende wirklich nur das Ende, das die Autorin für sie vorgesehen hat? Ist das Leben am Ende auch nur eine Kammer und kein Zimmer?”

Über die Position von Netflix und anderen Streaminganbietern in Deutschland (Leitartikel in epd medien 35/2022)

“Im Rückblick wird die Netflix-Story gerne als unglaubliche Erfolgsgeschichte in drei Akten erzählt. Zunächst disruptiert Netflix mit seinem abogestützten DVD-by-Mail-Modell den Heimvideomarkt und zerstört damit unter anderem die US-Videothekenkette Blockbuster. Dann, ab 2007 – also zwei Jahre nach dem Start von YouTube – bietet das Unternehmen seinen Kunden an, Filme auch einfach direkt über das Internet auf seiner Website abzurufen und lizenziert anschließend die Libraries mehrerer US-Mediengiganten, so dass das Gefühl entsteht, die Menschheit könne zukünftig an einem einzigen Ort Sofort-Zugriff auf die gesamte Film- und Fernsehgeschichte besitzen. Schließlich, beginnend spätestens mit House of Cards im Jahr 2013, wird Netflix selbst zum Produzenten der angesagtesten Serien auf dem Markt. Damit stürzt das Unternehmen auch das lineare Fernsehen in eine tiefe Krise, von der es sich wohl nie wieder wirklich erholen wird.

Die wirkliche Geschichte ist natürlich, wie immer, deutlich komplizierter.”

Über den Podcast “Generation Alpha” der KIKA-Unternehmenskommunikation (Glosse in epd medien 36/2022)

“‘Generation Alpha’, der Podcast, den sich der Kika selbst zum 25. Geburtstag geschenkt hat, ist nicht durchgängig Vorstandscontent. Aber, sagen wir mal so: Das Genre ist ihm nicht fremd. Auch wenn in den seit Januar alle zwei Wochen erscheinenden Episoden mit Inka Kiwit, Ann-Kathrin Canjé und Daniel Fiene drei journalistisch ausgebildete Menschen als Hosts auftreten, ist dem Format zumindest deutlich anzumerken, dass dahinter keine Redaktion, sondern die Unternehmenskommunikation des Kika steht. Für wen es produziert wird, welche Erkenntnis es bieten soll, ist nicht so ganz ersichtlich. Aber Chefs und Förderern des Kika gefällt es bestimmt.”

Über die interaktiven Hörspiele der ARD (Artikel auf 54 Books)

“Wenn wir uns also tatsächlich fragen, wie wir mit unseren Fiktionen interagieren wollen, machen die interaktiven Hörspiele der ARD verschiedene Angebote. Wir können die eigenschaftslosen Schatten im Zentrum einer Handlung sein, durch die wir uns tasten müssen, bis wir aus dem Labyrinth herausgefunden haben (das erfolgreiche Konzept, das auch Escape Games prägt). Oder wir können die Protagonist*innen durch unsere Entscheidungen überhaupt erst mit Eigenschaften ausstatten und sehen, wie sich die Handlung im Spiegel dieser Eigenschaften entfaltet. (Oder beides.)

Obwohl wir im ersten Fall deutlich stärker an den Kontrollen stehen sollten, schließlich sind es unsere Entscheidungen, die den Fortgang der Erzählung steuern, befinden wir uns aufgrund der begrenzten Handlungsmöglichkeiten eigentlich sehr in der Hand der Autor*innen und ihrer Absichten. Im zweiten Fall haben wir weniger Freiheit, das Ruder unseres Handlungsschiffes wild herumzureißen, doch unsere Entscheidungen fühlen sich wichtiger dafür an, wie wir das Erzählte wahrnehmen. Die Ergodizität ist geringer aber signifikanter. Der Plot, das Syuzhet, bleibt von Nutzer*in zu Nutzer*in ähnlich, die Story, die Fabula aber, ist formbar, ist interaktiv.”

Über das Hörspiel “Cryptos” von Janine Lüttmann nach Ursula Poznanskis Roman (Kritik in epd medien 38/2022)

“Ein großer Teil des Genusses von Lüttmanns Hörspiel dürfte davon abhängen, wie gut man mit dem dauerhaften Ich-Monolog von Elisa Schlotts Jana zurechtkommt. Der dreht sich allerdings auch wenig tatsächlich um das Innenleben der Figur, sondern ist davon bestimmt, dass einfache Handlungen beschrieben werden, nach dem Motto ‘Ich setze mich hin und stütze meinen Kopf in die Hände’. Diese Entscheidung bewahrt Cryptos einerseits vor der manchmal bleiernen Szenenhaftigkeit anderer Hörspiele und erlaubt Lüttmann überhaupt erst, sich schnell durch ihre Handlung zu bewegen. Sie führt aber auch gelegentlich zu einem Gefühl der Redundanz und mangelnden Lebendigkeit.”

Über den Podcast “Memes und Millionen” von Ruben Schaar, Katharina Koerth et al. (Kritik in epd medien 41/2022)

“Es ist nicht einfach, für Außenstehende zu beschreiben, wie es sich anfühlt, als Insider in einem solchen Forum (oder in anderen Ecken des Netzes, etwa auf Twitter) zu agieren, dessen Codes zu verstehen und aktiv zu nutzen. Das ‘Memes und Millionen’-Team fährt ein aufwändiges Sound-Design auf und versucht sogar einmal, das akustische Äquivalent eines Memes zu erschaffen, um seinen Hörenden zumindest einen Eindruck vom Leben im Reddit-Schützengraben zu verschaffen. Das funktioniert meistens ganz gut, vor allem, weil sich der Podcast nicht alleine darauf verlässt. Zu den drei mittendrin agierenden Protagonisten und den hörbar gemachten Netz-Prozessen ziehen die Hosts immer wieder auch externe Experten dazu und fahren den Rausch auf ein sachliches journalistisches Niveau zurück.”

Über die deutsche Produktion des Hörspiels “Erdsee” von Judith Adams nach Ursula K. LeGuin (Kritik in epd medien 42-43/2022)

“Dabei greift Adams auf eins der einfachsten und noch immer effektivsten Mittel des Hörspiels zurück: Sie lässt die Hauptcharaktere ihre eigenen Geschichten einander in der Rückschau erzählen, was zugleich eine emotionale Nähe zur erzählenden Figur und Rückfragen und Reflektion durch ihr Gegenüber zulässt. Auf diese Art kann viel szenisches ‘Tischdecken’ gespart werden, und die Handlung kann sich in wirkungsvollen, atmosphärischen Dialogen entfalten. Gibt man dann noch ein gelungenes Sound Design (das beworbene 3D-Audio fällt allerdings nicht nennenswert auf), gute Intro-Texte am Anfang jeder Folge (wunderbar gesprochen von Marit Beyer) und die erneut großartige Musik von Verena Guido hinzu, die ja auch bereits die Volker-Kutscher-Adaptionen des WDR zu Erlebnissen machte, ist man schnell in die fantastische Welt von Erdsee transportiert und will sie auch so bald nicht wieder verlassen.”

Über Moritz Hürtgens Roman “Der Boulevard des Schreckens” (Glosse in epd medien 42-43/2022)

“Wenn Hürtgens geistige Eltern David Lynch und Helmut Dietl sein sollten, hat Lynch sich in der Erziehung eindeutig durchgesetzt. Von den starken Bildern am Rande des Übersinnlichen, bis zur Rolle, die Wörter am Ende spielen, könnte Altkirching auch das bayerische Twin Peaks sein. Er wollte eine Geschichte schreiben, die “fesselnd und unterhaltsam” ist, hat Hürtgen in einem Tweet geschrieben. Das ist ihm in jedem Fall gelungen.”

Gibt es ein Revival der interaktiven Fiktion?

Jannis Schakarian, ich, Christoph Rieth. Bild: Bernd Zywietz

Am 11. Juni konnte ich auf der TXT, der offiziellen Strand-After-Hour der re:publica 2022, ein Panel zum Thema “Gibt es ein Revival der interaktiven Fiktion?” moderieren. Mit mir auf der Bühne saßen Jannis Schakarian, Autor der “Hastig”-Textabenteuer, und Christoph Rieth, der Leiter der MDR Digitalkoordination, die das interaktive Hörspiel “Schloss Einstein: Mission to Mars” produziert hat. So lautete die Session-Beschreibung:

“Choose Your Own Adventure!” und “You are the hero!”. Mit Sätzen wie diesen begann in den 70ern ein Genre von interaktiven Texten, das erst 20 Jahre später durch die endgültige Dominanz von grafischen Computerspielen aus dem Mainstream verdrängt wurde. Von einer kleinen Nische an Aficionados als “Interactive Fiction” am Leben erhalten, studiert und weiterentwickelt, erlebt es zurzeit durch Voice Technologie und Retrogaming-Trends ein Comeback.

Im Gespräch finden wir heraus, ob es tatsächlich ein Revival der interaktiven Fiktion gibt. Die beiden Schöpfer sprechen darüber, welche Herausforderungen und Chancen darin liegen, den Nutzer ins Zentrum der Geschichte zu stellen und welche Möglichkeiten neue Technologie für die Zukunft der Gattung eröffnet.

Ich konnte das knapp 45-minütige Gespräch mitschneiden und habe es im Feed des LEXPOD veröffentlicht.

Bild: Bernd Zywietz

Journalistische Arbeit als Podcast-Plotpunkt

Symbolbild: Mit diesem Mikrofon wird sicher niemand etwas aufnehmen, denn es ist nicht eingesteckt. (Chris Engelsma, CC-BY 3.0)

Der neueste Podcast aus dem Hause Serial/New York Times heißt The Trojan Horse Affair. Darin spüren zwei Journalisten einem Brief nach, der Anfang der 2010er Jahre erst in Birmingham und anschließend in ganz Großbritannien für Debatten und später sogar politische Maßnahmen sorgte, weil er angebliche Pläne aufzeigte, Schulen in der Stadt gezielt zu islamisieren. In The Trojan Horse Affair geht es darum, wer diesen Brief geschrieben hat, und warum.

Doch es geht noch um mehr. Der Podcast hat einen richtiggehenden B-Plot, der nicht nach außen, sondern nach innen gekehrt ist. The Trojan Horse Affair ist auch eine Art Buddy Movie über zwei Journalisten – der eine älter, weiß, erfahren (Brian Reed, S-Town), der andere, Hamza Syed, jünger, frisch auf der Journalistenschule und brown. (Hier reden die beiden darüber.) Gemeinsam loten sie aus, was Journalismus leisten sollte und darf, wann das Ergebnis einer Recherche befriedigend ist und wann nicht. Die Gespräche darüber machen einen erheblichen Teil des Podcasts aus. Sie lassen gleichzeitig die Arbeit transparent werden und sie sorgen für einen zweiten, inneren Konflikt zusätzlich zum äußeren, wie aus dem Drehbuch-Lehrbuch. (Wie Willa Paskin im Slate Culture Gabfest festgestellt hat, endet er wie viele Podcasts dieser Art außerdem auf einer Art konstruktivistischer “Was ist eigentlich Wahrheit?”-Note, aber das nur am Rande.)

The Trojan Horse Affair ist nicht der erste Serial-Podcast, der seine eigene Arbeit zum Thema macht. Schon im ursprünglichen Serial ging es genauso um die Arbeit von Sarah Koenig und ihrer Producerin Julie Snyder wie um den Mord, in dem die beiden herumwühlten. Und schon damals machte diese Transparenz einen Teil des Appeals aus. Das Problem bei Trojan Horse: Es werden gerade Vorwürfe laut, dass die Journalisten eben nicht transparent genug gewesen seien. Die Darstellung ihrer Recherche stütze einseitig ihre Thesen, lasse manche Interviewpartner zu leicht davonkommen und gehe mit anderen zu hart ins Gericht. Dieser Artikel in “Vulture” fasst die ganze Debatte ganz gut zusammen, gibt den Autoren Raum für Reaktion und vermutet vor allem einen konservativen Backlash, aber eine kritische Frage finde ich berechtigt: Hätte es diese Debatte überhaupt gegeben, wenn Syed und Reed ihre eigene Arbeit nicht so plotdienlich thematisiert (und dadurch auch erzählerisch sortiert) hätten?

Ich finde es grundsätzlich gut, wenn Podcasts auch von ihrer Recherche erzählen, denn ich bin Medienjournalist und Journalismus-Nerd und manchmal interessiert mich fast mehr, wie ein Medium entsteht als was es enthält. Die Art, wie diese Entstehung erzählt wird, macht aber viel aus. In 11 Leben berichtet Max-Jacob Ost, dass er erst nach dem Treffen mit einem Dramaturgen auf die Idee kam, seine eigene Arbeit am Podcast und die Frage “Gelingt es mir, ein Interview mit Uli Hoeneß zu ergattern?” zum B-Plot des Projekts zu machen, der aber durchaus zur Unterhaltung und zum Spannungsbogen beiträgt. Er sorgt für Ereignis-Highlights wie einem zufälligen Treffen an der Kühltheke im Supermarkt und er lässt das Ende deutlich befriedigender erscheinen. Aber es ist schwer zu sagen, ob diese eigene Reise vollständig oder nur plotdientlich erzählt wurde.

Andere, insbesondere investigative Podcasts, erzählen ebenfalls von ihrer Arbeit, schaffen es aber nicht immer, diese als Teil des Spannungsbogens zu verkaufen, sondern sie einfach nur wie ein bisschen Flexing um die Recherche aufregender erscheinen zu lassen. In meiner Kritik zum Podcast Just Love für epd medien habe ich das so beschrieben:

Wir haben das aufgedeckt, heißt es, und dafür haben wir einen enormen Aufwand betrieben. Es folgt (…) eine Aufzählung dieses Aufwandes – Recherchen, Interviews, Akteneinsichten – als müsse man ganz zu Anfang nicht nur die Zuhörenden von der Qualität der Ergebnisse überzeugen (über die dieser Aufwand natürlich wenig aussagt (…)), sondern auch den Verantwortlichen im Verlag oder Sender erklären, wo ihr Geld geblieben ist.

Trommeln gehört zum Handwerk und Konventionen zum Genre, aber es wäre schon manchmal angenehm, wenn Reportagen ohne dieses Gebelle auskommen würden. Das gilt vor allem, wenn sie wie „Just Love“ (…) gar nicht so schrecklich viel Neues aufdecken. Was nicht schlimm ist. Enthüllung muss nicht immer das Ziel einer guten Podcast-Reportage sein. Es kann ein großer oder sogar größerer Wert sein, existierende oder bekannte Fäden zusammenzuführen und zu einem Gesamtnarrativ zu verdichten. „Just Love“ gelingt das am Ende sogar, aber bis die Hörenden sich dahin vorgekämpft haben, müssen sie sehr viel performative Recherchearbeit über sich ergehen lassen.

Diese Art von “performativer Recherchearbeit” finde ich die Kehrseite der inzwischen anscheinend etablierten Weisheit, das man den Journalismus auch zum Thema machen sollte. Als Hörende erfahren wir dabei wenig bis nichts über die Menschen, die den Podcast machen, über ihre Motivationen oder über die Sackgassen, die ihre Recherche genommen hat. Es bleibt nur die, wie es Carina und Sandro Schroeder in ihrem neuen Podcast Ohrensessel ausdrücken, “Breitbeinigkeit”. Die Schroeders nennen als weiteres Positivbeispiel den Podcast Narcoland der “Aachener Zeitung”, in dem der Journalist sich ebenfalls zur Hauptfigur macht, den ich aber noch nicht gehört habe.

Bei der FYEO-SZ-Koproduktion Going to Ibiza – Österreich und die Korruption war ich im Herbst 2020 auch ganz angetan von der Aufbereitung der eigenen Recherche. Von den zwei Hosts qualifiziert sich die eine, Leila Al-Serori, dadurch, dass sie selbst Teil des Rechercheteams war, und der andere, Vinzent-Vitus Leitgeb, dadurch, dass er wie Al-Serori österreichische Staatsbürgerschaft hat. Wie wichtig diese Beziehung der Hosts zum Thema sein kann beschreiben die Schroeders in Ohrensessel wenn sie über die neuere SZ-Produktion Suisse Secrets sprechen – dort hostet ebenfalls Leitgeb, er hat aber mit der Recherche nichts mehr zu tun und wird zum unbeteiligten Erzähler.

Etwas unentschieden war ich in meiner Betrachtung von Sneakerjagd, dem Podcast zu einer Recherche des Startups Flip. Hier hat die Recherchemethode, GPS-Sender in gebrauchten Turnschuhen, um nachzuvollziehen, ob diese recycelt werden, fast schon Gimmick-Charakter. Sie visualisiert Erkenntnisse, die Branchen-Insidern vermutlich zu großen Teilen bekannt waren, erlaubt den Journalist*innen aber, daran eine Verfolgungsjagd-Erzählung aufzuhängen.

Wie gut ihnen diese Erzählung gelingt, ist dann aber trotzdem noch einmal eine andere Frage. Sneakerjagd wurde für mich deutlich besser, als er zum Schluss in einen relativ klassischen Feature-Modus zurückkehrte und nicht mehr seinen Autoren um die Welt folgt. Eventuell muss man sich halt doch entscheiden: Was brauchen die Hörenden in diesem Moment? Will ich Informationen vermitteln oder will ich etwas erzählen? Und wenn Letzteres der Fall ist, habe ich überhaupt etwas Interessantes zu erzählen?

10 Podcast-Highlights 2021

Eine kleine, nicht-repräsentative Auswahl aus meinem Podcatcher

Ich weiß selbst manchmal nicht so ganz, wo ich eigentlich als Podcast/Hörfunk-Kritiker stehe. Einerseits verdiene ich etwas Geld damit (und ab nächstem Jahr wahrscheinlich etwas mehr, stay tuned), dass ich Kritiken schreibe, und das Medium ist wahrscheinlich längst das Wichtigste in meinem allgemeinen Lebenswandel, seit ich eine Familie habe und deutlich weniger Filme gucke. Andererseits fehlt mir, je nach Betrachtungsweise, die Lust, die Zeit, das Commitment oder auch der Anreiz, so viel zu hören, dass ich wirklich das Gefühl habe, alles Wichtige zu kennen und entsprechend Bescheid zu wissen.

Mein normales Raster an Podcasts, die ich einfach persönlich gerne höre (manche davon allgemein relevant, andere auf eigene Nischeninteressen bezogen) ist zudem so umfangreich, dass ich kaum die Zeit finde, regelmäßig Produktionen nur aus professionellem Interesse zu hören. Damit sich das für mich lohnt, muss ich schon dafür bezahlt werden. Sagt mir doch mal in den Kommentaren, ob das ein echtes Problem ist, oder ob ich da als jemand, der Vollzeit erwerbsarbeitet und eine Hälfte der familiären Sorgearbeit übernimmt, eventuell auch einen unrealistischen Anspruch habe.

Deswegen fiel es mir dieses Jahr (im Vergleich zum letzten Jahr) auch gar nicht so leicht, zehn Podcasts herauszustellen, die ich bemerkenswert fand – und die nicht in die Kategorie “Podcasts, die schon generell immer ziemlich gut aber kaum neu sind” fallen. Ich versuche, wie immer, daran auch ein paar allgemeine Beobachtungen auch über mein eigenes Hörverständnis festzumachen. Insofern ist diese Liste, wie alle Listen, überhaupt kein absolutes Votum.

Zwei Podcasts habe ich dieses Jahr übrigens aus meinem Podcatcher geschmissen, denn anders geht es nicht, wenn man ab und zu Platz für Neues machen will. Radiolab war mir trotz vieler Experimente und Host-Wechsel irgendwie ein wenig zu vorhersehbar geworden. Und Reply All konnte ich nach dem ganzen Skandal um ihre Arbeitskultur, der sich in der ironischst-denkbaren Weise entlud, irgendwie auch nicht mehr ernstnehmen. Dafür sind einige Shows dazugekommen, die nicht in der Liste auftauchen, aber mich regelmäßig erfreuen, etwa Science Diction von WNYC, VFX Notes/VFX Artifacts von beforesandafters.com und mediasres vom Deutschlandfunk.

Diese Liste ist kein Ranking. Alle Einträge stehen gleichberechtigt nebeneinander.

Das Finale von 11 Leben

Ich hatte, ganz ehrlich, fest damit gerechnet, dass es so kommt, aber der besondere Coup, dass es Max Ost am Ende wirklich gelungen ist, seinen Kuchen sowohl zu behalten (einen kritischen Podcast über Uli Hoeneß zu machen) und zu essen (Uli Hoeneß zu interviewen), ist schon bemerkenswert. Alles weitere steht in diesem Blogeintrag.

This American Life: “Music of the Night after Night after Night”

Die letzte wirklich außergewöhnliche Sendung von TAL ist irgendwie eine Weile her, aber dieses Segment über die Musiker im Orchestergraben von Phantom of the Opera am Broadway, die teilweise seit Jahrzehnten miteinander jeden Abend die gleichen Noten spielen, fand ich eine absolut herausragende Geschichte.

Sexy und Bodenständig: The Alena Arc

Der “Autor*innen-Entlastungspodcast” Sexy und Bodenständig lebt von der Dynamik seiner beiden Beteiligten, Till Raether und Alena Schröder. Während aber Till Raether seit vielen Jahren erfolgreich Bücher in verschiedenen Genres publiziert, hat Alena Schröder dieses Jahr ihren ersten großen Roman, Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid veröffentlicht (ich lese ihn gerade auch endlich und finde ihn sehr gut) und damit prompt einen Bestseller gelandet. Das Nachspiel dieser Geschehnisse, bis zur jetzigen legendären Angst vor dem zweiten Buch, fand ich dieses Jahr sehr spannend zu verfolgen, zumal man es sich ein bisschen zusammenpuzzeln musste, weil Alena (die, wie wir auf Twitter mal feststellten, im gleichen Kaff geboren ist wie ich und auf der Nachbarsschule Abi gemacht hat) im Podcast nicht zu spontanen Gefühlsausbrüchen neigt.

Das Podcast-Ufo: “Hinter dem Mikrofon”

Eine der meistherumgereichtesten deutschen Podcastepisoden dieses Jahr, ist zurecht so berühmt. Ein Laberpodcast als Meta-Musical über die deutsche Podcastlandschaft – ich finde das nicht mal so abwegig, wie anscheinend viele andere Kommentator*innen, die nie eine Joss-Whedon-Serie gesehen haben, aber der zentrale Punkt ist, dass das Ergebnis sehr gut gemacht, also catchy, witzig und dumm-klug ist. Die Ambition zu haben, bei einem solchen Experiment auch all-in zu gehen, und nicht nur etwas Halbgares abzuliefern, finde ich applauswürdig. (Mit Florentin Will war ich übrigens mal bei den Cinematic Smash Bros)

The Sporkful: “Mission Impastable”

Aus dem immer beliebten Genre “Ein Podcast Host verfolgt ein verrücktes Projekt über Jahre, bis er endlich Erfolg hat” kommt diese Mini-Serie des Essenspodcasts The Sporkful, in dem Dan Pashman sich die Mission auferlegt, eine neue Pastaform zu erschaffen, die maximal forkable, sauceable, und toothsinkable ist. Das Tolle an diesen Missionspodcasts ist immer, dass sie am Beispiel eines Kulturguts oft so viele Disziplinen vereinen – Ökonomie, Industrie, Design und eben Kultur – und man am Ende immer schlauer ist, selbst wenn es nicht so amüsant und dramatisch erzählt ist, wie hier. Leider sind die Versandkosten aus den USA so hoch, dass ich “Cascatelli” bis heute nicht probieren konnte.

The Specials: “Bo Burnham’s ‘Inside'”

Bo Burnhams musikalischer Netflix-Film Inside hat sehr viel Lob eingeheimst, wurde aber auch kontrovers diskutiert, nicht zuletzt in Kulturindustrie, dem Podcast, von dem ich ein Teil bin. Was mir wirklich gefehlt hatte, und was ich im Feed des Podcasts Good One im September endlich bekam, war eine detaillierte Analyse des Werks von Leuten, die sich gleichzeitig mit Künstler und Materie sehr gut auskennen und in der Lage sind, eine kritische Distanz zu wahren. Diese Art von nischiger Einordnung, gerade auch für kulturelle Werke, finde ich einen perfekten Einsatzort von Podcasts, denn gerade die Dynamik eines solchen Fachgesprächs ließe sich in einem Artikel niemals herstellen.

Commander Sphere: “The Counter Spell Debate”

Und jetzt mal was noch Nischigeres aus meinem einzigen Hobby, mit dem ich kein Geld verdiene: das Kartenspiel Magic: The Gathering. Dort gibt es dutzende Podcasts, manche ernster und “im Spiel besser werden”-betonter, manche lustiger, aber kaum einen, in dem die Mischung für mich so perfekt stimmt, wie Commander Sphere. An diesem Beispiel habe ich dieses Jahr für mich festgestellt, wie wichtig auch Comfort Food beim Podcast hören ist. Rachel Weeks und Dan Sheehan sind Comedians und zumindest Rachel ist auch eine sehr gute Spielerin. Die meisten Episoden sind einfach nur Takes auf aktuelle Diskussionen, vielleicht etwas witziger als anderswo, aber manchmal nehmen sich die zwei auch explizit eine Sendung voller “Goofs” vor – hier versuchen sie, die besten Namen für Antimagie-Sprüche zu finden, in einer anderen Sendung haben sie alle Hauptfiguren des Magic-Universum danach bewertet, wie gut sie wohl küssen. Ich bin dankbar für diese Art von unaufwändigen Podcasts, die emotional eine Menge ausmachen können.

Miracle and Wonder

Schöpfer Malcolm Gladwell und seine Firma Pushkin nennen diesen Interview- und Musikpodcast “Audiobook”, aber ich habe ihn in meinem Podcatcher gehört und er unterscheidet sich auch sonst nur wenig von anderen limitierten Podcast-Serien. Warum ich das bemerkenswert finde, habe ich gerade erst für epd medien aufgeschrieben.

Über Podcast

Der Über Podcast vom Deutschlandfunk ist vor gut zwei Jahren als Magazinsendung über Podcasts gestartet und von mir öfter dafür kritisiert worden, dass das Magazinformat dafür sorgt, dass seine Themen häufig nur sehr oberflächlich und ohne klare Haltung diskutiert werden. Inzwischen wurde der Über Podcast produktionstechnisch abgespeckt – nur noch ein (wechselnder) Host, kein Magazin-Korsett mehr – ist aber dadurch schlagkräftiger und meiner Ansicht nach auch relevanter geworden. Das Format passt sich frei dem an, was das Thema braucht (manchmal eine Expert*innen-Gesprächsrunde, manchmal eher einen klassischen Beitrag mit Audiobeispielen und Interviewschnipseln) und trägt stärker die Handschrift seiner Autor*innen Mike Herbstreuth und Christine Watty. Respekt für diese erfolgreiche Häutung.

Was waren eure Podcasts-Highlights 2021? Schreibt es in die Kommentare oder schreibt mir auf einem anderen Kanal. Produktionsfirmen dürfen mich auch gerne in ihre Presseverteiler aufnehmen (manche haben das sogar schon gemacht). Kontakt im Impressum.

Ist “The Ballad of Songbirds and Snakes” ein gutes Prequel?

Manchmal sind meine Podcast-Skripte nur Stichwortsammlungen, manchmal sind sie fast echte Texte. Im letzteren Fall habe ich mich entschieden, sie auch hier zu veröffentlichen für Leute, die keine Podcasts hören. Sie sind aber natürlich trotzdem darauf ausgelegt, gesprochen (und während des Sprechens verknüpft) zu werden und enthalten evtl. Fehler.

“The Ballad of Songbirds and Snakes”, Erschienen am 19. Mai 2020, Scholastic Press
  • Suzanne Collins, die Autorin unter anderem der “Hunger Games”-Trilogie, hat ein neues Buch geschrieben, das in der gleichen Welt spielt: Panem, ein postapokalyptisches Nordamerika, das von einem Bürgerkrieg zerrissen wurde. Panem wird zentralistisch vom “Capitol” aus regiert, der Rest des Landes ist in Distrikte eingeteilt, die jeweils verschiedene Rohstoffe produzieren müssen, Distrikt 13, gelegen im heutigen Neuengland, wurde in einem Krieg der Distrikte gegen das Capitol per Atombombe ausgelöscht.
  • Das neue Buch heißt “The Ballad of Songbirds and Snakes”, deutsch “Die Tribute von Panem X – Das Lied von Vogel und Schlange”, und spielt rund 60 Jahre vor den Ereignissen der ersten Trilogie, die ja auch sehr erfolgreich verfilmt wurde.
  • Hauptfigur ist Coriolanus Snow – in der Originaltrilogie ist er der Präsident von Panem, hier ist er ein Teenager, der kurz davor steht, die Schule abzuschließen.
  • Der Krieg liegt erst ein gutes Jahrzehnt zurück, Snows Familie hatte ihr Vermögen in Fabriken in Distrikt 13 und ist seitdem verarmt – aber zeigt es nicht nach außen, Vater und Mutter sind gestorben, Snow lebt mit seiner Cousine und Großmutter zusammen und muss alles daran setzen, den Namen der Familie irgendwie zu ehren.
  • Die Hungerspiele gibt es bereits, im Buch steht Ausgabe 10 im Mittelpunkt, aber sie sind noch deutlich primitiver als zu Zeiten von Katniss, der Heldin aus der Trilogie – die Tribute, Kinder aus den Distrikten, prügeln einfach in einem alten Stadion aufeinander ein bis nur noch eins am Leben ist.
  • Erstmals gibt es Mentoren, die die Tribute begleiten, Schüler aus dem Capitol. Snow ist einer von ihnen, und sein Tribut stammt aus Distrikt 12 (der gleiche Distrikt aus dem Katniss später stammt), eine Musikerin mit schillernder Persönlichkeit.
  • Die Handlung des Buchs beginnt und endet nicht mit den Hungerspielen, sie geht darüber hinaus und bemüht sich, eine Abhandlung über die Natur des Menschen (Rousseau vs Hobbes) auf Young-Adult-Niveau zu sein – also recht plakativ, aber, wie ich finde, ganz gut gemacht.
  • Suzanne Collins interessiert sich für das Motiv des “gerechten Krieges”, hat sie in einem Interview gesagt, das ich gelesen habe, und wollte hier eben diese Facette erforschen, inwiefern die Prägung von Menschen in ihr Bild von Krieg und Vergeltung mit hineinspielt
  • Wie gesagt, ich fand das Buch insgesamt – wie schon die anderen Panem-Bücher auch – ziemlich gut, vor allem in diesem Aspekt, wie sich das Leben als Teenager in dieser Reality-TV-Inszenierung spiegelt
    • Das Gefühl, ständig abwägen zu müssen, was man von sich Preis gibt, abhängig zu sein von der Außendarstellung und Außenwahrnehmung
    • Die inneren Monologe dazu sind manchmal etwas anstrengend, aber auch zutreffend
    • Generell aber auch das Thema Krieg und Leid in medialer Inszenierung, was uns daran gleichzeitig fasziniert und abstößt, welche Mechanismen dahinterstecken, fängt sie immer wieder ganz gut ein.
  • Wer also nichts gegen diesen YA-Stil hat, dem würde ich das Buch empfehlen
  • Mich hat es aber noch aus einem ganz anderen Blickwinkel heraus interessiert, wie üblich, nämlich aus Franchise-Sicht und speziell aus der Perspektive des Buchs als Prequel. Also: Ein Buch, das innerhalb der Handlungswelt vor bereits beschriebenen Ereignissen spielt, aber außerhalb – also in unserer Welt – danach geschrieben wurde.
  • Innerhalb des ganzen Franchise-Apparats sind Prequels ein ganz besonders kniffliges Biest, insbesondere wenn es nicht üblich ist, dass in einer künstlichen Welt Geschichten mal hier mal da, mal jetzt mal später spielen, sondern wenn es einen Urtext gibt, der auch noch eine besonders große Strahlkraft hat.
  • Also: Prequels stecken in dieser merkwürdigen Situation, dass sie durch Ereignisse begrenzt sind, die in der diegetischen Welt noch gar nicht passiert sind. Wir als Konsumenten kennen diese Ereignisse aber bereits und wissen wo alles enden wird – wir wissen das umso besser, je näher das Prequel zeitlich am Ursprungstext angesiedelt ist – zum Beispiel wissen wir dann, welche Charaktere nicht sterben können, weil sie ja später noch am Leben sind
  • Prequels betreiben also oft so eine Art Reverse Engineering. Sie zerlegen ein bereits existierendes Ding in seine Bestandteile, untersuchen diese und zeigen oft, wie diese dann wieder zusammengesetzt werden
    • Zum Beispiel: Die Sequenz am Anfang von “Indiana Jones and the last Crusade” zeigt wie Indie seine Angst vor Schlangen, seinen Hut und seine Peitsche bekommt
    • Die Star Wars Prequels zeigen, wie Anakin Skywalker zu Darth Vader wurde und das Imperium entstand
  • Darin steckt aber auch gleichzeitig die Gefahr: Anders als aber bei echtem Reverse Engineering muss man sich nämlich nicht auf die Teile beschränken, die man dem Original entnommen hat, sondern kann beliebig viel dazuerfinden
  • Autor*innen lassen sich aber gerne davon beschränken, weil sie dramatische Ironie lieben
  • D.h. sowohl sie als auch die Konsument*innen sind Mitwisser*innen und können deswegen die Charaktere in Situationen bringen, deren Tragweite diese selbst nicht ahnen können, denn anders als wir wissen sie ja nicht, was noch passieren wird. Im letzten Podcast habe ich ja darüber gesprochen, dass Geschichte ja immer erst im Nachhinein Geschichte wird, und erstmal nur aus Ereignissen besteht.
  • Wenn dieses Verlassen auf Bekanntes aber zu viel passiert, kann das auch dazu führen, dass die gesamte fiktionale Welt sehr klein erscheint, und viele weitreichende Ereignisse am Ende nur mit wenigen Charakteren zu tun haben
    • Beispiel: Star Wars Prequels
  • Was also macht ein Prequel zu einem guten Prequel. Mit Bezug auf Dawn of the Planet of the Apes habe ich damals drei Merkmale herausgearbeitet:
    • Ein gutes Prequel verweigert sich der Zirkellogik, in der sich alles nur auf vorher Veröffentlichtes bezieht und öffnet die Welt, um neue Anknüpfungspunkte auch für die Zukunft zu bieten
    • Seine Verwandtschaft zum Ur-Text beweist der Film statt durch direkte erzählerische Bezüge lieber durch Motive, die wie Echos durch die ganze Saga hallen
    • Den direkten Bezug findet der Film, indem er nach entscheidenden Momenten sucht, die sozusagen die Timeline der Welt endgültig in Richtung des Originaltextes ausrichtet.
      • “Dawn” macht das, in dem es den Moment markiert, in dem die Affen beginnen, einander zu töten und damit auch ihren pazifistischen, zurückgezogenen Lebensstil aufgeben und sich gegen die Menschen richten
  • Wie sieht das in Bezug auf “Songbirds and Snakes” aus? Ab jetzt werde ich das Buch naturgemäß ein wenig spoilern.
  • Beim ersten Punkt, würde ich sagen, ist das Buch so in der Mitte. Es macht zum Beispiel keinerlei neue Schauplätze auf, die wir nicht aus den Originalbüchern kennen und bietet wenig Neues, das man in Zukunft noch weiter erforschen könnte. Die gesamte Handlung dreht sich nur um die Hungerspiele und um das Leben in Distrikt 12, wie schon zuvor. Am neusten ist noch die Organisation der Peacekeeper und das Leben der Menschen im Capitol, was wir früher nur aus der Außensicht kannten.
  • Allerdings enthält die Handlung auch nur zwei Charaktere, die in den späteren Büchern ebenfalls vorkommen, und dort auch nicht als Hauptfiguren – Coriolanus Snow und seine Kusine Tigris
  • Direkte Bezüge zum Ur-Text gibt es generell wenige, am prominentesten wahrscheinlich das Lied “The Hanging Tree”, zu dem hier eine Ursprungsgeschichte geschaffen wird; es gibt auch einen etwas nervigen direkten Bezug auf Katniss – dieser Art von Insider-Witzen zum Publikum scheint sich kein*e Autor*in entziehen zu können
  • Motive aber sind einige da, wie oben erwähnt, und tatsächlich sucht sich Collins auch einen “Sündenfall”-Moment als Dreh- und Angelpunkt des Romans aus – der Punkt nämlich, in dem die Hungerspiele von einem barbarischen Bestrafungsritus zu einem medialen Ereignis werden. Für meinen Geschmack passieren hier ein bisschen viel Entwicklungen (Mentoren, Sponsorships, Wetten, Abenteuer-Arena, Victor Village) auf einmal, aber es ist ein interessanter Gedanke, sich zu überlegen, dass es diesen Pivot Point irgendwann gab und wie sehr er half, die Macht des Capitols zu zementieren.
  • Also: Das Prequel erfüllt meine damals festgelegten Kriterien nur zum Teil, es ist doch recht stark an seinen Urtext gebunden. Und genauso ambivalent fühle ich mich ihm gegenüber auch.
    • Einerseits erzählt es trotz allem eine sehr eigenständige Geschichte anhand eines neues Hauptcharakters und gibt dieser Geschichte genug Raum und Tiefe, damit sie interessant ist
    • Andererseits psychologisiert sie damit viele Ereignisse aus den vorhergehenden Büchern im Nachhinein auf eine vielleicht unnötige Art – muss Coriolanus Snow wirklich eine verlorene Liebe in Distrikt 12 haben, damit ihn Katniss 60 Jahre später provoziert? Am blödesten fand ich eigentlich die finale Enthüllung des Buchs zu den Ursprüngen der Hungerspiele, die das Universum von Panem wie oben beschrieben ziemlich klein werden lässt – die reale Welt ist doch irgendwie chaotischer und komplexer
    • Im Interview hat Collins gesagt, dass sie beim Schreiben der Originaltrilogie schon eine vage Vorstellung der Hauptfiguren dieser Geschichte hatte, es ist also zumindest alles kein großer Retcon.
  • Schlechte Prequels geben einem immer Antworten auf Fragen, die man gar nicht haben wollte. Ich würde sagen: “Songbirds and Snakes” hängt ein bisschen dazwischen. Einige seiner Antworten sind gut, andere nicht so sehr – und es verschenkt ein wenig die Chance, die Welt zu öffnen und zum Beispiel mal andere Distrikte zu besuchen. Aber auf einer Metaebene verhandelt es eben auch genau diese Fragen – wie werden wir zu dem, der wir sind, welche Entscheidungen treffen wir warum? und das fängt die schlechten Antworten meiner Ansicht nach etwas auf.

Handbuch für Zeitreisende – Ein Buch wie ein trojanisches Pferd

Manchmal sind meine Podcast-Skripte nur Stichwortsammlungen, manchmal sind sie fast echte Texte. Im letzteren Fall habe ich mich entschieden, sie auch hier zu veröffentlichen für Leute, die keine Podcasts hören. Sie sind aber natürlich trotzdem darauf ausgelegt, gesprochen (und während des Sprechens verknüpft) zu werden und enthalten evtl. Fehler.

Kathrin Passig, Aleks Scholz
Handbuch für Zeitreisende
Von den Dinosauriern bis zum Fall der Mauer
Berlin: Rowohlt, 2020, 336 Seiten

  • Am besten fand ich die Teile des Buchs, in denen es eigentlich nicht um Zeitreisen ging
  • Kathrin Passig und Aleks Scholz schreiben das Buch aus einer fiktiven Situation heraus, in der Zeitreisen bereits möglich ist
  • Es gibt Zeitreise-Anbieter, die wie Reisebüros funktionieren und einen in verschiedenen Komfort-Levels in der Zeit verschicken
  • Gleichzeitig wird ein Zeitreisen-Modell als wahr angenommen, das auf der Viele-Welten-Theorie basiert, also jedes Mal wenn man in der Vergangenheit ankommt, macht man ein Paralleluniversum auf bzw. existiert in einem Paralleluniversum, das schon da war. Wenn man zurückreist, kommt man aber in sein Ursprungsuniversum zurück
  • Dieses Konstrukt wird aufgebaut und angenommen, aber es wird nie erklärt, da diejenigen, die das Buch schreiben, ja so tun, als lebten Schreibende und Lesende in der gleichen Zeit, in der das bereits bekannt ist
  • (Daraus ließe sich ein interessanter Exkurs zu Worldbuilding-Exposition machen, ob sie notwendig ist oder nicht)
  • Jedenfalls irritierte mich das immer ein bisschen. Aus diesen Grundannahmen werden Regeln für die Zeitreisenbeschreibungen abgeleitet (z. B. was man verändern sollte und was nicht), die aber ein bisschen beliebig wirken, weil ja auch die Annahmen ein bisschen beliebig sind – hier beißen sich Fiktion und Realität ein bisschen
  • Obwohl also alles auf bestem Wissen und Gewissen basiert, Aleks Scholz ist ja auch Astrophysiker, begeben sich die beiden für meinen Geschmack immer ein wenig auf wackeliges Terrain, wenn sie wirkliche Reiseführer-ähnliche Regeln aufstellen, oder zumindest wird an diesen Stellen immer die spekulative Ebene des Buchs etwas sichtbar und reißt einen raus
  • Das sage ich, obwohl sie an anderen Stellen sehr unterhaltsam ist und ich es auf jeden Fall viel besser finde, ein Buch aus einer fiktiven Zukunft heraus zu schreiben, in der Zeitreisen schon existieren, als alles ständig im Konjunktiv zu formulieren
  • Fairerweise muss man auch sagen, dass in einem Nachwort alles erklärt und aufgelöst wird und sich die Autor*innen auch ein bisschen entschuldigen
  • Großartig fand ich hingegen, wie das Buch als trojanisches Pferd fungiert
  • Es ist nämlich eigentlich ein Buch über alle möglichen Aspekte von Erd- und Menschheitsgeschichte (und ein bisschen Physik), vermittelt durch dieses “High Concept” von Zeitreisen
  • “Interessante Aspekte von Erd- und Menschheitsgeschichte (und ein bisschen Physik)” wäre halt auf keinen Fall ein so spannender Teaser gewesen wie “Alles, was sie für eine Zeitreise wissen müssen”
  • Die Zeitreise ist also das trojanische Pferd und die ganzen geschichtlichen Fakten und Theorien sind die griechischen Krieger, die einem heimlich Wissen vermitteln
  • Zu den Ideen, die im Buch gestreift werden, gehören:
    • Welche falschen Ideen und Mythen über die Vergangenheit sich in unserem kollektiven Unterbewusstsein festgesetzt haben (z. B. “finsteres Mittelalter”, “Dinosaurier lebten alle zusammen”, “Kriege sind heroische Schlachten, in denen man sich beweisen kann” usw.) – hier räumt das Buch mit Vorurteilen auf, aber versucht, wie häufig in Kathrin Passigs Texten, differenziert verschiedene Blickwinkel darzustellen, die man darauf haben kann
    • Das gleiche mit Geschichte als Entwicklung, z. B. Great Man Theory, Dinge, die erst im Rückblick überhaupt eine Entwicklung sind, Autorenschaft von Geschichte durch die Sigenden etc.
    • Welche bemerkenswerten Aspekte der Weltgeschichte wir gerne vergessen, z. B. dass es in Granada im 14. und 15. Jahrhundert eine blühende islamische Zivilisation gab oder dass es nicht nur Eiszeiten, sondern auch Warmzeiten gab
    • Welche Aspekte unseres Lebens wir als gegeben hinnehmen und wie lange es sie eigentlich erst gibt, das gilt sowohl für soziale Dinge (z. B. Rechte von Frauen, Armen etc.) als auch für wissenschaftliche Erfindungen 
      • Aber auch hier wieder der differenzierte Bickwinkel – Zitat “Man sollte sich daher so wenig über die Medizin der Vergangenheit mit ihren Krötenpulvern lustig machen, wie über die der Gegenwart, in der Homöopathie von der Krankenkasse bezahlt wird”
      • Also hier auch das Suchen und Darstellen von unterhaltsamen bis nachdenklichen Echos aus der Menschheitsgeschichte
      • “Durch Fragen an die Vergangenheit wird auch die Gegenwart klüger.”
    • Was eigentlich essenziell für menschliches Überleben und Gesundheit ist – interessanterweise enthält die Sektion “Praktische Informationen für Zeitreisende” besonders viel Infos zu Hygiene und Krankheiten, die sich die ganze Zeit lesen, wie die ganzen Corona-Leitlinien, die man in letzter Zeit so gelesen hat
      • es ist wirklich fast unheimlich vorausschauend, aber das Buch wurde ja auch in der Zukunft geschrieben
  • Ich mag diesen trojanischen Aspekt des Buchs, es sollte noch viel mehr davon geben – knallt mir eine krasse Science-Fiction-Idee vor die Nase und nutzt das, um mir interessante Sachen zu erzählen, nach denen ich aus eigenem Antrieb wahrscheinlich nie gesucht hätte.
  • Ich kam darauf, diese Idee im Podcast zu besprechen, weil ich direkt zuvor noch ein anderes  Buch gelesen hatte, das das gleiche macht.
  • “The World without Us” von Alan Weisman ist ein moderner Klassiker der amerikanischen Nonfiction, ich bin darauf gestoßen über eine Liste von Slate mit den besten Nonfiction-Büchern der letzten 25 Jahre
  • Auch hier wieder ein High Concept, das das Buch verkauft:
    • Was würde mit der Welt passieren, wenn die Menschheit von einem auf den anderen Moment verschwinden würde? 
    • Hingerafft zum Beispiel von einer Pandemie (da isses wieder) oder ein “Rapture”-ähnliches Ereignis
  • Das ist das trojanische Pferd. Die griechischen Krieger sind hier vor allem Informationen und Gedanken über Nachhaltigkeit, Artenerhalt, Umweltschutz – mit ein bisschen Menschheitsgeschichte auch hier und faszinierenden Fragen wie, was zum Beispiel mit der Megafauna, also den sehr großen Tieren, Nordamerikas passiert ist – sie wurden wahrscheinlich vom Menschen innerhalb weniger Jahrhunderte ausgerottet, weil sie anders als afrikanische Großtiere sich nicht gleichzeitig mit Menschen entwickeln konnten
  • Weisman besucht Orte auf der Welt, die noch besonders unberührt sind und schaut sich an, wie sich das Leben dort entwickelt hat, Orte, an denen die Menschen plötzlich verschwunden sind – demilitarisierte Zonen in Zypern und Korea oder Chernobyl – oder eben Orte, an denen die Menschen ganz besonders gewütet haben, z. B. den Panamakanal oder die sterbenden Korallenriffe im Pazifik
  • Es stecken jede Menge faszinierende Informationen und Anekdoten in diesem Buch, die nur sehr indirekt mit dem Verkaufsslogan zu tun haben
  • Aber, und das ist das coole, das heißt noch lange nicht, dass er nicht eingelöst wird: Immer wieder, meist am Ende von Kapiteln, nimmt Weisman sich dann doch ein ganz bestimmtes Szenario vor, zum Beispiel die Stadt New York oder die Ölraffinerien in Texas, und schreibt dieses in die Zukunft, beschreibt, was zuerst kaputtgeht, was nach wieviel Jahren wie aussehen wird, und was daraus folgt
  • Einer der Grundgedanken des Buches ist, dass man die Vergangenheit verstehen muss, wenn man sehen will, wie die Gegenwart und Zukunft aussehen könnten
  • Das ist also ein weiterer Punkt, der die beiden Bücher verbindet

Und hier ist die Podcastversion zum Anhören:

LEXPOD

Ich habe keine Zeit mehr zum Bloggen, keine Zeit mehr für einen aufwändigen Podcast mit mehreren Personen, aber trotzdem das Bedürfnis, mich regelmäßig über Dinge mitzuteilen, die mich interessieren. Also habe ich mich von Menschen wie Mark Rosewater inspirieren lassen und nehme ab sofort einen Solo-Podcast, man könnte es auch ein Audioblog nennen, auf dem Weg von der Haustür zur S-Bahn auf – den LEXPOD. Es geht um die üblichen Themen, die Leser*innen von Real Virtuality kennen, aber auch um Persönlicheres und alles, was mir sonst so auffällt.

Technisch möglich macht das Ganze die App Anchor (gerade erst für viel Geld von Spotify gekauft), in der man mit wenigen Tippern und Wischern Podcasts aufnehmen, mixen und verteilen kann. So kann ich meine Gedanken direkt nach Ende der Aufnahme in der S-Bahn in die Welt pusten, und ihr könnt sie hören. Zweimal die Woche, zehn bis 15 Minuten, das passt doch mit Sicherheit noch in euren Podhörplan.

Ich freue mich über Feedback und Themenideen. (Kann man mit Anchor übrigens auch per Sprachnachricht machen.)

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Ich beende meinen Podcast (vorerst) nach 8 Monaten. Das habe ich gelernt.

Was war ich ekstatisch. Ich war so happy im letzten September, als ich es nach zehn Jahren Herumdruckserei endlich hinbekommen hatte, einen Podcast auf die Beine zu stellen. Kulturindustrie, so hieß er, war die Erfüllung eines Traums – ein Roundtable-Review aktueller Popkultur aus allen Bereichen mit drei anderen Leuten, die ich als Gesprächspartner gut und auch gut durchmischt finde. Ich hatte mich sehr darauf gefreut, meinen amerikanischen Vorbildern Pop Culture Happy Hour und Slate’s Culture Gabfest nachzueifern und ein Format in Deutschland zu etablieren, dass es bisher noch nicht gab.

Jetzt bin ich acht Monate weiter und auch acht Monate weiser. Vor einem Monat bin ich Vater geworden und ich habe sehr schnell gemerkt, dass ich mir meine Freizeit neu einteilen muss, wenn ich meinen Vollzeitjob gut machen, meine Aufgaben als Elternteil fair wahrnehmen und meine geistige Gesundheit behalten will. Ich habe meinen Mitpodcaster*innen deswegen schnell mitteilen müssen, dass ich etwas länger “Elternzeit” nehmen werde. Ich war mir nicht sicher, was wegen dieser Mitteilung passieren würde. Leider führte meine Entscheidung am Ende dazu, dass Kulturindustrie in seiner jetzigen Form erstmal auf Eis gelegt wird.

Das muss nicht heißen, dass es nie wieder einen Podcast namens Kulturindustrie geben wird, an dem ich beteiligt bin. Ich hoffe sehr darauf, dass das Projekt in irgendeiner Form weiterbestehen oder nach einer kurzen Pause zurückkehren wird. Wir vier haben uns nie festgelegt, wie der Podcast aussehen muss. Wir haben keine zahlenden Sponsoren oder Crowdfunder, denen wir Rechenschaft schuldig sind. Wir mögen uns immer noch alle und wir hatten gemeinsam viel Spaß, deswegen werden wir hoffentlich einen Weg finden, weiter zusammen zu podcasten. Aber es wird sehr wahrscheinlich nicht so aussehen wie in den letzten acht Monaten.

Was ist passiert? Ich glaube, dass es sehr interessant sein kann, sich das genauer anzugucken. Scheitern ist wichtig, predigt uns das Silicon Valley, und in den Gründen für dieses spezielle Scheitern spiegeln sich einige Dinge, die mich ohnehin interessieren – über die heutige Medienlandschaft, über Arbeitsabläufe, über Aufmerksamkeitsökonomie. Daher möchte ich hier einige Lektionen aufzählen und erklären, die ich in acht Monaten Kulturindustrie gelernt habe. Vielleicht hilft es ja eines Tages jemand anderem.

1. Das Team sollte sich über das Produkt einig sein

Die Erfahrung der Zusammenarbeit mit meinen Mitpodcaster*innen kam mir aus den diversen Bands, in denen ich schon gespielt habe, sehr bekannt vor. Erst im vergangenen Herbst habe ich, unter anderem zugunsten des Podcasts, eine Band verlassen, in der ich gespielt habe, weil ich eine andere Vorstellung davon hatte, was das Ziel der Band sein sollte, als meine Mitspieler.

Zu Kulturindustrie gab es ein Konzept, das ich geschrieben hatte. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, wie ich wollte, dass der Podcast klingt, was er tut und welche Haltung die Macher*innen haben. Mir war eine gewisse journalistische Professionalität in Klang und Ansprache wichtig. Mir war wichtig, dass er nicht zu lang und zu laberig wird. Mir war wichtig, dass er aktuell und relevant ist. Insgesamt waren sich über diese Ziele alle Beteiligten einig, aber jeder hat sie ein bisschen anders gewichtet und ausgelegt. Am Anfang habe ich sehr viel Energie damit verbraucht, mich mit Leuten darüber zu streiten, welche Themen ich für geeignet halte, wie rigoros geschnitten werden sollte, wie hart wir uns an die Vorgaben halten sollten.

Anfang 2018 habe ich für mich entschieden, dass ich diese Energie nicht mehr verbrauchen möchte und dass es auch unfair ist, so diktatorisch vorzugehen. Ich wollte, dass der Podcast sich etwas organischer selbst findet, so dass alle Beteiligten sich darin wiederfinden. Die potenzielle Neukonzeptionierung ist jetzt vielleicht der finale Schritt in diese Richtung. Wenn es eine Kulturindustrie 2.0 geben wird, ist sie auf jeden Fall von allen mitgestaltet und nicht von mir erdacht und den anderen mit meinen Ansprüchen übergestülpt. Was direkt zu Punkt 2 führt.

2. Ehrenamtliche Professionalität ist hart

Meine Vorbild-Podcasts haben jede Woche zwei bis drei Themen besprochen. Mein Ziel war es daher, das gleiche in der doppelten Zeit zu schaffen. Also drei Themen alle zwei Wochen. Das, so wurde uns schnell klar, kostet jede Menge Zeit und Geld – vor allem, wenn man nicht auf Angebote wie Pressevorführungen zurückgreifen kann. Es kann auch bedeuten, dass man einen großen Teil seiner Freizeit für etwas opfern muss, was sich dann eher wie Arbeit anfühlt. Zum Beispiel wenn es darum geht, ein aktuelles Buch innerhalb von einer Woche zu lesen, für das man sich ohne den Podcast vielleicht gar nicht interessiert hätte. Ein Buch, das vielleicht auch noch vergleichsweise teuer ist, weil es gerade erst als Hardcover erschienen ist. Dazu dann noch der Eintritt für den Blockbuster in 3D. Das läppert sich. Und es ärgert einen vor allem dann, wenn man die besprochenen Dinge am Ende nicht einmal gut fand.

Doch das Thema “professionell sein”, im Sinne von: Dinge machen, weil sie halt zum Job dazu gehören, auch wenn der “Job” in der Freizeit stattfindet, zieht noch weitere Kreise. In Arbeitskontexten gibt es meistens Hierarchien, festgelegte Entscheider oder andere Faktoren, die im Zweifelsfall Absprachen vereinfachen. Wenn man sich aber in seinem ehrenamtlichen Podcast mal nicht einig ist, kann man sich nur streiten und hoffen, dass am Ende ein Kompromiss gefunden wird oder jemand einlenkt. Was im schlimmsten Fall die oben beschriebene Situation verschlimmert und wirklich frustig werden kann.

Ich wollte mit Kulturindustrie nie Geld verdienen, aber gegen ein bisschen Ruhm hätte ich mich natürlich nicht gesträubt. Wenn beides nicht eintrifft (siehe auch Punkt 4) ist es hart, die andauernde Workification der Freizeit vor sich selbst zu rechtfertigen. Für die Zukunft wäre es für mich also sehr wichtig, dass der Podcast – und auch seine Vorbereitung – wenigstens die meiste Zeit auch Spaß macht.

3. Zwei Wochen sind ein blöder Rhythmus, wenn man aktuell sein will

Wie bereits erwähnt, war es mir wichtig, mit dem Podcast aktuell und relevant zu bleiben. Also über die Themen zu sprechen, die gerade in der Luft liegen, und nicht über irgendwelche Themen, die man gerade interessant findet. Das ist mit einem zweiwöchigen Rhythmus gar nicht so einfach. Ein Rechenbeispiel. Ein Film kommt am 3. Mai ins Kino. Wir nehmen den Podcast in der Regel am Wochenende auf, aber wegen des zweiwöchigen Rhythmus nicht an diesem, sondern erst am nächsten Wochende, also zum Beispiel am 12. Mai. Dann muss das Biest noch geschnitten werden, was auch noch mal eine Woche dauern kann. Wenn der Podcast also am 19. Mai erscheint, ist der Kinostart schon 16 Tage her und der Film im schlimmsten Fall schon wieder völlig aus der kulturellen Konversation verschwunden.

Als Podcaster steht man also vor einem ständigen Dilemma: Entweder die Diskutierenden hängen immer zwei Wochen hinterher oder sie haben statt zwei Wochen immer nur ein paar Tage Zeit, um den Film zu sehen oder das Album zu hören (Alben erscheinen Freitags). Weil wir das Podcasten aber alle nur in unserer Freizeit machen (siehe Punkt 2), ist ein schnellerer Turnaround kaum möglich. Das führt dann manchmal wiederum zu Punkt 1. Ein Teufelskreis.

4. Feedback ist rar

Der 90/9/1-Regel sollte man sich bewusst sein, wenn man im Internet auf Feedback hofft und nicht gerade massiv provoziert. Wir hatten pro Folge bis zu 800 Hörerinnen und Hörer. Es ist also völlig normal, dass wir nur von etwa acht Leuten (plus minus) Feedback bekommen haben, ob der Podcast etwas taugt. Die Hörerzahlen sind über die Zeit recht konstant geblieben, also irgendwas müssen wir richtig gemacht haben. Trotzdem: Wir fühlten uns oft genug, als würden wir in den leeren Raum rufen. Das motiviert nicht unbedingt. (Eitle Seitenbemerkung: Als Moderator wurde ich selbst in den Rückmeldungen, die wir bekamen, so gut wie nie erwähnt, während zu Lucas, Mihaela und Sascha immer klare Meinungen vorherrschten.)

Ich kann also allen nur raten: Wenn euch etwas gefällt oder auch nicht gefällt, gebt den Macherinnen und Machern Feedback – und wenn es nur ein “Hat mir gefallen” ist. Es hilft!

5. Wir hätten einen Marketing-Push gebraucht

Hauseins-Chefin Katrin Rönicke hat es in ihrem Talk auf der re:publica gerade noch einmal erzählt: Podcasts werden vor allem durch Empfehlungen in anderen Podcasts bekannt. Selbst Alex Blumberg ging es beim Aufbau von Gimlet so. Wir hatten einen guten Anschub, dadurch dass Sascha, Mihaela und Lucas alle schon Podcasts hatten, der Wowcast, den Sascha mit René von “Nerdcore” gemacht hat, recht erfolgreich war und wir jetzt alle auch ein paar Follower auf Twitter besitzen. Sonst wären wir sicher nicht aus dem Stand auf 600 Hörerinnen und Hörer gekommen.

Aber um wirklich durchzustarten, hätte uns mal jemand in einem richtig erfolgreichen Podcast empfehlen müssen. Oder wir hätten irgendwie sonst mal ordentlich Werbung gebraucht, einfach um überhaupt Leute zu erreichen, auch mit einer eindeutigen Botschaft wie “Wir wollen etwas anderes sein, als die vielen Laberpodcasts, die es schon gibt – ein Orientierungskompass zu aktueller Kultur” (siehe auch Punkt 6). Das ist nicht passiert und daher haben wir unser Startniveau leider nicht steigern können.

6. Es besteht anscheinend doch weniger Bedarf, als ich dachte ODER wir waren einfach nicht gut genug

Wie man diesen Punkt bewertet, hängt sehr davon ab, was man von Kulturindustrie am Ende hält. Entweder wir waren tatsächlich der Podcast, den ich vor meinem geistigen Ohr gehört hatte – dann haben vielleicht in der deutschen Podcasthörlandschaft wirklich nicht genug Leute Lust auf einen Kultur-Roundtable. Immerhin werden Podcast ja in Deutschland erst so langsam einem breiteren Publikum bekannt und die bekanntesten und erfolgreichsten basieren entweder auf erfolgreichen Medien- und Personenmarken oder sind eben, ganz wertneutral, “laberiger”. Vielleicht waren wir da einfach irgendwo dazwischen und haben somit kein wirklich breites Publikum gefunden.

Die andere Möglichkeit ist, dass wir nicht anders und nicht gut genug waren. Dass es nichts gab, außer der Tatsache, dass wir drei Themen pro Sendung hatten und geschnitten wurden, was uns besonders ausgezeichnet hat. Kein besonders interessantes Konzept, keine besonders interessanten Meinungen, keine besonders interessanten Gespräche, die uns irgendwie über den Rest der Gesprächspodcast-Landschaft erhoben hätten. “Be the first, be the best or be different” heißt es ja im Startup-Motivationssprech. Eventuell waren wir keins davon.

Und das ist für mich auch der wichtigste Punkt. Beim nächsten Mal oder bei der nächsten Iteration würde ich entweder von Anfang an noch mehr in Richtung Außergewöhnlichkeit pushen, oder eben das ganze gleich entspannter angehen und im laufenden Prozess so anpassen, dass es genuin die Persönlichkeiten der Macherinnen und Macher reflektiert, so dass sich wenigstens alle darin wiederfinden und es dann auch ein bisschen egaler finden, was der Rest der Welt davon hält.